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Als ich nach Deutschland zog, war klar, dass ich viel lernen musste. Schließlich haben Ukrainer und Deutsche ganz unterschiedliche Mentalitäten und kulturelle Traditionen. Die Lektionen fürs Leben, die ich in Deutschland gelernt habe, waren jedoch viel umfassender als erwartet. Ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben! In diesem Text möchte ich jedoch nur einige davon teilen. Und zwar die, mit denen ich nicht gerechnet hatte.
In der Ukraine war meine Einstellung zum Erfolg eindeutig: Erfolgreich ist, wer viel verdient, eine hohe Position hat und berühmt ist. Journalisten müssen Chefredakteure werden; Buchautoren einen Bestseller nach dem anderen schreiben.
Damit das funktioniert, müssen wir früh anfangen. Nur so lässt sich viel Geld verdienen und der richtige Erfolg erzielen. Mit 26 Jahren hatte ich bereits sieben Jahre journalistische Erfahrung hinter mir. Ich war Chefredakteurin, und mit 27 waren bereits zwei meiner Bücher erschienen, die zu Bestsellern in der Kategorie Junge Autoren wurden. Ich war stolz auf mich, aber ich war auch erschöpft, sehr erschöpft.
In Deutschland habe ich andere Erfahrungen gemacht. Ich habe Menschen kennengelernt, die sehr erfolgreich waren, aber ihren "Erfolg" ganz anderes definierten. Erfolg in Deutschland kann auch sein, ein ruhiges, friedliches und stabiles Leben zu führen. Einen festen Arbeitsplatz zu haben, eine Familie, vielleicht sogar ein Haus. Natürlich spielen auch hier Geld und Chefpositionen eine riesige Rolle, aber lange nicht so wie bei uns. Ich begann, das Leben anders wahrzunehmen und meine eigenen Kriterien für ein erfolgreiches Leben zu hinterfragen.
Neulich beispielsweise sah ich in Frankfurt zufällig den Bürgermeister der Stadt. Er ging mit seinen Kindern in einfacher Kleidung und ohne Sicherheitskräfte spazieren. Rein äußerlich war er von einem normalen Bürger nicht zu unterscheiden. In der Ukraine wäre dies undenkbar. Ein Bürgermeister erscheint in der Öffentlichkeit immer mit "Gefolge", sodass alle gleich sehen können: Hier kommt eine wichtige Person.
Anfangs hatte ich keinen Job in Deutschland, sondern besuchte Sprachkurse. Dadurch hatte ich Freizeit, die ich oft in Cafés verbrachte. Dort habe ich gelesen oder Hausaufgaben gemacht. Neben mir saßen häufig Rentner. Sie waren meine ersten deutschen Gesprächspartner. Und sie waren es, die mir die Kunst der "kurzen Konversation", also Smalltalk, beibrachten.
In der Ukraine hatte ich das nie gemacht. Als die Neunzigerjahre gefährlich wurden, wurde uns beigebracht, nicht mit Fremden zu sprechen. Wir wurden vorsichtiger, misstrauischer.
Jetzt in Deutschland lernte ich um. Ich begann, mich, wann immer ich konnte, in Cafés mit älteren Menschen zu unterhalten. Ich lernte zu kommunizieren, auch ohne wirklich gut Deutsch zu können. Denn das wichtigste bei diesen Gesprächen sind aufrichtige und positive Emotionen. Ich mache immer noch viele Fehler in meinem Deutsch, aber Smalltalk hilft in jeder Situation, eine Brücke zum Gesprächspartner zu bauen und eine positive Atmosphäre zu schaffen.
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Dank meiner Smalltalk-Fähigkeit konnte ich beispielsweise zweimal recht schnell eine neue Wohnung in Frankfurt finden.
In unserer Lerngruppe saßen Menschen aus vierzehn verschiedenen Ländern. Viele von ihnen sprachen auch kein Englisch. Unsere einzige Möglichkeit zur Kommunikation bestand also in Gesten, einzelnen Wörtern und aktiven Gesichtsausdrücken. Und es hat tatsächlich funktioniert.
Jedes Mal, wenn wir uns im Park oder in der Bibliothek trafen, diskutierten wir auf diese seltsame Art und Weise über verschiedene Themen, und wir fühlten uns nie unwohl miteinander. Mehr noch: Ich erinnere mich, dass es mir so vorkam, als würde ich meine spanischen Freunde verstehen, wenn sie in ihrer Muttersprache miteinander sprachen …
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Und genau das hat mir später enorm geholfen, als ich in ein deutschsprachiges Umfeld kam. Viele der Wörter habe ich zum ersten Mal gehört, aber ich habe sie intuitiv verstanden. Und das Interessante ist, dass ich dadurch alle Menschen im Allgemeinen besser verstehen gelernt habe, sogar andere Ukrainer.
Heute achte ich mehr auf Mimik, Gestik und Körpersprache meines Gegenübers. In Konferenzen mit Kolleg*innen auf Deutsch verstehe ich so viel schneller, was wirklich gemeint ist. Und ich bin der festen Überzeugung, dass ich am Ende mit dieser Art und Weise der Kommunikation sogar eine tiefere Beziehungsebene eingehen und dadurch besser "verstehen" kann, was mir der oder die andere sagen will.