Das Leben ist der Ernstfall – für einen selbst, aber auch für die andern. Vor mir liegt meine 93-jährige Mutter entspannt im Sessel. Endlich. Die letzten zwei Stunden hat sie mit Worten randaliert, laut gebrüllt, Geld gesucht, den Kopf geschüttelt, darüber, was aus ihrer Familie geworden sei. Seit über fünf Wochen ist sie bei mir. Wie geht man mit einem dementen Menschen um? Sie greift um sich. Raumfüllend. Nicht nur, dass sie schlecht sieht und hört, beides versucht sie durch Lautstärke wettzumachen. Zuhören, auch beim Telefonieren – nicht ihr Thema.
Sie will ins Bett. Tabletten und Augentropfen verabreichen, Wasser ans Bett stellen, Wärmflasche in den Schlafanzug wickeln. Sie ist jetzt still. Verausgabt. Ich reiche ihr noch ihre Baldrianpille und Wasser. Tschuldige, sagt sie laut. Tschuldige, etwas leiser. Dann schlurft sie ins Bett. Gute Nacht. Rutsch gut ins neue Jahr. Ich glaubte, das hätte sie vergessen. Ich solle mich nicht vergessen, mahnen meine Freunde. Was soll das heißen? Hier gibt es nur noch ganz oder gar nicht. Ich habe mich für ganz entschieden und hätte mich auch gleich für das Scheitern entscheiden können. Der Kampf ist nicht zu gewinnen. Mit Liebe nicht. Mit Achtsamkeit nicht. Mit Sturheit nicht. Nicht mit Weichheit. Nicht mit Härte.
Seit fünf Wochen übe ich. Manchmal denke ich, ich hätte die Formel gefunden, um im nächsten Moment zu scheitern. Das zu grobe Brot, die zu harte Butter, der zu kalte Kühlschrank, die zu dünne Marmelade, der zu kalte Teller, der zu grob geschnittene Salat . . . Beim Waschen meine zu kalten Hände, das zu kalte oder zu heiße Wasser, die saublöde Badewanne oder die zu kleine Dusche, das zu viel oder jenes zu wenig, die Sonne zu grell, der Wind zu heftig, der Gehweg zu uneben. Nichts ist, wie es soll. Draußen böllert es verhalten. Wie sehr ich Krach hasse. Heute besonders.
Sie ist meine Mutter und sie ist es nicht mehr. So wahr ich hier sitze, sagt sie gern. Draußen im Flur ruft es laut nach mir. Räum das Geld weg. Ja, das Geld hat uns heute sehr beschäftigt. Sie hat Bargeld mitgebracht, das ich zählen und sicher aufbewahren soll, und es ist mehr, als sie dachte. Warum ich ihr Konto geräumt hätte? Hä? Überhaupt wolle sie auf der Stelle wissen, wie viel Geld sie habe. Ich habe keine Ahnung. Ein Wort gibt das andere. Nein, was für eine Tochter, überhaupt, was für eine Familie, wo überhaupt sind die andern? Wann kommen die? – Die kommen nicht. – Wie, die kommen nicht mal, wenn ich sterbe? – Nein, du stirbst nicht. – Woher willst du das wissen? – Solange einen Geld so sehr beschäftigt, stirbt man nicht . . . Die Dialoge werden von beiden Seiten absurd.
Meine Mutter bemächtigt sich meiner. Sie schläft in meinem Bett, sie breitet sich aus. Überall. Sie fordert, und zwar mit höchster Bescheidenheit, die sie lautstark vertritt. Ich brauche ja nicht viel. Was tust du schon für mich? Du stellst mir das Essen hin. Hilfst mir beim Duschen. Wäschst meine Wäsche. Aber sonst? Kalt ist die Welt geworden. Ich gebe mein Bestes und scheitere täglich, kläglich. Neben mir ein Bollwerk von schlechter Laune, Unzufriedenheit und Wut. Kein Mensch kann aus seiner Haut, sagt sie. Sie lacht nicht, sie freut nichts. Die letzten Male, in denen ich sie zu Hause besucht habe, hat sie am Telefon gesagt: "Ich freu mich, dass du kommst." War ich da, war unmittelbar nach der herzlichen Umarmung von der Freude wenig zu spüren.
Mutter ist auch nicht dankbar für ihr langes, ziemlich krankheitsfreies Leben, wenngleich es, wie sie sagt, ein gutes war, und es nach dem Krieg immer aufwärtsging. Der Vater verdiente genug, gab das Geld bei ihr ab, sie verwaltete es auf Heller und Pfennig, hielt Buch, finanzierte Haus, Auto, Urlaub, Kinder. Geld als die sichere Bank fürs Glück. Retro gesehen. Heute sitzt sie drauf. Zeig mir mein Geld. Jetzt.
"Sie kann nicht mehr allein leben, man kann sie auch nur noch kurze Zeit allein lassen"
Nach dem Tod des Vaters vor zweieinhalb Jahren gab es ein halbes Jahr der Befreiung. Sie wurde gewahr, dass sie jetzt ein freies Leben haben durfte, ohne Bevormundung und selbst Herrin der Fernbedienung. Nach 62 Jahren Ehe war dies ein großer Schritt. Sie meisterte ihr Alleinsein, bis sie merkte, dass sie 91 war und dies kein Alter mehr für große Sprünge ist. Bei allem, was im Haushalt kaputtging oder nicht funktionierte, fehlte der Vater. Ständig ging etwas kaputt, ständig fehlte der Reparierer.
Dann folgte ein Schlaganfall mit drei Wochen Krankenhaus, Kurzzeitpflege, Reha, dann drei Polinnen zu Hause. Zwei Jahre nach dem Schlägle, wie man schwäbisch verniedlichend sagt, ist alles anders. Sie kann nicht mehr allein leben, man kann sie auch nur noch kurze Zeit allein lassen. Sie räumt und verräumt, sie versteckt und sucht, sie kann nicht mehr kochen, aber sie hat mit ihren 48 Kilo einen guten Appetit und braucht ihre drei Mahlzeiten am Tag. Die wichtigste um zwölf Uhr mittags, auch wenn sie erst um elf gefrühstückt hat. Wegen der Ordnung. Diese Ordnung kam bei mir empfindlich durcheinander, was mir gelegentlich den lauten Vorwurf, ich würde sie verhungern lassen, einbrachte.
Sie kann lieb sein wie ein Lämmlein, dann ist höchste Vorsicht geboten. Sie verändert ihr Gesicht und so böse, wie sie dann aussieht, ist sie dann auch. Mit geschliffenen Worten reiht sie Vorwurf an Vorwurf, brüllt, man möge sie doch endlich verrecken lassen, schreit nach dem Roten Kreuz oder dem Krankenhaus zum Sterben, um zwischendurch nach einem Scheibchen Brot oder einer Suppe zu rufen, es sei schließlich schon zwei Uhr. Einmal fand ich sie richtig komisch, als sie nach einem Teller scharfer Pasta, die ihr sichtlich geschmeckt hatte, sagte, Fräulein, Sie können jetzt noch die Küche aufräumen und dann haben Sie frei. Ich weiß bis heute nicht, ob doch ein Funke Humor in ihr wohnte oder ob es die Erinnerung an eine nie da gewesene Zeit war.
In lichten Minuten ist sie sich der zwei Wesen bewusst, entschuldigt sich für die "Böse", die sie nicht sei. Diese Minuten hat sie täglich. Was die Demenz betrifft, so bewegt sie sich auf Messers Schneide. Das Nicht-Ich, so nennt sie das, was ich insgeheim Hexe nenne, ist wortgewaltig, kampfbereit und viel kraftvoller als ihr Ich, das stolz ist, wenn es ein Kreuzworträtsel schafft. Das Ich kann man noch zum Zuhören gewinnen, das Nicht-Ich nicht. Sobald spürbar Frieden einkehrt oder sie merkt, wie ich mich auf oder über etwas freue, wird das zerstört. Als könnte sie Harmonie nicht aushalten.
Ich erinnere ihren Anruf zu meinem Geburtstag vor zwei Monaten morgens um sieben: Diesen Tag wirst du nie im Leben vergessen, weil ich heute sterbe. Ich wünsche dir viel Spaß – nüchtern aus dem Schlaf geklingelt, frühmorgens aus dem Mund der Mutter: der Hammer. Weihnachten war nicht anders und heute, Silvester, erst gar nicht. Ich hoffe tatsächlich, dass sie trotz der Böllerei – es ist jetzt 19.30 Uhr – schlafen kann. Mehr Mutter halte ich heute nicht aus, wenngleich sie mich in der Frühe gefragt hat, ob ich denn ein kleines Fläschchen Sekt im Haus hätte. Ja, Mutter, steht kalt. – Wir werden es nicht brauchen, es sei denn, es geschieht noch ein Wunder.
Das Sterben befasst sie täglich. Sie meint, sie müsse sich nur nach dem Essen aufs Sofa legen und einschlafen. Ihre ersten Worte beim Aufwachen: Oje . . . Oder: Lebe ich denn immer noch? Ich will ihr ein gutes Leben davor bereiten. Decke den Tisch mit Tellern von zu Hause, koche alte Gerichte (zugegeben: auch neue), stelle Blumen auf – Kommentar: Völlig unnötig! –, zeige ihr Bilder von früher, gehe mit ihr spazieren, frage und erzähle. Manchmal sagt sie, wenn sie merkt, dass die Wärmflasche schon im Bett liegt, ich sei ein Engel. Dann umarmt sie mich und bedankt und entschuldigt sich "für alles Böse". Nachts sehe ich bei jedem zweifelhaften Geräusch nach ihr.
"Den Dementen glaubt man ja nicht, sagt sie. Aber wie damit umgehen?"
Manchmal scheint mir ihr Leben so fragil, so zart und dann doch wieder zäh im Kampf. Auch wenn sie ganz absurde Dinge behauptet. Den Dementen glaubt man ja nicht, sagt sie. Aber wie damit umgehen? Wo ist die Stelle für Empathie, für Zuwendung, für Hinwendung, wenn sie ständig schimpft? Dein Bruder hat es richtig gemacht, der hat gleich gesagt, er könne mich nicht nehmen, aber du, du wolltest mich ja. Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? – Mama, du wolltest es. – Ich wollte es?
Seit fünf Wochen ist mir mein eigenes Leben fremd. Ich bin Gast in meiner eigenen Wohnung und versuche mich dort so unauffällig wie möglich zu bewegen. Manchmal will sie in meinen Räumen ihre Ordnung herstellen und die Kampfzone ausweiten, Raum gewinnen. Dann suchen wir das Telefon, den Zahnputzbecher oder die Seife, die Brille oder die "Ohren". Mein Kopfhörer für den Fernseher ist besser. – Mama, es ist deiner. – Das glaube ich nicht. Meiner ist kleiner. Kein Widerstand. Manchmal denke ich, die Situation sei händelbar. Ich setze mich mit ihr zu "Dalli Dalli" und stelle mir vor, wie ich einen Seniorenfernsehkanal entwickle. Kochen, Spielen, Quizzen und schlichte Nachrichten, Filme mit Heinz Erhardt oder Peter Alexander.
Als wir unsere gemeinsame Zeit hier angefangen haben, war klar, dass sie nie wieder allein in ihr Haus kann. Seit Anfang Dezember haben wir einen Heimplatz sicher. Seitdem befasst sie sich mit der neuen Situation, manchmal sagt sie sogar, sie sei froh, wenn sie ihre Endstation endlich erreicht hätte. Ob ich wohl den Fernsehsessel mit ins Heim nehmen kann? Klar, kannst du. Ob da jemand mit mir läuft? Sicher. Ob die da viel Gemüse kochen? Bestimmt. Ob ich dort meine Zeitung kriege? – Die bestelle ich dir dorthin. Ob mich mein Hausarzt im Heim besucht? – Klar doch.
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Täglich bleibt alles anders. Kein Tag darf vor dem Abend gelobt werden, denn selbst mitten in der Nacht kann noch alles anders werden. Was ich bewundere: wie lebendig sie ist. Vom ersten Augenaufschlag an hellwach. Man will die frühen Sätze am Morgen nicht alle gern hören, ohne Hörgeräte sind sie darüber hinaus auch laut, aber seit ich mir gewünscht habe, dass wir den Tag gemeinsam erst einmal mit einem Guten Morgen begrüßen, geht es. Gestorben wird dann gleich im Anschluss. Sie liegt über zwölf Stunden im Bett. Heute schon seit halb sieben. Sie meint, sie dürfe erst aufstehen, wenn ich mich zeige. Manchmal trickse ich sie aus und lese eine halbe Stunde in Ruhe Zeitung und genieße meinen Tee.
Meine Arbeitstage mag sie nicht. Du bist doch selbstständig, du müsstest es dir doch einteilen können. Jau! Ich kann nicht aus dem Haus, ohne zu sagen, wann ich wiederkomme. Dabei kommt es wirklich auf die Minute an, sonst setzt die Fahndung ein und sie sprengt jede Sitzung. Zu Hause wartet dann eine Tirade Vorwürfe. Wars schön? Das fragt sie schnippisch übrigens auch jedes Mal nach dem Sport, zu dem ich mich immer noch dreimal pro Woche stehle und quäle – eine Wohltat. Ich bin dann eine Stunde außer Haus und im Vorwurf ist es dann der ganze Nachmittag.
Für ihr Alter ist sie eine erstaunliche Schauspielerin. Ihr Lieblingswort ist dabei "au". Au ist ein anderes Wort für: Hilf mir oder fass mich an, salbe mich, bade mich, wärme mich. Ich salbe, bade, wärme, umarme, und sie will mehr und dass ich nichts anderes tue. Sie will unterhalten sein, bespaßt, bespielt. Im Laufe der Wochen ist mir die Kraft geschwunden. Zu viele Krisen, zu viele wache Nächte, zu viel Wirrnis. Verausgabt, leer fühle ich mich und auch am Ende meines Lateins. Ich weiß, dass ich sie nicht ernst nehmen kann und darf und dennoch verletzt sie mich mit ihrer Schärfe.
"Tatsache ist, dass die Demenz schlimmer wird"
Manchmal fragt sie, ob es schlimmer geworden sei, seit sie hier ist. Überhaupt fragt sie jede und jeden nach deren Eindruck. Was denken Sie von mir? Wenn sie nachts umherschleicht, mich weckt und beschimpft, manchmal sucht sie den Vater und will wissen und sehen, ob er nicht in meinem Bett liegt, manchmal fragt sie, wen ich zu ihr ins Bett gelegt hätte. Sie weiß am Morgen danach, wenn sie mich nachts geweckt hat, entschuldigt sich und hofft, dass es nicht schlimmer wird. Ich hoffe das auch, sage es aber nicht. Seit ich ihre Psychopharmaka abgesetzt habe, gab es keine nächtlichen Ausflüge mehr.
Aber Tatsache ist, dass die Demenz schlimmer wird. Wenn ich mir vorstelle, wie viele Menschen und Angehörige von Demenz betroffen sind, könnte ich irrewerden. Aber zwischen dem, was ich in den Zeitungen lese, und dem Gefühl der Machtlosigkeit, wenn man pflegen und helfen will, liegt eine Welt. Manchmal haben wir ansatzweise Normalität und dann wieder die Schrille des schrägen Alltags und den Satz: Die Zeitung könnt ihr abbestellen, es ist ja egal, was passiert . . . bestell doch nicht ab, die Todesanzeigen würden mir fehlen. Die meisten, die sterben, sind jünger als sie! Sie rechnet die Differenz aus und ist ein bisschen stolz auf sich.
Dann geht sie im Geiste durch ihr Haus, das ihr in den letzten 64 Jahren sichere Behausung war. Die Kühltruhe, die Möbel, das Geschirr, das Gartenwerkzeug, die Dahlien im Winterschutz, überhaupt der Garten, der schöne Garten, die Einweckgläser, die Briefmarken, der Keller, der Dachboden, die vollen Schränke, die Bettwäsche . . . ich mag nicht dran denken. Einmal will sie, dass alles schnell verkauft wird, dann wieder sollen Flüchtlinge ins Haus. Vermieten? Solange ich lebe, wird nichts verkauft! Mitten in eine solche Diskussion bricht die telefonische Nachricht, dass zwei ihrer Nachbarn vor Heiligabend ins Krankenhaus kamen. Der eine mit einem Infarkt, der andere mit einer Hirnblutung. Mutter treibt um, wer jetzt Schnee schippt, wo die beiden doch nicht mehr zur Verfügung stehen.
Nach schlafloser Nacht Halsschmerzen, Husten und Kopfweh. Die Apotheke muss mich und Mutter retten, und sie tut es. Ich habe eine Aufgabe, die will ich ordentlich zu Ende bringen. Sie will nicht mehr leben, aber ich darf sie mit nichts anstecken. Ich wachse mit der Aufgabe. Meine Lösung heißt "kein Widerstand". Aus dem Freundeskreis erreichen mich Zweifel und Kopfschütteln, gelegentlich der gute Rat, Distanz walten zu lassen. Ich behaupte immer noch, dass ich es für normal halte, dabei ist schon lange nichts mehr normal. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass ich sie in diesem Leben noch einmal glücklich machen kann. Nach Stand von heute Nachmittag schafft dieses Glück höchstens die Jahreserträgnisaufstellung der Kreissparkasse. Bevor sie die nicht hat, könne sie auch nicht sterben.
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Manchmal, zur Ablenkung, rufen wir Leute an. Die Nachbarn, die Verwandtschaft. Danach sagt sie oft, die sind auch nicht glücklich, aber Geldsorgen dürften sie keine haben. Mitten in der Diskussion der Nachbarschaft kommt eine Sprachnachricht vom Enkel aus Neuseeland. Er fragt nicht nach ihr (und nicht nach mir), sendet aber Weihnachtsgrüße. Was soll man uns auch wünschen vom anderen Ende der Welt, aus dem Sommer bei den Hobbits? Hier weinen die Himmel und nicht nur die.
Im Fernsehen kommt Papst Franziskus: Wer das Kreuz mit Liebe trage, sei in das Geheimnis von Weihnachten eingedrungen. Ich bin auch widerstandslos bei den großen Reden zu den letzten Dingen. Wenn ich etwas vergessen habe, so war das keine Absicht, sagt Mutter dazwischen. Wenn ich Böses geredet habe, so verzeih mir. – Ich verzeih dir alles. Wieder ein guter Tag. Ich danke dem Himmel für jede Stunde Frieden.
Was vom Leben bleibt? – Geschichten, die schon jeder kennt, Geschichten, die neu sind, wie man das Leben gern gehabt hätte, die ferne Vergangenheit, die gut war, die Angst vor der Zukunft. Sie meint immer noch, Sterben wäre wie Lichtausmachen. Jeden Abend, wenn ich sie ins Bett bringe, haucht sie: Verzeih mir! Ich verzeihe. Ich habe eine große Sehnsucht nach Frieden.
Und was ist aus unserer Familie geworden? – Wie hättest du es denn gern? – Dass jetzt alle da wären, wenn ich sterbe. – Aber du stirbst doch nicht. – Aber trotzdem. Es ist so kalt geworden auf der Welt. Mit fester Stimme in Endlosschleife schreit mich meine Mutter an meine Grenze. Sie hört nicht auf und nicht zu und jetzt hoffe ich, da die Böllerei heftiger wird, dass sie immer noch schläft. Vielleicht wecke ich sie um Mitternacht auf ein Gläschen Sekt.
"Wir standen, bis der letzte Funke in den Himmel geschossen wurde. Still und innig, dicht an dicht"
Das habe ich tatsächlich getan. Kurz vor Mitternacht schlich ich an ihr Bett, fasste ihr an ihre weiche Backe – wie sie es gern mag und wie es mein Vater mit mir als Kind tat –, und sie wünschte mir ein gutes Neues. Ich sage ihr, wir wären noch nicht so weit, aber wenn sie wollte, könnte sie jetzt gleich mit mir ein Gläschen Sekt trinken und ein schönes Feuerwerk sehen. Und schon stand sie. Nahm ihren Morgenrock vom Haken, packte sich ein, schlurfte hinter mir zum Feuerwerksfenster. Was für ein Friede. Kein ungutes Wort. Dankbarkeit. Entspannung. Liebe. Ich entkorkte eine Flasche Sekt – ja, ich weiß, der ist zu kalt – ja, aber Sekt trinkt man ja kalt – ich umarmte sie von hinten, sie stand wackelig auf meinem Yogakissen, guckte auf die Stadt und genoss die körperliche Nähe und Wärme. Ich auch.
Wir tranken, prosteten, guckten, heulten. Wünschten uns ein gutes neues Jahr. Sie wünschte sich, dass es für sie bald gut zu Ende gehen werde. Prost, Mama, dein Wille geschehe. Wir standen, bis der letzte Funke in den Himmel geschossen wurde. Still und innig, dicht an dicht. Wenn ich böse bin, dann bin das nicht ich, das ist das Nicht-Ich, verstehst du? Das wird wohl mein letztes Feuerwerk sein?! Dann soll es wenigstens ein schönes sein. Die Stadt und die Nachbarn gaben sich alle Mühe. Mit einer Baldrianpille sank sie selig in die Kissen und wurde erst um neun in der Frühe wach.
Seitdem ist die Welt ziemlich aufgeräumt. Sie ist friedlich. Klar. Manchmal siezt sie mich und erzählt mir Geschichten von ihrem Mann. Dann fasst sie sich an den Kopf und sagt, Mensch, ich spinne ja schon wieder. Aber jetzt bin ich wieder da. Das Heim, das Haus, die Kühltruhe, der Schnee, die kranken Nachbarn . . . alles kommt, wie es kommen muss. Kein Widerstand, wir nehmen es an und es ist gut so. Sage ich ihr und mir. Wir gehen spazieren, wir essen, wir gucken Nachrichten und manchmal Kochshows im Fernsehen. Die Tage verfliegen. Heute ist ihr letzter Sonntag hier.
Wir waren auf dem Friedhof, und sie guckte sich an, wo ich mal beerdigt werde. Ein guter Ort. Es wird wohl niemand mehr zu deinem Grab kommen?!, fragt sie, aber du wolltest ja keine Kinder. Ich bin sicher, dass jemand zu meinem Grab kommt, sage ich. Wir drehen eine große Runde über den Friedhof, den sie schön findet. Dann will sie mich zum Essen einladen. Die ersten drei Restaurants sind zu, es wird ein Chinese. Ich hole ihr vom Buffet das, von dem ich denke, dass sie Spaß daran hat. Sie genießt es, fühlt sich wie die Prinzessin auf der Erbse und betrachtet fasziniert das Aquarium. Sind die lebendig? – Ja. – Aber die sind nicht zum Essen, oder? – Nein, die sind ein Zeichen des Wohlstands und des Glücks. – Ach, Glück! Ich hätte mir gewünscht, dass ich hier bei dir sterben kann. Abends ins Bett und morgens einfach nicht aufwachen. Aber wir nehmen es, wie es kommt, denn wir haben unser Leben nicht in der Hand.
Nach dem Nachtisch zahle ich auf ihren Wunsch mit ihrem Portemonnaie und wir gehen nach Hause. Sie: Und jetzt noch ein Glas Schnaps vom Vater. Welchen möchtest du? – Den Erstbesten. Es wird eine Zwetschge von 1986, zimmerwarm. Dann auf das Sofa zu Arte und Jonas Kaufmann, der Lieder aus den 30er Jahren singt. Mutter macht es sich gemütlich, rückt sich den Sennheiser zurecht, lacht, freut sich und singt auf einmal lauthals mit. Wer ist das? Ist das Richard Tauber? Ach nein, der ist ja auch schon tot. Unfassbar, dieses Leben. Glück! Ja, Glück! Was für eine Frau? Was für ein Leben? Was für eine Kraft? Ich bin sehr dankbar, dass mir diese Wochen geschenkt wurden, und ich weiß: In dieser Minute ist sie es auch.