Da saß der Feuerwehrmann vor ihr, eine Cola-Dose in seiner Hand, die er vor lauter Anspannung zusammenquetschte. Mit jeder Minute, die Sabine Röhm ihm zuhörte, die sie hier und da nachfragte, dann wieder eine Stille aufkommen ließ, entspannte sich der Mann. Der Griff um die Dose wurde lockerer. Am Ende stellte er sie ab, brauchte sie nicht mehr, um sich an ihr festzuhalten.
Sabine Röhm macht in Berlin einen ziemlich einzigartigen Job. Sie erinnert sich noch genau, wie sie vor sechs Jahren die Stellenausschreibung sah: Seelsorge für die Berliner Feuerwehr gesucht. "Das wollte ich unbedingt machen", sagt die Pfarrerin. Es gibt 5500 Feuerwehrmänner und -frauen in Berlin, die auf 35 Dienststellen Tag und Nacht über die Stadt wachen – aber es gibt nur eine Sabine Röhm.
Die 57-Jährige ist in Westberlin groß geworden. Ihre Eltern waren im Gemeinderat ihrer Kirche. Sie selber hat im Kindergottesdienst geholfen. Erst hat sie als Fremdsprachensekretärin gearbeitet, doch da war ein Hunger in ihr nach mehr: mehr Input, mehr Verantwortung, mehr Dienen. Sie studierte Theologie, war dann zehn Jahre Gemeindepfarrerin, bevor sie zur Feuerwehr wechselte.
"Am Morgen ereignete sich auf dem Tempelhofer Damm ein Verkehrsunfall mit zwei Pkw. Bei dem Unfall wurde eine Person lebensgefährlich und eine Person schwer verletzt. Beide wurden vor Ort notärztlich behandelt und anschließend in Krankenhäuser transportiert. Eine weitere Person verstarb leider noch an der Einsatzstelle."
"Am Freitagmittag wurde die Berliner Feuerwehr zu einem Brand nach Hellersdorf alarmiert. Die ersten Einsatzkräfte vor Ort bestätigten die gemeldete Lage und leiteten umgehend die Personensuche und Brandbekämpfung ein. Es brannte eine Wohnung im Erdgeschoss eines 5-geschossigen Wohngebäudes in ganzer Ausdehnung. Eine Person aus der Brandwohnung konnte nur noch tot geborgen werden."
Nüchtern berichten die Pressemitteilungen über die vielen Einsätze, allein im Januar waren es 49.010 und damit 1580 Einsätze pro Tag. Manchmal ist es nur eine beschädigte Erdgasleitung, dann ein Verkehrsunfall mit Verletzten, eine Schießerei mit Toten oder Wohnungsbrände, viele Wohnungsbrände, mal verlaufen sie glimpflich, mal nicht. Und irgendwo zwischen all diesen Einsätzen kann es plötzlich passieren: "Die Feuerwehrleute haben sich einen Schutzschild zugelegt, damit sie in all dem Elend, das sie täglich sehen, ihren Job professionell machen können. Manchmal aber bekommt dieser Schutzschild einen Riss", sagt Röhm.
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Wenn Opfer trotz aller Mühen nicht gerettet werden konnten. Wenn die Feuerwehrleute wie in der Silvesternacht vor zwei Jahren selbst angegriffen werden. Oder wenn Kinder betroffen sind. "Das geht dann direkt ins Herz", sagt Röhm. Sie selber sieht die Toten äußerst selten, muss sie auch gar nicht, die Erzählungen der Feuerwehrleute reichen ihr völlig aus. "Aber es gibt Fälle, Kinder, die werde auch ich nie vergessen", sagt Röhm.
Die Folgen sind unterschiedlich: Der eine muss immer wieder daran denken. Der andere hat Flashbacks. Oder Alpträume. Wieder andere können nicht schlafen, sind hibbelig oder haben Konzentrationsschwächen. "Früher haben die Vorgesetzten dann gesagt, habt euch nicht so, kauft euch einen Kasten Bier, dann wird das wieder", sagt Röhm.
Diese Zeiten sind längst vorbei. Heute gibt es Sabine Röhm als Seelsorgerin und das 30-köpfige Einsatznachsorgeteam, das sie außerdem noch anleitet. Ruhe und Zuversicht strahlt sie aus – und jetzt auch etwas Feierliches, als sie die hölzerne Schale zurechtrückt, darauf ein Kristallstein, eine hölzerne Mutter-Kind-Statue, Teebeutel und Taschentücher und eine Kerze, die sie entzündet. Sofort entsteht eine behagliche Atmosphäre, selbst hier, in diesem kargen Verwaltungsbüro der Feuerwehrwache Neukölln, in dem sie ab und an ist.
Bei der Seelsorge geht es nicht um den Glauben
"Die meiste Zeit bin ich aber unterwegs", sagt sie. Das Seelsorgegespräch kann überall stattfinden: in dem Verwaltungsbüro, in den Wachen, bei den Feuerwehrleuten zu Hause oder bei einem Spaziergang. Das, was besprochen wird, bleibt geheim. Niemand wird davon erfahren, kein Kollege, kein Vorgesetzter.
"Vor dem Treffen spreche ich ein Gebet und bitte um Beistand", sagt Röhm. Während des Gesprächs spielen Gott und ihr Glaube nur dann eine Rolle, wenn es von der Person gewünscht wird. "Ob jemand glaubt oder nicht, spielt bei mir keine Rolle. Ich bin da, um den Menschen zu helfen – und nicht, um sie zu missionieren."
Dann reden sie. Über das, was passiert ist. Und das, was gerade da ist, an Gefühlen, an Trauer, an Schmerz. Wenn es passt, machen sie zusammen eine Atemübung oder sie schweigen einfach. "Über die Trauer reden und weinen, das ist gut. Die Seele entkrampft sich. Der Wahnsinnsdruck, unter dem sie stehen, kann weichen, wenigstens für den Augenblick", sagt Röhm. Manchmal, wenn es passt, bietet sie an, einen Segen zu sprechen – im Beisein oder auch danach, wenn das Gespräch nach einer, zwei oder drei Stunden dann vorbei ist. Manchmal trifft sie sich wieder und wieder, ihr längster Fall ging über zwei Jahre.
Als Sabine Röhm mit ihrer Arbeit begann, klapperte sie als Erstes die Wachen ab, kam zur Frühschicht, drückte allen die Hand, sah allen in die Augen, setzte sich mit an den Frühstückstisch und stellte sich vor. "Klar war da bei manchen eine Skepsis", sagt sie. Doch das Vertrauen war schnell hergestellt, was auch an ihrer Art liegt: zugänglich, offen, ein Lachen auf den Lippen.
Die Seelsorgerin schließt auch Ehen
Sabine Röhm wird auch gerufen, wenn ein Feuerwehrmann gestorben ist. Dann hält sie die Trauerfeier auf der Wache. Ein eindrückliches Erlebnis, wenn alle zusammenkommen, sich gemeinsam erinnern, Kerzen anzünden, sich in das Kondolenzbuch eintragen. "Die Kameradschaft bei der Feuerwehr ist groß. Man kennt sich, verbringt 12 Stunden pro Schicht zusammen, muss sich aufeinander verlassen können", sagt Röhm. Wenn da einer stirbt, hinterlässt das eine große Lücke.
Manchmal darf sie aber auch Feuerwehrleute verheiraten oder ihre Silberhochzeit begleiten. Oder aber sie fährt mit auf Einsatz: Dann schnallt sie sich einen Pieper an ihren Gürtel, wenn der Notruf kommt, rennt sie zum Einsatzwagen, steigt mit ein, düst mit Blaulicht durch die Stadt. "Das ist wichtig. Damit ich weiß, wie es ist", sagt sie.
Zweimal hat Sabine Röhm selber schon die Feuerwehr in ihrem Leben gebraucht. "Nun kann ich für die da sein, die immer so viel für andere machen."