Wer Johannes Harms besucht, vergisst nach kurzer Zeit, dass er erwachsen und ernsthaft ist. Zunächst schaut Johannes einen an und lächelt. Er selbst ist schlaksig, hat blaue Augen, Silberblick hinter den dicken Brillengläsern. Dann drückt er einem die Fernsteuerung eines Spielzeugautos in die Hand. „Ein Rennen, los geht’s“, sagt er, lässt sein Auto in der Runde knattern und plaudert dabei über Tiere. Er ist bei allem so begeistert, dass man nicht Nein sagen kann. Selbst Tiere können es nicht. Es gibt diese Anekdote mit den Schafen. Die Tiere, sie gehören Freunden der Familie, sind scheu. Die Kinder versuchen trotzdem, die Schafe zu locken. Nichts zu machen. Sie traben immer noch weiter weg. Dann kommt Johannes: „Hallo, Schafe!“, ruft er ausgelassen. Und die Herde läuft zu ihm.
Neugierig, gut gelaunt. So kennen die Leute Johannes. Die Krisen können sich die meisten nicht vorstellen. Sterbephasen nennt seine Mutter Johanna D’Alquen sie. Die Darmentzündungen, Schmerzkrämpfe. Sie dauern Tage, Wochen. Johanna leidet dann mit ihm, bangt, kommt von seinem Bett nicht weg. Es reicht ein bisschen Stress, etwas falsches Essen, ein kleiner Infekt, um ihn aus der Bahn zu werfen. Johannes ist 18. Er läuft, er spricht, er lebt. „Das ist ein Wunder“, sagt Johanna. „Bauen Sie keine Bindung zu dem Kind auf“, haben die Ärzte nach der Geburt gesagt. „Er lebt nicht lange.“ Johannes hat Trisomie 18. Der Gendefekt trifft vor allem die Nieren, die Verdauung und das Herz. Aber die Aufforderung der Ärzte hat das Gegenteil bewirkt: Johanna ist entschlossen, jeden verbleibenden Tag mit ihrem Kind zu genießen. Kinder mit Trisomie 18, weiß sie, sterben selten während der Krisen. Sie sterben friedlich. Im Schlaf. Das ist die Zerreißprobe: jeden Tag lieben und zugleich wissen, dass es der letzte sein könnte.
Mittagessen im Hause D’Alquen. Bratwurst für Stiefvater Günter, mildes Hähnchencurry mit Gemüse für Johannes. Die Männer kauen. Der schlanke Günter mit seinen raspelkurzen, grauen Haaren und den dunklen, geraden Lippen, sitzt neben dem blonden Johannes. Johanna werkt in der Küche, saust durch die Zimmer. „Gerade sitzen“, sagt sie im Vorbeigehen zu Johannes. „Ellbogen vom Tisch.“ Johannes gehorcht. Günter unwillkürlich auch. Johanna ist in den Vierzigern, ihre Haare sind schwarz, die Augen dunkel. Ihr Körper ist groß, kräftig, wie ihre ganze Art. „Ein paar Minütchen noch“, sagt sie mit ihrer rauchigen Stimme, oder: „Was bin ich für ein Fischgesicht.“ Sie hat nie gehadert, nie gefragt: Warum ich? „Johannes habe ich verdient, im besten Sinne“, sagt sie. Sie sagt auch, dass ihre Jugend, ihr Leben als Flugbegleiterin so erfüllt war, dass es nichts ausmacht, jetzt auf manches zu verzichten. Sie lacht laut und tief. Der Rat der Ärzte schüttelt sie heute noch. Sie ist nicht der Typ, der Kosten-Nutzen-Rechnungen erstellt. „Ich würde nie abtreiben“, sagt sie. „Und Johannes gehen lassen? Dazu hätte ich aufhören müssen, ihm Nahrung zu geben!“
"Vorher war das Leben oberflächlich"
Günter hat sie auf der Lippstädter Kirmes kennengelernt, als sie, geschieden von Johannes’ Vater, nicht mehr an Männer dachte. „Wo machst du Urlaub?“, fragte Günter. „Im Kinderhospiz in Bethel.“ Sie erzählt von Johannes mit so viel Stolz und Freude in den Augen, dass Günter sich restlos verliebt. „Ist da denn noch Platz zwischen dir und deinem Sohn?“ Kein Jahr später haben sie geheiratet. „Vorher war das Leben oberflächlich“, sagt Günter. „Johannes gibt viel und fordert so wenig.“ Die drei leben in Lippstadt in einem Stadthaus mit Garten. Puzzlespiele, Johannes’ Leidenschaft, türmen sich im geräumigen Wohnzimmer, ein Sitzlift für Johannes schlängelt sich entlang der Treppe nach oben. Johanna, die, wenn es geht, zwei halbe Tage pro Woche in einer Hausverwaltung arbeitet, und Günter, der Lkw-Fahrer, reiben sich oft ungläubig die Augen über ihr Heim. Freunde haben es ihnen gegen geringe Miete überlassen, für die Zeit, die Johannes da ist. Es gibt viele, die Johanna und ihre Männer auf verschiedenste Weise unterstützen, Freunde, Familie, Ehrenamtler. Johanna staunt oft, dankbar. Sie weiß, dass sie Glück hat.
Zur Krankengymnastin geht es mit dem Auto. „Machen wir Musik!“, sagt Johannes und schiebt seine Lieblings-CD ins Gerät. „Da können wir uns nicht unterhalten.“ –„Ja.“ – „Das ist doch schade.“ – „Nö.“ Johanna seufzt. Johannes dreht die Musik auf. Kinderlieder. Er schwingt die Hände und singt mit. „Im Radio ist ein Küken...“ Er hat eine klare Stimme. Alle Texte kann er auswendig. Im Schulchor ist er der Einzige, der das kann. Johanna hatte sich damit abgefunden, dass ihr Sohn nicht mal „Mama“ sagen können würde. Aber mit etwa sieben begann er doch zu sprechen. Es sprudelte aus ihm heraus: Lieder, Namen, Wissen. „Alles, was ich ihm all die Jahre erzählt habe, hat er behalten“, sagt Johanna. „Er konnte nur nichts sagen!“ Jetzt redet er fast pausenlos. Wenn Johanna in seinem Zimmer Tee und Nahrung in die Magensonde pumpt, zählt er seine liebsten Spielsachen auf. Über seinem Bett hängt eine Weltkarte. Johannes kennt alle Kontinente und alle Tiere, die darauf abgebildet sind.
Die Woche ist ausgefüllt. Vormittags besucht Johannes eine Förderschule im Nachbarort, nachmittags geht es zum Logopäden oder zur Krankengymnastik, zwischendrin muss über seine Magensonde immer wieder Luft abgelassen werden, damit Johannes keine Krämpfe bekommt. Freitags besuchen sie das Pferd Fabi, viele Wochenenden verbringt Johannes bei seinem Vater oder der Oma. Er liebt das. Mittwochs kommt Roswitha vom Ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst Paderborn-Höxter. Johannes schleppt sie zum Entenfüttern. „Seine Viecher“, sagt Roswitha belustigt. Sie trägt geblümte Schals, pastellfarben, blumiges Parfüm. An die Tiere musste sie sich gewöhnen. Sie ist immer da, wenn Johanna Hilfe braucht, oder jemanden, der zuhört.
Die Tür zur Praxis öffnet sich. Mit großem Hallo trippelt Johannes hinein und hält jeder Mitarbeiterin eine Tüte Kekse vor die Nase. Er schenkt gern. Das Keksritual entstand zufällig. Jetzt besteht er darauf. Einmal haben sie die Kekse vergessen. „Jetzt sind meine Frauen traurig“, sagte er und war selbst den ganzen Tag nicht mehr froh. Mit schlurfenden Schritten flitzt er so durch die Praxis, dass Johanna unruhig wird. Wenn er nur nicht fällt. Die Trisomie krümmt Johannes die Finger und mit der Zeit den Rücken, die Knie halten nicht mehr gut. Ein Kind in einem Greisenkörper. Es wird nun nicht mehr besser, sondern langsam schlechter. Mittlerweile helfen die Morphine kaum mehr gegen die Schmerzen in den Krisen. Johannes ermüdet schneller. Dann nimmt er den Rollstuhl, so wie andere entscheiden, Fahrrad zu fahren. Er weiß nicht, dass er anders ist. „Seien Sie froh“, sagt der Arzt. Aber wenn er sich bei der Krankengymnastin mit seinen verkrampften Muskeln abmüht, soll ihn niemand sehen, auch nicht seine Mutter. „Hau ab“, sagt er.
"Alles, was ich ihm erzählt habe, hat er behalten"
Johanna war nie neidisch. Sie hat sich immer über die gesunden Kinder gefreut – und versucht, ihre Sorgen für sich zu behalten. Dabei war für sie alles so anders. Als die anderen Kinder krabbelten, wurde Johannes über eine Nasensonde ernährt. Das Essen bei sich zu behalten, war die Lebensaufgabe. Als die anderen liefen und sprachen, rangen Johanna und Johannes mit der neuen Magensonde. Als sie im Kindergarten waren, lernte Johannes zu essen. Plötzlich machte er riesige Entwicklungssprünge und Johanna stand vor ganz neuen Herausforderungen: „Wie viel isst ein Kind, damit es satt ist? – Ich hatte ja keine Ahnung!“, sagt sie. Die Angst, ihn zu verlieren, brachte sie an die eigene Grenze: Panikattacken. Johannes allein zu lassen, stundenweise oder mal einen Tag, abschalten, an sich zu denken – das musste Johanna mühsam lernen.
Das spendenfinanzierte Kinderhospiz Bethel in Bielefeld ist eine große Insel im Leben der Familie. Jede Ferien verbringen sie dort, es gibt Pfleger und Ärzte, die sich auf Behinderungen bei Kindern spezialisiert haben. Johanna kann sie auch zu Hause mit jedem Zweifel anrufen. Manches Kind ist hier nach vielen Operationen und Strapazen aufgeblüht. Hier versuchen sie nicht so sehr, den Körper mit Ersatzteilen zu optimieren, sondern das zu stützen, was da ist. Die Wände sind voller Malereien und Fotos. Überall rollen und rennen Kinder. Es gibt einen Werkraum, einen Whirlpool, Ponyreiten – einen Abschiedsraum. Manche Kinder sterben hier. Andere werden zur Totenwache gebracht. Dann brennt im Foyer eine Kerze. Das zu sehen macht Johanna Angst. Nach Johannes’ letzter Krise rief sie in Bethel an: „Beim nächsten Besuch bitte keine Kerze.“ Als könnten die Betreuer das beeinflussen.
Die Eltern sollen Verantwortung abgeben, entspannen können. Deswegen sind ihre Zimmer vom Pflegebereich getrennt. Johanna gefiel das anfangs gar nicht. Da stellten ihr die Pfleger ein Bett in Johannes’ Zimmer. „Das machen nicht alle Hospize“, sagt Johanna. Mittlerweile kann sie ihren Freiraum genießen. Und wenn Johannes plötzlich stirbt? „Jetzt sage ich mir, dass er es so wollte, sollte er gehen, wenn ich nicht da bin“, sagt sie. In Großvaters Kanzlei brennt noch Licht. Sie beschließen, ihn zu besuchen. „Opa ist mein bester Freund“, sagt Johannes. D’Alquen senior sitzt hinter dem großen, dunklen Schreibtisch und lauscht mit nordischer Ruhe Johannes’ Erzählungen, die jetzt, am Ende des Tages, nicht mehr ganz zusammenpassen. Der Großvater, der Johanna vor dem Interview streng gesagt hat: „Mach aus Johannes keine Attraktion! Vermarkte nicht dieses wunderbare Wesen!“ Das will Johanna gar nicht. Sie ist froh, wenn nur ein paar auf der Straße Johannes nicht mehr anstarren, als sei er ein Alien. Sie ist zufrieden, wenn einige Menschen mehr ihre Angst vor behinderten Kindern und ihren Eltern verlieren.