Schild in einem Fenster in der Siedlung Litterode mit der Aufschrift 'Rettet die Litterode'
Noch gibt es Menschen in Litterode, die für den Erhalt ihrer Heimat kämpfen
Privat / Isabel Winarsch / Leibniz Universität Hannover, Sommersemster 2025
Abriss oder Neubau?
Abriss mit dem Klimaschutz zu begründen, ist ein Skandal
Die Wohnsiedlung Litterode in Essen soll abgerissen werden, um an gleicher Stelle neuen und mehr Wohnraum zu schaffen. Stadtraumforscher Tim Rieniets kämpft dagegen an. Warum?
Tim Wegner
25.09.2025
6Min

Sie sind Professor am Institut für Städtebau der Universität Hannover und engagieren sich in Essen öffentlich für den Erhalt der Wohnsiedlung Litterode. Was genau ist da los?

Tim Rieniets: Da wird eine kleine Arbeitersiedlung, die in den 1930er Jahren gebaut worden ist, endgültig abgerissen. Ziel ist es, neuen Wohnraum zu schaffen. Aber immer noch harren 10 der ehemals 36 Haushalte aus, die sich weigern, ihr Heim und auch ihre Heimat zu verlassen. Inzwischen gibt es einen Rechtsstreit.

Wir alle reden davon, dass wir mehr Wohnungen brauchen: Statt der 36 Haushalte früher sollen dort einmal 72 leben können - mit mehr Grundfläche und moderner Ausstattung. Was ist daran falsch?

Es wäre durchaus in Ordnung, dort nachzuverdichten. Aber dafür müsste nicht abgerissen werden.

Sondern?

Die Wohnsiedlung ist ein Kind ihrer Zeit. Sehr kleine Häuser, sehr große Gärten. Da wäre genügend Platz, um an die alten Häuser anzubauen oder zusätzliche Wohngebäude zu errichten.

In den 1980er Jahren sollte die Siedlung schon einmal abgerissen werden.

Auch damals gab es große Gegenwehr. Die Siedlung hat eine lange Geschichte; viele Familien leben hier bereits in der zweiten und dritten Generation. Als 1980 der Abriss drohte, wurden die Häuser in viel Eigenarbeit und mit großem Gemeinschaftseinsatz grundrenoviert. Als jetzt die ersten Häuser abgerissen wurden, konnte man Dachstühle und Mauerwerk gut sehen. Alles ist in guter Verfassung und hätte ohne Weiteres saniert werden können.

Tim RienietsIsabel Winarsch für VolkswagenStiftung

Tim Rieniets

Tim Rieniets ist Professor am Institut für Städtebau der Leibniz Universität Hannover. Seine Lehr- und Forschungsinteressen gelten der sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung von Gebäuden und Stadträumen. Aktuell forscht er zur Reduktion von Treibhausgasemissionen im Siedlungsbau, zur Nachnutzung von leerstehenden Warenhäusern und zum Abrissgeschehen in Deutschland.

Allerdings gibt es dort auch Holz- und Kohleöfen - das ist nicht gerade klimafreundlich.

Die Häuser wurden nie ans Gasnetz angeschlossen, das in der Straße liegt. Nun könnte man eine Generation der Heiztechnik überspringen und gleich auf Wärmepumpen umsteigen. Was mich ärgert und weshalb ich mich für Litterode auch öffentlich so sehr engagiere: Warum gibt es nur das Entweder-oder? Warum gibt es nicht ein Sowohl-als-auch? Also eine Nachverdichtung und Schaffung von mehr Wohnraum unter Einbeziehung der alten Gebäude und der Menschen, die dort leben?

Die für den Abriss verantwortliche Baugesellschaft, die Allbau GmbH Essen, sagt, sie "stelle sich den Herausforderungen an eine nachhaltige Stadtteilentwicklungspolitik", der Abriss von Litterode sei "ein Gewinn von Lebensqualität" und biete die "Perspektive, einen breit gefächerten Wohnungsmix zu schaffen". Woher kommt diese völlig andere Sichtweise?

"Nachhaltigkeit" und "Attraktivität" sind sehr dehnbare Begriffe. Fragen Sie mal die Bewohner der Litterode, was die darunter verstehen! Für das Vorgehen der Wohnbaugesellschaft gibt aus meiner Sicht mehrere Gründe. Zum einen die komplexen und über Jahrzehnte etablierten Prozessabläufe in der Bauwirtschaft. Also die Art, wie finanziert und geplant und dann gebaut und vermarktet wird. Diese Prozesse sind primär auf den Neubau ausgerichtet und nicht auf den Umgang mit alter Bausubstanz. Insofern, glaube ich, dass es für so eine Wohnbaugesellschaft einfacher und mit weniger Risiken verbunden ist, so vorzugehen, wie sie das jetzt tut, anstatt sich auf einen so speziellen Fall einlassen zu müssen.

Abriss statt Modernisierung - weil die alten Häuser einfach nicht mehr gewollt sind?

Der zweite Grund?

Das nationale Klimaschutzgesetz verpflichtet den Gebäudesektor dazu, wie alle anderen Sektoren auch, bis 2045 klimaneutral zu werden. Um die Fortschritte kontrollieren zu können, werden für jedes Jahr die Treibhausgasemissionen ermittelt. Der Gebäudesektor hat seine jährlichen Ziele nun schon mehrfach verfehlt. Der eigentliche Skandal ist aber, dass dem Gebäudesektor nur die Treibhausgasemissionen zugerechnet werden, die innerhalb der Gebäude entstehen. Das betrifft vor allem die Öl- und Gasbrenner, die noch in vielen Heizkellern stehen.

Aber alle anderen Treibhausgasemissionen, die durch Abriss und Neubau entstehen, werden nicht dem Gebäudesektor zugerechnet, sondern der Industrie und der Abfallwirtschaft. Bei der Siedlung Litterode werden Abriss und Neubau genau damit begründet: Nur so könne man die Klimaschutzziele für den Gebäudesektor einhalten. Ob die Verantwortlichen das wirklich glauben, oder ob sie dieses Argument nur vorschieben, sei mal dahingestellt. Aber dass es überhaupt möglich ist, im Namen des Klimaschutzes solche Entscheidungen treffen zu können, finde ich nicht hinnehmbar.

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Wissen das die Menschen? Dass die Klimapolitik so "falsch" rechnet?

Rein rechnerisch ist am Klimaschutzgesetz nichts zu beanstanden. Doch die Art und Weise, wie es die Treibhausgasemissionen auf die Sektoren verteilt, macht keinen Sinn. Das ist ein falscher Anreiz, und es erschwert dringend notwendige Innovationen und Lerneffekte im Bausektor.

Zurück zur Litterode. Hier kommt noch mehr zusammen?

Leider gibt es von Seiten der Wohnbaugesellschaft eine sehr geringe Wertschätzung für das, was schon da ist. Und das ist nach meiner Einschätzung der dritte Grund für das Vorgehen, das wir in der Litterode und an vielen anderen Stellen in Deutschland erleben. Da wird behauptet, die Bausubstanz sei in schlechtem Zustand und eine Sanierung sei wirtschaftlich nicht vertretbar. Aber die Bewohner der Litterode sagten mir, dass niemand von der Wohnbaugesellschaft bei ihnen gewesen sei. Weder um die Bausubstanz zu prüfen, noch um die wirklich außergewöhnlich lebendige Community nach ihren Vorstellungen zu fragen. Da wäre so viel möglich gewesen.

Was zum Beispiel?

Die Kraft der Community aktivieren. So wie 1980, als alle selbst mit angepackt haben. Aber das wurde nicht in Betracht gezogen. Die Siedlung ist Heimat, die Menschen haben hier tiefe Wurzeln geschlagen und würden alles tun, um die Siedlung erhalten zu können. Als ich das erste Mal dorthin kam, war ich verdutzt über die Einfachheit der Straße und der Vorgärten, ohne Hecken, ohne Zäune. Später habe ich begriffen, dass die Leute sehr viel Zeit draußen verbringen, miteinander. Die stellen ihre Gartenstühle raus, die grillen miteinander, die Kinder spielen, es werden Straßenfeste organisiert. Die machen genau das, was in der Forschung zum nachhaltigen Wohnen schon lange gepredigt wird: Sie leben auf kleinen Grundrissen, verbringen viel Zeit auf gemeinschaftlich genutzten Flächen und praktizieren eine aktive Nachbarschaft.

Ideen für Umbau und Nachverdichtung gab es genug: hier ein studentischer Entwurf von Viviane Hilsenbek, Jannika Rehkopf, Sören Schneider und Lou Vogt aus dem Sommersemester 2025

Ich wohne in der Hafencity in Hamburg. Da gibt es bei jedem Projekt Innenhöfe und gerade wird mit viel Geld ein "Quartiersmanagement" aufgebaut. Damit eine lebendige Nachbarschaft entsteht. In Litterode gibt es das alles …

Das hätte man nutzen müssen. Das wäre nicht nur ökologisch, sondern auch sozial nachhaltiger gewesen. Denn die Gemeinschaft wird gerade zerstört und in alle Himmelsrichtungen verstreut.

Ein Argument für Abriss ist oft, dass gerade Häuser aus der Vorkriegszeit sich nicht gut vermarkten lassen: zu klein, starre Grundrisse, keine schicken Wohnküchen ...

Die Häuser sind recht klein. Die haben rund 70 Quadratmeter auf zwei Etagen, kleine Fenster, niedrige Kellerdecken, schlechten Schallschutz. Aber man könnte diese Häuser durch intelligente An- und Umbaumaßnahmen hervorragend an heutige Wohnstandards anpassen. Und die restlichen Nachteile, die sich nicht beheben lassen, die nimmt man gerne in Kauf, wenn man dafür so viel Geschichte und Gemeinschaft bekommt.

Aus meinem eigenen Ehrenamtsprojekt, der Genossenschaft Gröninger Hof in Hamburg, und auch durch Interviews hier in der Wohnlage weiß ich, wie viele Menschen mittlerweile Wohnungen suchen, die zwar wenig Privatfläche bieten, aber viele Gemeinschaftsflächen.

Um das zu sehen, muss man es sich vor Ort ansehen und mit den Leuten sprechen. Stattdessen dominiert bei vielen Verantwortlichen in der Wohnungswirtschaft eine sehr tief verwurzelte Vorstellung davon, was gute Architektur, was Wohnqualität und was Nachbarschaft ist. Und diese Vorstellungen beeinflussen in hohem Maße die Entscheidungen, obwohl man sich nach außen rational gibt und auf technische und wirtschaftliche Argumente verweist. Das gleiche Schicksal erlebt gerade die Litterode. Diese Häuser sind nicht mehr zeitgemäß und müssen verschwinden. Und zwar nicht nur aus fachlichen oder wirtschaftlichen Erwägungen, sondern auch – und davon bin ich fest überzeugt – weil man sie einfach nicht mehr haben will.

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Kolumne

Dorothea Heintze

Wohnen wollen wir alle. Bitte bezahlbar. Mit Familie, allein oder in größerer Gemeinschaft. Doch wo gibt es gute Beispiele, herausragende Architekturen, eine zukunftsorientierte Planung? Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß: Das eigene Wohnglück zu finden, ist gar nicht so einfach.