Effektiver Altruismus
Wo hilft meine Geldspende mehr, wo weniger?
Wem soll ich spenden - den Ärmsten oder den Nächsten? Emotional oder ganz rational nur da, wo mein Geld nachweislich am meisten hilft, wie es der Effektive Altruismus fordert? Aber was hilft den Ärmsten der Armen wirklich?
Wo hilft meine Geldspende mehr, wo weniger?
Moritz Wienert
Tim Wegner
Aktualisiert am 06.08.2024
9Min

Wer Geld spendet, möchte die Welt besser machen. Dass Kinder in Afrika in die Schule gehen können zum Beispiel. Wie schön, wenn von Spendengeldern eine Schule gebaut wird. Sache erledigt, denkt man. Aber dann fehlen immer wieder Kinder, und niemand weiß, warum.

Esther Duflo erforscht seit gut 20 Jahren, was wirklich hilft bei Armut. Die Forscherin testet soziale Hilfsmaßnahmen genauso streng, wie man in der Medizin neue Medikamente testet: Eine Gruppe bekommt die Hilfe, eine andere keine Hilfe oder ein anderes Angebot. Sie macht also "randomisierte kontrollierte Studien". Für diesen experimentellen Ansatz erhielt Esther Duflo 2019 den Wirtschaftsnobelpreis, zusammen mit zwei Forschungskollegen.

Mit wenig Geld maximal viel erreichen

Auf diese Weise fand man endlich auch heraus, was zu tun ist, damit mehr Kinder regelmäßig in die Schule kommen. Getestet wurde zum Beispiel die Vergabe von kostenlosen Schuluniformen oder von Schulstipendien. Das brachte durchaus was. Aber 100 Mal mehr Schulbesuchszeit erreichte man, wenn man dieselbe Menge Geld in Medikamente gegen parasitäre Würmer steckte. Denn es war die Schwäche, die die wurmgeplagten Kinder vom Schulbesuch abhielt. Daraufhin gründete Esther Duflo mit anderen die Organisation "Deworm the World".

Mit wenig Geld maximal viel erreichen. Das faszinierte einige Menschen so, dass um 2010 herum eine ganze Bewegung entstand namens "Effektiver Altruismus". Vor allem junge Menschen und das universitäre Milieu machen dort mit. Sie sagen: Weil die Not in der Welt so groß ist, sollte man nur noch für erwiesenermaßen Hochwirksames spenden und am besten nur in Ländern, in denen die Kaufkraft von Euro oder Dollar so richtig hoch ist. Dabei berufen sie sich auf Forschungen wie die von Esther Duflo. Zunächst verbreitete sich die Bewegung "Effektiver Altruismus" in Großbritannien und den USA, 2019 dann gründete sich auch in Deutschland eine entsprechende Spendenplattform: www.effektiv-spenden.org. Sie empfiehlt laut Eigenaussage nur "die weltweit wirksamsten Hilfsorganisationen".

Aber was hilft denn den Armen nachweislich am besten, vor allem den "extrem Armen", die nach der Definition der Weltbank nur 2,15 Dollar am Tag zum Leben haben? So ist die Hälfte der ländlichen Bevölkerung auf dem afrikanischen Kontinent "extrem arm" (siehe Seite 9, Box 1-4, im Global Sustainable Development Report 2023). Was bedeutet, dass die Person zum Beispiel einen ganzen Tag nichts zu essen hat; oder dass sie, weil die Flut die Lehmhütte aufgelöst und mit allen Habseligkeiten weggespült hat, schon auf einen simplen Plastikeimer sparen muss.

Um die Jahrtausendwende waren Mikrokredite die große Hoffnung gewesen, um Menschen aus der Armutsfalle zu befreien: Arme Menschen, die sonst keinen Zugang zu Banken haben, bekommen einen kleinen Kredit, in der Hoffnung, dass sie damit ein kleines Geschäft oder ein Gewerbe gründen, von dem sie den Kredit dann wieder zurückzahlen können.

Auch der Deutsche Sebastian Schwiecker war von Mikrokrediten begeistert, schrieb seine Abschlussarbeit in Volkswirtschaft über Mikrokredite an Frauen. Es gebe Tausende von tollen Erfolgsanekdoten, was Menschen aus ihrem Leben gemacht haben, erzählt Schwiecker, aber als die Wissenschaft die Wirkung ab den 2010er Jahren genauer untersuchte, stellte sich heraus, dass man zu viel erhofft hatte. Nur wenige Arme konnten sich mit den Kleinstkrediten dauerhaft selbstständig machen, und die extrem Armen erreichte man mit den Mikrokrediten fast gar nicht.

Die Geldspenden sind nicht zweckgebunden

Seitdem ist Sebastian Schwiecker skeptisch. Heute ist er Mitgründer und Geschäftsführer von "Effektiv Spenden", jener Plattform, die nur die "weltweit wirksamsten Hilfsorganisationen" zum Bespenden empfehlen will. Also nur jene Hilfsmaßnahmen, bei denen wissenschaftlich belegt pro eingesetztem Euro der maximale Nutzen erreicht wird. So empfiehlt Schwiecker zur Armutsbekämpfung zum Beispiel GiveDirectly.

GiveDirectly, übersetzt: Gib direkt, ist eine amerikanische Hilfsorganisation, die extrem armen Menschen Geld gibt. Also nicht verleiht, sondern schenkt. Wichtiger Unterschied zu Mikrokrediten: Sie müssen das Geld nicht zurückzahlen. Und, genauso wichtig: Sie können damit machen, was sie wollen. Sie müssen das Geld nicht in ein Mini-Business stecken, sondern sie können damit ebenso dringend benötigte Lebensmittel, Medikamente oder Haushaltsgegenstände kaufen.

Bislang wird der direkte Geldtransfer fast nur bei Kriegen oder Katastrophen eingesetzt. Die Diakonie Katastrophenhilfe etwa überreicht den Menschen dann keine Pakete mit zum Beispiel Reis, Öl, Seife, Windeln, sondern Geld, damit sie sich selbst kaufen können, was sie brauchen. Die Hilfsorganisation spart sich auf diese Weise teure Lagerlogistik und aufwendige Verteilung, die örtliche Wirtschaft wird gestärkt - und für die Bedürftigen ist es viel würdiger.

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Die Organisation GiveDirectly gibt bedingungslos Geld auch jenseits von Naturkatastrophen und Kriegen. Sie identifiziert mit Hilfe von Luftaufnahmen arme Siedlungen, etwa in Kenia - besonders arm ist, wer sich zum Beispiel nur ein Strohdach leisten kann, kein dauerstabiles Metalldach. Die Menschen in diesen Siedlungen bekommen das Geld aufs Handy transferiert - wer keins hat, kriegt eins gestellt. Das Geld kommt meist in mehreren Tranchen von insgesamt beispielsweise 1000 Dollar für einen Fünfpersonenhaushalt (also gut 900 Euro), das kommt laut "Effektiv Spenden" einem Jahresgehalt in Kenia nahe.

Aber wenn man extrem armen Menschen auch jenseits von Krieg und Katastrophe Geld gibt - macht das die Menschen nicht faul? Nein, das habe keine einzige Untersuchung gezeigt, sagt Esther Duflo in einem Interview, das weist auch GiveDirectly nach. Im Gegenteil: Die Menschen können nun zum Beispiel die Anfahrt zu einem Job bezahlen. Oder sie können etwas Geld zurücklegen, so dass sie im Notfall (Krankheit, Missernte, Wetterschäden) nicht Arbeitswerkzeuge verkaufen müssen. Manche arbeiten mehr Stunden oder sind produktiver in ihrer Arbeitszeit, weil sie weniger Angst und Stress haben.

Raus aus der extremen Armut

GiveDirectly stellt nachlesbar online, wofür die Menschen das Geld ausgeben wollen oder schon ausgegeben haben. Und wenn man liest, wie genau Irine, 30, aus Kenia das Geld bereits verplant hat, versteht man, was Forscherin Esther Duflo meint, wenn sie sagt: Arme Menschen können sich keine Fehler leisten, sie gehen sehr bedacht mit Geld um.

Irine verdient aktuell 16 Dollar wöchentlich durch das luftdichte Verbrennen von Holz zu Holzkohle - das ist zu wenig, um die sechsköpfige Familie zu ernähren. Ihr zweites wirtschaftliches Standbein, ein Maisfeld, war von der Flut verwüstet worden, ebenso ihr Zuhause. Nun plant sie, 231 Dollar für den Bau einer Toilette auszugeben, damit die Familie nicht mehr hinter den Busch muss. 154 Dollar sind vorgesehen für Bewässerungsanlagen, Bohnensamen, Werkzeuge zur Bodenbearbeitung, um den brachliegenden Hektar Land zu bebauen. "Außerdem werde ich 192 Dollar für den Kauf von fünf Ziegen aufwenden", die liefern dann Milch und ihre Nachkommen können verkauft werden, sagt sie. Das hört sich nach einem guten Plan an.

Der bedingungslose Cash-Transfer gilt als hochwirksam, viele Menschen finden so zumindest aus der extremen Armut heraus, wenn vielleicht auch nicht aus der Armut. Die Menschen geben - zum Beispiel für Lebensmittel - mehr Geld aus, als sie erhalten haben. Und das bedeutet, dass sie das geschenkte Geld für irgendeine wirtschaftliche Aktivität genutzt haben, und sei es, dass sie Güter gekauft und teurer weiterverkauft haben.

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Aber woher wissen Sebastian Schwiecker und das Team von der Plattform "Effektiv Spenden", was die kosteneffektivsten Hilfsprojekte sind? Sie vertrauen den umfassenden Recherchen der gemeinnützigen amerikanischen Organisation GiveWell. Deren langjähriger Spitzenreiter: Malariabekämpfung durch die Verteilung von preiswerten Bettnetzen, die mit Insektiziden behandelt sind. Höchst notwendig, denn 80 Prozent der an Malaria Gestorbenen in Afrika sind Kinder unter fünf Jahren. Empfohlen wird aber auch "Deworm the world" mit dem schulischen Entwurmungsprogramm. Und sie empfehlen eben GiveDirectly, die Geldvergabe an Ärmste.

Und was ist mit dem deutschen Spendensiegel des DZI? "Das DZI schaut darauf, dass die Spendenorganisationen keine schwarzen Schafe sind, das ist natürlich wichtig", sagt Schwiecker, "aber ich wollte wissen, wer die Besten sind, und es gibt in Deutschland keine Bestenlisten."

Oft ist der Erfolg nicht gleich messbar

Nun ist es nicht so, dass die großen deutschen Hilfsorganisationen, die das DZI-Spendensiegel haben, blind vor sich hinwursteln. Brot für die Welt etwa erhebt die Lage der Menschen am Anfang eines Projekts, in der Mitte und am Ende. Fast immer begutachten externe Fachleute. Besonderheit bei Brot für die Welt: Die Organisation hat keine eigenen Leute vor Ort, sondern arbeitet mit den örtlichen Hilfs- und Selbsthilfeorganisationen zusammen. "Wir stärken unsere Partner, das ist unser Ansatz", sagen Judith Stegemann und Dietmar Mälzer vom Referat Ergebnismanagement, "anders als beim Effektiven Altruismus sollen bei Brot für die Welt die Partner selber ihr Problem definieren und - mit unserer Unterstützung - auch selber ihr Problem lösen."

Oft ist der Erfolg nicht gleich messbar - etwa wenn Menschen über ihre Rechte aufgeklärt werden, Landrechte beispielsweise; bis sie ihr Recht durchsetzen können, kann es dauern. Oder Hilfsprojekte sind komplex, bestehen also aus mehreren Maßnahmen. Etwa bei der Welthungerhilfe: Da gibt es nicht nur Schulungen für den Anbau von Nutzpflanzen, sondern man arbeitet auch am "Nacherntemanagement" inklusive Lagerung, Verarbeitung, Vermarktung. Dazu gehört auch die Erzeugung von hochwertigem Saatgut. Alles, damit die Menschen ihre Situation nachhaltig verbessern können. Am Ende fragt man sie, wie viele Monate ohne Hunger sie im Jahr davor hatten. Wenn es dann 9,3 Monate ohne Hunger sind statt wie vorher 7,2 Monate, gilt das als großer Erfolg.

Kann man imprägnierte Malarianetze vergleichen mit solch komplexen Hilfsmaßnahmen? Christian Stark, Philanthropie-Leiter bei der Welthungerhilfe, sagt: "Insektizid-behandelte Malarianetze sind sehr kostengünstig in der Herstellung, und sie retten viele Leben. Wenn sich jedoch alle nur auf diese Maßnahme konzentrieren würden, würde dies die strukturellen Ursachen von Armut und Hunger nicht adressieren. Zwar würden mehr Menschen überleben, aber ihre Lebensqualität würde sich langfristig nicht zwangsläufig verbessern."

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Sebastian Schwiecker von "Effektiv Spenden" kennt diesen Einwand. Er sagt: Diese anderen Maßnahmen seien auch wichtig, aber solange das Geld nicht reiche, alle Herausforderungen gleichzeitig zu lösen, "sollten wir unsere Spende auf die effektivsten Ansätze konzentrieren, mit denen wir am meisten Menschen helfen können".

Natürlich sei nicht jedes Projekt von Erfolg gekrönt, sagt die Welthungerhilfe selbst - schon weil man oft in riskanten und schnell veränderlichen Situationen arbeite. Und wie soll man in Krisensituationen wissenschaftliche Vergleichsgruppen bilden? Viele NGOs würden ihre Arbeit seit Jahren mit umfassenden Wirkungsanalysen betreiben, sagt Burkhard Wilke vom DZI, das das Spendensiegel vergibt, er nennt beispielhaft Ärzte ohne Grenzen, Welthungerhilfe, Misereor; aber diesem hohen wissenschaftlichen Anspruch der Effektiven Altruisten könnten sie mit ihrer Arbeit in Krisengebieten nicht genügen. "Und es wäre unethisch, dann zu sagen: ‚Dann helfen wir gar nicht‘."

Ethische Zwickmühle

Die Vorgabe des Effektiven Altruismus dagegen ist: Spende so, dass du die größtmögliche Leidminderung für die größtmögliche Anzahl Menschen erreichst. Utilitarismus nennt sich diese Ethik.

"Größtmögliche Leidminderung", das hört sich gut an, hat aber Konsequenzen. Denn das Kinderhospiz in Deutschland, die Musikschule vor Ort oder deutsche Obdachlose dürfte man dann nicht unterstützen. Und so begründet das Sebastian Schwiecker: "Zumindest für mich persönlich ist es schwer zu rechtfertigen, den vielen in Afrika nicht zu helfen, damit ich wenigen in Deutschland helfen kann. In armen Ländern kann man mit jedem Euro wegen der Kaufkraftunterschiede sehr viel mehr für die Menschen erreichen als hierzulande."

Es gibt durchaus Kritik an diesem Ansatz, dass die Leidminderung von möglichst vielen Menschen die oberste Maxime sein müsse. Eine ausführliche etwa vom evangelischen Fundraiser Kai Dörfner. Und Georg von Schnurbein (S. 17 bis 25 im DZI-Almanach), ein Schweizer Philanthropieforscher, findet, dass es für eine solidarische Gesellschaft nicht nur Entwurmungsprogramme in Afrika brauche, sondern auch Gelder für die Ausbildung von Blindenhunden in der Schweiz. Weil der blinde Nachbar sonst keine Chance hätte, selbstständig am öffentlichen Leben teilzunehmen.

"Da sehen Sie uns zu roboterhaft", sagt Sebastian Schwiecker, wenn man ihm dieses Beispiel vorhält. "Ich hab auch zwei Kinder, eine Familie, natürlich investiere ich mehr in die als in irgendwelche Spendenprojekte. Wenn ich jemanden kritisiere, dann eher die Leute, die gar nicht oder fast gar nichts spenden, als Leute, die nicht das letzte Pünktchen an Wirkung rausholen." Manchmal sagen ihm Spender mit einem Augenzwinkern: "Basti, ich weiß, aber die um die Ecke kriegen auch noch was, weil die mir am Herzen liegen."

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