Stolperstein Kurt Brüssow
Der Stolperstein vor dem Greifswalder Theater erinnert an das Schicksal von Kurt Brüssow
Benjamin Glanz
Jugendliche
Trotz allem funkelt ein bisschen Hoffnung
Es ist gerade nicht leicht, Zuversicht zu haben. Umso schöner, wenn sie auf einmal da ist - inmitten einer achten Schulklasse in einer Greifswalder Plattenbausiedlung
Anke LübbertPR
24.12.2025
4Min

Fast täglich scrolle ich durch die Nachrichtenseiten, immer auch auf der Suche nach Hoffnung; diesem "kleinen Ding mit Federn", wie es einst die US-Amerikanerin Emily Dickinson so wunderbar poetisch umschrieb. Doch lange halte ich das nie aus. Zu viele schlechte Nachrichten. Es ist, als würden dunkle Wolken immer näher kommen am Rande einer sich verdunkelnden Welt.

Gefunden habe ich sie aber doch, die Hoffnung. Fern von Nachrichtenseiten, ein bisschen zerzaust, manchmal unscheinbar. Und zwar bei unseren Projekttagen in Vorpommern, in einer Greifswalder Plattenbausiedlung, im Neonlicht eines Klassenraums einer Regionalen Schule.

Lesetipp: Interview mit dem Philosoph Philipp Blom über Hoffnung

Vor einem Jahr habe ich herausgefunden, dass mein Großvater im Krieg Homosexuelle denunziert hat. Seitdem organisiere ich zusammen mit zwei Schauspielerinnen Projekttage an Schulen. Sie drehen sich um einen Schauspieler aus Greifswald, Kurt Brüssow, für den ein bisher wenig beachteter Stolperstein vor dem Theater der Stadt liegt. Er wurde wegen seiner Homosexualität verfolgt, überlebte Auschwitz. Er wurde sein Leben lang nicht rehabilitiert und entschädigt. Sein Leben schillert in allen Farben.

Nun also die Greifswalder Schule. Die Lehrerin hatte mich extra nochmal angerufen, um zu fragen, ob wir wüssten, worauf wir uns einlassen: Ihre Schülerinnen und Schüler, 14 bis 18 Jahre alt, seien kaum in der Lage, längere Zeit zuzuhören, im normalen Schulbetrieb seien sie nicht klargekommen, ihre letzte Chance auf den Hauptschulabschluss sei eine Sonderklasse mit verminderten Ansprüchen.

Bevor ich den Jugendlichen von meinem Großvater und dann von Kurt Brüssow erzähle, bitte ich sie um ihre eigenen Erinnerungen. Gibt es Gegenstände, Geräusche, Gerüche, mit denen sie etwas verbinden? "Ich bin quasi an einer Tankstelle aufgewachsen", sagt ein Junge mit lauter Stimme, "ich liebe Benzingeruch." Auch die anderen Jungs wollen vor allem cool wirken und erinnern sich an ihre Großväter anhand der Simson-Mopeds, an denen sie schrauben, an Prügeleien und spektakuläre Unfälle anhand von Narben an ihrem Körper. Die Mädchen erzählen von Fotos, von Armbändern und Ketten als Erinnerungen an Freundschaften.

Ich hocke mich vor ihnen auf den Boden und male einen Zeitstrahl: Zusammen verorten wir die Nazi-Zeit, den Mauerbau und -fall, den ersten Motorflug und das Ende der Weimarer Republik. Das erste Internet und 9/11. Ihre Geburten, die ihrer Eltern, Großeltern. Als ich erzähle, wie sehr ich mich dafür schäme, dass mein Großvater Menschen verraten, vielleicht dem Tod ausgeliefert hat, ist es still im Raum.

Eine Stunde später geraten die Jugendlichen, anfangs ohne es zu merken, vor dem Stolperstein in eine Inszenierung, die rund um die Stunden der Verhaftung von Kurt Brüssow spielt. Sie lachen nicht und stören nicht. Sie spielen mit. Sie treffen einen Trans*Mann, dem sie alle Fragen stellen können, die ihnen einfallen. Sie hören zu. Sie stellen respektvolle Fragen.

Am Ende des Tages sitzen wir wieder im Klassenraum. Sie wollen wissen, wie viele Menschen aus Greifswald in Konzentrationslagern ermordet wurden. Wie man Schauspielerin wird. Sie fragen: "Könnt ihr noch mal wiederkommen?" Sie geben uns Tipps, welche Schulen wir unbedingt noch besuchen sollen.

Die Projekttage funktionieren nicht in allen Klassen so überwältigend gut wie in dieser. Aber in jeder Abschlussrunde funkelt ein bisschen Hoffnung. Wenn die Achtklässler von eigenen Erfahrungen mit Ausgrenzung erzählen. Von Situationen, in denen sie alleingelassen wurden oder andere allein gelassen haben, obwohl sie gerne für Gerechtigkeit gesorgt hätten.

Liest man aktuelle Studien zu politischen Einstellungen und sinkendem Rückhalt für Demokratie, wird die Hoffnung ganz klein und verliert ihre Federn. Unter Jugendlichen, ganz besonders in Ostdeutschland, steigt die Zustimmung zu rechtsextremen Ideologien und autoritären Staatsformen.

Wir haben in diesem Jahr mit etwa 240 Achtklässlern in Vorpommern gearbeitet. Ja, viele kriegen rechtsextremen Content in ihre Feeds gespült. Manche tragen rechte Szenekleidung. Ein Junge meinte großspurig, das Grünen-Parteibüro gehöre abgebrannt und die Ukrainefahne am Rathaus durch die deutsche ersetzt. Aber fast alle, die wir kennengelernt haben, ließen sich irgendwie berühren. So gut wie alle würden gerne in einer gerechteren Welt leben. Und so gut wie alle finden, dass sich das, was damals passiert ist, nicht wiederholen dürfe. Dass jeder so leben können sollte, wie er oder sie sich das wünscht. Auch als Trans*Mann, zum Beispiel.

In der Klasse mit den Jugendlichen, bei denen fraglich ist, ob sie den Hauptschulabschluss schaffen, entsteht in der Abschlussrunde ein leises und respektvolles Gespräch. Ein Mädchen berichtet von ihrer Mobbinggeschichte. Einer der Lehrer denkt laut über Geschlechterrollen nach. Der Junge, der Benzingeruch so mag, fragt, ob er ein Praktikum beim Theater machen kann.

Die Hoffnung sitzt mit im Stuhlkreis, den die Jugendlichen früh am Morgen gar nicht bilden wollten, weil sie das albern fanden. Für einen Moment hat sie nicht nur zarte Federn, sondern richtig weite Schwingen.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.

Kolumne

Christian Kurzke

Christian Kurzke stammt aus Ostdeutschland und arbeitet heute bei der Evangelischen Akademie in Dresden. Anke Lübbert wurde in Hamburg geboren, , lebt jedoch seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Greifswald. Beide schreiben sie im Wechsel über Politik und Gesellschaft aus ihrer Sicht.