chrismon: Viele Ehrenamtliche helfen Geflüchteten. Manche erleben Enttäuschungen. Kann man sich davor schützen?
Tim Kurth: Manche überfordern sich, indem sie denken: Ich bin gebildet, ich arbeite mich jetzt mal eben in die Sozialgesetzgebung ein. Besser ist, sich Partner zu suchen und eine Familie zu einer Beratungsstelle zu begleiten. Oder sich mit anderen Ehrenamtlichen auszutauschen. Viele Kommunen beschäftigen Ehrenamtskoordinatoren, die evangelische Kirche betreibt Ehrenamtsakademien. Dort kann man sich auch über Kontakte und bestimmte Themen informieren, wenn man nicht weiterkommt.
Tim Kurth
Claudia Keller
Ein Beispiel?
Ich möchte jemandem zu einem Studienplatz verhelfen. In Deutschland muss man dafür Zeugnisse vorlegen, und zwar papierne Originaldokumente. Liegen diese nicht vor, muss ein alternativer Weg gefunden werden. Dies kann zum Beispiel eine zweijährige Ausbildung sein, um einen deutschen Schulabschluss zu machen und dann später noch zu studieren.
Was sollte ich klären, bevor ich mich engagiere?
Es ist hilfreich, wenn ich mir bewusst mache, warum ich helfen möchte, was ich erreichen will und was ich erwarte. Unausgesprochenes kann leicht zu Konflikten führen. Zum Beispiel, wenn ich immer ehrgeizig war und mich mühsam in eine gehobene Position hochgearbeitet habe und treffe auf eine Familie aus einem ländlich-bäuerlichen Kriegsgebiet. Da gehen die Vorstellungen darüber, was beruflicher Erfolg ist, unter Umständen weit auseinander. Wenn die Familie meinen Vorstellungen nicht folgt, kann das frustrierend sein. Aber vielleicht ist sie sich gar nicht bewusst, dass sie etwas falsch macht, weil sie meine Idee von Aufstieg und beruflicher Erfüllung gar nicht kennt.
"Wieviel halte ich aus?"
Welche Rolle spielt die Erwartung von Dankbarkeit?
Die Frage ist vor allem: Wie drückt sich Dankbarkeit aus? Ist jemand dankbar, wenn sie sich freut, mich zu sehen? Oder erst, wenn sie beruflich erfolgreich ist? Oder zeigt sich Dankbarkeit erst dann, wenn jemand meine Werte, etwa mein Konzept von Familie, übernimmt? Halte ich es aus, wenn er oder sie einen Weg einschlägt, den ich für falsch halte? Deshalb ist der Austausch mit anderen Ehrenamtlichen so wertvoll. Vielleicht nehme ich etwas als Scheitern wahr, was eigentlich gut gelaufen ist.
Ein Beispiel?
Ein junger Mann hat die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, bricht sie ab und fängt an zu arbeiten. Es kann sein, dass der ehrenamtliche Helfer nun enttäuscht ist, die Situation vielleicht als eigenes Scheitern wahrnimmt, weil er ihm geholfen hat, den Ausbildungsplatz zu finden. Für den jungen Mann ist es aber gar kein Scheitern, weil er jetzt weiß, was es in Deutschland heißt, eine Ausbildung zu machen. Vielleicht hatte er sich das ganz anders vorgestellt. Jetzt hat er gemerkt, dass ihn das überfordert.
Wie sollte man damit umgehen?
Vielleicht sagt der junge Mann: Vielen Dank, dass du mir die Möglichkeit gegeben hast, diesen Weg auszuprobieren, und dass ich die Freiheit habe, trotzdem erst mal zu arbeiten. Wenn ich ihm dann Vorwürfe mache, bleiben Glück und Frust gegeneinander stehen. Man sollte offen darüber sprechen. Vielleicht hätte man auch vorher genauer schauen können, ob der Jugendliche eine Ausbildung schaffen kann. Wer einen Marathon laufen will, fängt ein Jahr vorher an zu trainieren. Junge Menschen, die eine Berufsausbildung machen möchten, fangen in Deutschland auch etwa ein Jahr vorher an, einen Lebenslauf zu erstellen, sich zu informieren.
Man möchte ja niemandem eine Chance verwehren.
Es ist gut, wenn man anderen viel zutraut, aber man sollte niemanden überfordern. Ich muss realistisch fragen: Wie schnell ist der oder die Jugendliche? Wie gut ist das Deutsch? Versteht er oder sie die Kontexte? Vielleicht ist erst noch ein Sprachkurs oder ein anderes Förderprogramm nötig. Gehen Sie ehrlich miteinander um!
"Erzählen Sie von sich!"
Wie soll ich mich verhalten, wenn ich als Flüchtlingshelferin erlebe, wie in einer Familie die Rechte von Frauen mit Füßen getreten werden?
Da müsste ich die Familie kennen, um das beurteilen zu können. Grundsätzlich kann ich raten: Erzählen Sie von sich selbst und zeigen Sie einen anderen Lebensentwurf auf. Aber Sie sollten nicht erwarten, dass Sie nach ein paar Wochen oder Monaten das familiäre Denken ändern, das womöglich über eine lange Zeit gesellschaftlich und in der Familie gewachsen ist. Wenn Sie darauf hoffen, ist die Enttäuschung eher groß.
Mache ich mich gemein mit Frauenunterdrückern, wenn ich zusehe, wie Frauen schlecht behandelt werden?
Nein, Sie haben ja eine klare Position und versuchen, sie weiterzugeben. Wenn für Sie die Gleichberechtigung von Frauen die Bedingung für Ihre Hilfe ist, sollten Sie das klar sagen. Vielleicht können Sie aber erst mal dafür sorgen, dass die Kommunikation mit den Behörden läuft, und dann benennen Sie die Frauenrechte und stellen den Kontakt zu einer Frauenberatungsstelle her. Man sollte jedenfalls immer überprüfen, mit welchen Vorstellungen und Wünschen man das Engagement beginnt und auch, ob man die Menschen vielleicht erdrückt mit der Hilfe.
Kann es manchmal besser sein, den Kontakt abzubrechen?
Dafür mag es manchmal nachvollziehbare Gründe geben. Aber es ist die härteste Form der Distanzierung und hinterlässt auf allen Seiten Frustration. Man sollte dann zumindest erklären, warum man das tut. Vielleicht gibt es eine andere Ehrenamtliche, die der Familie dann weiterhilft.