Ein einzigartiges Mädchen
"Mama arbeitet auch in einer Schule, aber nicht in meiner. Jetzt ist ja ­wieder richtig Schule. Schule-Schule! Ich mag eigentlich jedes Fach total gern. Man sagt doch: Wer später etwas Großes erreichen will, muss in der Schule perfekt sein. Ich bin bei uns das erste Kind, das im E-Rolli Fußball spielen kann. Die ­anderen kommen gar nicht auf die ­Idee."
Daniel Schumann
Kinderzentrum Bethel
Ein einzigartiges Mädchen
Unter einer Million Menschen hat nur eine Handvoll das, was Bercem hat. Sie ist bestens ­aufgehoben: bei Mama, in der Förderschule – und im neuen Kinderzentrum in Bethel.

Eine Reportage der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, erstellt in Zusammenarbeit mit der chrismon-Redaktion.
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
Daniel SchumannPrivat
28.10.2021
6Min

Gratulation! Bercem ist zur Klassensprecherin gewählt worden. Und wie viele Stimmen hat sie bekommen? "Alle!" Sie strahlt. Aber wer auch nur einmal eine halbe ­Stunde mit Bercem verbracht hat, denkt: kein Wunder. Bercem, zwölf, ist das Wunder. Sie zieht in Erwägung, ­Politikerin zu werden, weil sie so wahnsinnig gern redet. So gut redet. Weil sie argumentieren kann. Aber noch wichtiger: Sie ist kreativ. Sie singt gern. Das spricht dann doch mehr für Rockstar.

Jedenfalls hat Bercem Pläne. Inzwischen ist sie sogar schon Schulsprecherin. In ihrem Kinderzimmer hängen Urkunden vom Rollirennen, Diplome vom Rollstuhlfußball mit Riesenbällen und vom Lese-Raben. Stundenpläne, "Geteilt durch"-Tabellen über dem kleinen Schreibtisch. Ein breites und hohes Holzbett direkt unter dem Fenster. Die Beatmungsmaschine daneben. Und überall Poster von "Soy Luna", einer Telenovela.

Bercem, ein hartnäckiger Fan, hat alle Folgen von­ "Soy Luna" geguckt, und als die Hauptdarstellerin einmal für ein Konzert in Deutschland war, hatte Bercem natürlich Karten. Leider musste sie einen Tag vorher ins Krankenhaus, mit einer Lungenentzündung. "Hab ich oft," winkt sie ab. "Für mich ist Lungenentzündung wie für dich ein Schnupfen."

"Das da ist meine Beatmung. Für die Schule brauche ich eine andere. Weil ich sonst tagsüber oft zu wenig Sauerstoff ­habe. Das wollen wir natürlich vermeiden! Vier ­Stunden am Tag kann ich ohne Maske sein. Nach einer Woche hat man sich an die Maske gewöhnt. Reden kann ich mit und ohne. Ich kann sogar beim Zähneputzen reden. Wie ein Wasserfall. Das war schon schlimm, als ich mal in die Röhre rein musste, MRT. Da durfte ich eine halbe Stunde nicht reden, der Horror!"

Allerdings doch schlimmer. Eine Lungenentzündung führt Bercem jedes Mal direkt auf die Intensivstation im Kinderkrankenhaus Bethel. Bercem wurde geboren mit Muskeldystrophie Typ Ullrich. Einer lebensverkürzenden "seltenen Krankheit", die aber doch einen Wikipedia-­Eintrag hat. Da erfährt man die Hauptmerkmale: früher Krankheitsbeginn, allgemeine, langsam zunehmende Muskelschwäche, die Gelenke werden unbeweglicher, normale Intelligenz.
Normale Intelligenz? Das kann Bercem schon mal ­toppen. Normale Zuversicht und Selbstbewusstsein toppt sie auch, von beidem braucht sie nämlich eine doppelte Normalportion.

Corona hat die Familie ein bisschen vereinsamen lassen

Ihren zwölften Geburtstag hat Bercem gerade im ­Hospiz gefeiert. Lustig! Mit einer rollenden Disco. Das Outfit lag schon seit Wochen parat, ein glitzernder Jumpsuit. "Ich ­liebe Glitzer, und zum Geburtstag kann man sich schon mal chic machen." Im Kinder- und Jugend­hospiz Bethel, das im engen Austausch mit dem Kinder­zentrum steht, trifft sie Freundinnen und Freunde, das ist zu ­Hause schwieriger. Corona hat die Familie – Bercem, ihre ­31-jährige Mutter Berivan Is und den kleinen Bruder – ein bisschen vereinsamen lassen. Die Zeiten im ­Hospiz, letztes Jahr vier Mal, waren schon deshalb großartig. Auch ­Silves­ter wollen sie da feiern. Bercem weiß, dass ­ihre Krankheit voranschreitet. Aber die Medizin macht ja auch Fortschritte. "Die Technik ist schon weit", sagt sie. Vielleicht wird sie ihren Rollstuhl mit den Augen ­bedienen können, wenn die Kraft in den Fingern nachlässt.

"Ich lese sehr, sehr viel. Manchmal pro Tag ein Buch. Ein Buch endet nicht mit der letzten Seite, sondern begleitet dich dein Leben lang: Das ist der Satz, den man sich ­immer ­sagen müsste. Ich finde auch jedes Mal was Neues, jedes Mal hab ich auch eine ­andere ­Vorstellung davon, wie die Personen aussehen. Je nachdem, wie alt man ist. Heute habe ich ,Eine Freundin zum Anbeißen‘ aus der Bücherei ausgeliehen. Eine Vampirgeschichte. Auf dem Heimweg von der Schule hab ich schon ziemlich viel gelesen."

"Meinen Namen kann man nicht vergessen", glaubt Bercem. "Der ist einzigartig! Ein kurdischer Name. Ich kenne niemanden, der so heißt." Bercem kennt auch niemanden mit Muskeldystrophie Typ Ullrich. "Seltene Krankheiten" sind, logisch, schwer zu diagnostizieren. Die Behandlung ist aufwendig – und viel Geld ist damit nicht zu verdienen. Überhaupt sind kranke Kinder nichts, was in der Medizin Rendite bringt. Kinderstationen sind Kostenfaktoren, aufwendig und zeitintensiv. Wie gut, dass Bethel anders rechnet. Aber eben auch mit ­Spenden rechnen muss. "Unser neues Kinderzentrum ist das ­größte Spendenprojekt in der Geschichte Bethels," erklärt ­Sprecher Johann Vollmer. "So ein Klinikbau ist sehr teuer. Gut 50 Millionen müssen wir über Spenden finanzieren." Zum Spendenziel fehlen noch acht Millionen.

Bercem hofft auch auf eigene Fernseher an den Betten – "und Radio!"

"Ich bin glücklich, dass Bethel die Kinder- und ­Jugendmedizin so hoch schätzt und diese große ­Investition ­stemmen will", sagt Professor Eckard Hamelmann, der Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Evangelischen Klinikum Bethel, die im laufenden Betrieb auf dem jetzigen Gelände ein neues Haus bekommt. Und stolz ist er auch, darauf, dass in den neuen Bau "viele von unseren Ideen" einfließen, von Mitarbeitenden und Patientinnen in vielen Workshops entwickelt. Die Unterbringung – 146 Betten hat die neue Klinik – wird angenehmer, familienfreundlicher, die Wege zu den Untersuchungen führen nicht mehr in andere Häuser.

Es gibt Inseln zum Spielen und mehr Platz für den großen Unterstützungsbedarf, den schwer kranke Kinder und Jugend­liche haben, wenn sie manchmal monatelang im Krankenhaus sein müssen. Bercem hofft auch auf eigene Fernseher an den Betten – "und Radio!". Hätte sie gern ein Zimmer für sich, wenn sie im Krankenhaus ist? "Kommt drauf an. Wenn ich nur zum Check-up da bin, freue ich mich, wenn noch jemand anderes da ist. Hab ich Lungenentzündung, dann will ich nur Ruhe, Ruhe, Ruhe." Ihre berufstätige Mutter weiß, dass es auch für sie selbst künftig komfortabler wird, wenn sie ihre Tochter in die Klinik begleitet.

"Es gibt Kinder, die seit fünf Jahren im Rollstuhl sitzen und keiner weiß, warum."

Von der bunten Aluminiumfassade ist schon einiges zu sehen, die Eröffnung ist aber erst für 2023 geplant. Der Klinikchef, seit einem Jahr Professor für ­Kinderheilkunde an der Universität Bielefeld, ist noch auf einer anderen Baustelle sehr beschäftigt: Die Kinderklinik ist jetzt Teil der neu gegründeten Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld. Das Evangelische Klinikum Bethel, das ­Klinikum Lippe und das in Bielefeld bilden zusammen das Universitätsklinikum OWL, die Abkürzung steht für Ostwestfalen-Lippe. "Wir weiten das zu einem medizinischen Kompetenzzentrum aus, mit neuen Professuren, die jetzt hier entstehen, für Biochemie, für Physiologie, für Humangenetik. Wir wollen also nicht nur Medizin machen, sondern auch Forschung – diagnostische und therapeutische, die den jungen Patientinnen direkt zugutekommt."

Der Professor gerät fast ins Schwärmen. "Wir sind eine Kinderklinik im Aufbruch, mit einem tollen Neubauprojekt, wir sind eine Universität im Aufbruch mit einer tollen neuen Fakultät, die sich mit anderen Fakultäten – Bio­logie, Psychologie, Soziologie, Gesundheitswissenschaft – im regen Austausch befindet." Im Fokus ihrer Arbeit, sagt Hamelmann, stehen auch junge Menschen mit chroni­scher Erkrankung und Behinderung, darunter sind viele mit "seltenen Erkrankungen". "Das ist ein spannendes Thema, die haben ja oft noch gar keine Diagnose bekommen. ­ Es gibt Kinder, die seit fünf Jahren im Rollstuhl sitzen – oder sie haben Atemprobleme, und keiner weiß, warum."

Bercem mit ihren gesundheitlichen Problemen wird dort oft zu den Patientinnen gehören. Aber mit ihrer ­Energie und ihrer Zuwendung auch zu denen, die ­anderen helfen. Sie mag es, im Kinderzentrum neue ­Kinder ­kennenzulernen. "Ich spiele mit allen, nicht nur mit denen, die reden können. Auch mit denen, die mehrfach eingeschränkt sind. Ich bin die Freundin von allen."

Spendeninfo

Helfen Sie kranken Kindern - spenden Sie für das neue Kinderzentrum Bethel

Wenn man Kinder sieht, wie sie Hand in Hand laufen, unbeschwert lachen und die Welt erkunden, ist das Leben leicht. Doch eine Krankheit kann schnell alles verändern. Dann ­brauchen Kinder mehr denn je die Liebe und Nähe ihrer Eltern und ­ die beste Medizin, die es gibt. Mit dem Neubau des Kinderzentrums Bethel setzen wir uns dafür ein.

Wir bauen eine Klinik, in der modernste medizinische Versorgung ebenso wichtig ist wie eine familienfreundliche Atmosphäre. Denn je wohler sich kleine Patienten fühlen, desto eher werden sie gesund. Hinzu kommt ein Zentrum für seltene ­Erkrankungen und die besondere Kompetenz in der Behandlung von Kindern mit Behinderungen.

Der Neubau des Kinderzentrums ­Bethel ist nicht nur eine Brücke in die Zukunft von Kindern und Jugendlichen. Er fügt sich auch nahtlos in die mehr als 150-jährige Tradition Bethels ein. Bethels Motto: "Für Menschen da sein" begann mit der Hilfe für kranke Jungen und ­Mädchen. Diakonisch geprägt und sozial engagiert ist Bethel heute an vielen Orten in Deutschland aktiv: für ­kranke, behinderte oder sozial ­benachteiligte Menschen.

Helfen Sie uns dabei: Unterstützen Sie jetzt unser Engagement für ­kranke Kinder.

Spendeninfo:

Empfänger: v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel
IBAN: DE48480501610000004077
BIC: SPBIDE3BXXX

Vielen Dank für Ihre Unterstützung!

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