Das Klima und die Paragraphen
Kommt das Tempolimit per Gerichtsurteil?
Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat entschieden: Die Bundesregierung darf nicht nur behaupten, dass sie das Klima schützt. Es muss auch klar werden, wie und mit welchen Maßnahmen dies geschieht
Protest für ein Tempolimit 2022: Die Forderung nach Tempo 100 teilen viele Klimaaktivisten
Fritz Engel/laif
Tim Wegner
13.05.2024

Aktualisierung vom 17. Mai:

Am Donnerstag (16. Mai) ist in Berlin eine wichtige Entscheidung für den Klimaschutz gefallen. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat geurteilt: Die Bundesregierung darf nicht nur behaupten, dass sie das Klima schützt. Es muss auch klar werden, wie und mit welchen Maßnahmen dies geschieht. "Die Bundesregierung muss darauf achten, dass alle Maßnahmen des Klimaschutzprogramms prognostisch geeignet sind, die Klimaschutzziele zu erreichen und dabei die jährlichen Emissionsmengen einzuhalten", sagte die Vorsitzende Richterin Ariane Holle. Für die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist das eine herbe Niederlage. Es bleibt abzuwarten, ob sie Revision einlegt. 

Lesen Sie hier unseren Text vom Montag, als das Urteil noch ausstand und in dem wir die Hintergründe erläutern, besonders mit Blick auf eine schnell wirksame Maßnahme: das Tempolimit.

Der 11. Senat des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg hatte unter dem Vorsitz von Richterin Ariane Holle zu entscheiden, ob die Bundesregierung doch noch konkrete Klimaschutzmaßnahmen für den Verkehrs- und Gebäudesektor vorlegen muss. Geklagt hat die Deutsche Umwelthilfe. 

Zur Erinnerung: Die Bundesregierung hat mit ihrer Mehrheit im Bundestag beschlossen, die sogenannten Sektorenziele aufzuweichen. Bisher gilt: Verfehlte ein Sektor seine Klimaschutzziele, muss das zuständige Ministerium nachsteuern. Dazu ist es aber - abgesehen von vagen Auflistungen an Maßnahmen -  nicht gekommen. Und in Zukunft soll es nur noch ein sektorenübergreifendes Ziel geben, dann zählen die Einsparungen aller Sektoren zusammen. So wird nicht mehr auf den ersten Blick klar, welcher Bereich schlampig gemanagt wird. Das Gesetz ist vom Parlament beschlossen worden, in Kraft getreten ist es aber noch nicht. Am Freitag entscheidet der Bundesrat darüber.

Und genau deshalb kann der 16. Mai ein wichtiger Tag für den Klimaschutz werden: Die Deutsche Umwelthilfe setzt darauf, dass das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg nach aktuell geltender Gesetzeslage urteilt. Denn das weichgespülte Klimaschutzgesetz gilt ja noch nicht.

Bei diesem Thema gibt es einen Elefanten im Raum, der da heißt: Volker Wissing, FDP. Denn während in Deutschland andere Sektoren durchaus etwas zur Emissionsminderung beigetragen haben und der Ausstoß an Kohlendioxid seit 1990 um 40 Prozent gesunken ist, passiert im Verkehrsbereich: viel zu wenig. 

Zahlen des Umweltbundesamtes belegen: Im vergangenen Jahr war der Verkehrssektor für rund 146 Millionen Tonnen Treibhausgase (*berechnet als CO2-Äquivalente; was genau das ist, erkläre ich am Ende dieser Kolumne) verantwortlich und trug damit mehr als ein Fünftel (22 Prozent) zu den Treibhausgasemissionen Deutschlands bei. Das sind nur knapp elf Prozent weniger als 1990.

Und wenig deutet darauf hin, dass der Verkehrssektor auf einem guten Weg ist, die Klimaschutzziele in Zukunft zu erreichen. Die wiederum sind nicht gewürfelt, sondern richten sich nach dem Pariser Klimaschutzabkommen. Dieses - völkerrechtlich verbindliche - Vertragswerk hat zum Ziel, die menschgemachte Erderwärmung auf ein halbwegs verträgliches Maß zu begrenzen, ohne Kipppunkte zu triggern, die das Klima (und damit uns Menschen) ins Chaos stürzen können

Bis 2045 muss Deutschland klimaneutral werden. Das gilt auch für den Verkehrssektor. Zudem ist Deutschland auch europäische Verpflichtungen eingegangen. Sie sehen vor, dass Deutschland bis 2030 seine Emissionen im Verkehrsbereich um 50 Prozent senken muss. Um die Hälfe also, das Referenzjahr ist 2005. Bis dahin bleiben keine sieben Jahre mehr, es drohen empfindliche Strafen!

Es sieht nicht danach aus, als würde Wissing seine Hausaufgaben machen. Denn Deutschland steuert für das Jahr 2030 auf einen verkehrsbedingten Ausstoß von 111 Millionen Tonnen an CO2⁠-Äquivalenten zu. Erlaubt sind 2030 aber nur noch 82 Millionen Tonnen. Eine Lücke von 29 Millionen Tonnen. Hinzu kommt der Klimadreck, der im Verkehrssektor bis 2030 überschüssig anfällt, weil die Ziele bis dahin Jahr für Jahr verfehlt werden. Die Zahl, die man sich merken muss, beträgt zusammengerechnet: 

180 Millionen Tonnen an CO2⁠-Äquivalenten. 

Das ist die Menge an Klimagasen, die der Verkehrssektor über die gesetzlichen Ziele hinaus bis 2030 freisetzen wird. Eine gewaltige Lücke. Und nochmal: Es geht um Recht und Gesetz. Nicht um Goodwill. 

Das Klimaschutzgesetz, das die Große Koalition unter Angela Merkel beschlossen hat, hätte Bundesverkehrsminister Volker Wissing gezwungen, mit Sofortmaßnahmen gegen diese Lücke zu kämpfen. Menschen, die viel Erfahrung mit solchen Klagen haben, rechnen damit, dass der 11. Senat die Bundesregierung am Donnerstag verurteilt. Es wäre eine Blamage, denn alle könnten sehen: SPD, Grüne und FDP halten sich nicht an das Gesetz, sondern passen die Gesetze lieber so an, dass sie zu ihrem klimapolitischen Versagen passen.

Viel mehr darf man sich vom Donnerstag allerdings nicht erwarten. Es wird nicht so sein, dass die Richterin die Bundesregierung verurteilt, sofort das Dienstwagenprivileg zu reformieren oder alle klimaschädlichen Subventionen zu streichen. Wohl aber könnte der Tenor des Urteils lauten: Verkehrsminister Volker Wissing muss doch noch – was er bisher verweigert hat – einen Plan vorlegen, wie er die Emissionslücke schließen will. Und am besten macht man das mit Maßnahmen, die sofort etwas bringen. Und dann steht ein weiterer Elefant im Raum: das Tempolimit (das übrigens sogar eine Mehrheit der ADAC-Mitglieder befürwortet, jedenfalls auf Autobahnen).

Was bringt ein Tempolimit dem Klima? 

Was bringt es klimapolitisch? Die Klägerin in dieser Sache, die Deutsche Umwelthilfe, gibt an, dass ein Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen, 80 km/h außerorts und 30 km/h in der Stadt (was viele Städte fordern!) pro Jahr über elf Millionen Tonnen an CO2⁠-Äquivalenten spart. Das Umweltbundesamt hat verschiedene Szenarien berechnet und dabei auch die Erkenntnis berücksichtigt, dass der Verkehr flüssiger läuft, wenn alle Reisenden in etwa gleich schnell unterwegs sind. 

Das Ergebnis: Ein Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen könnte die Treibhausgasmissionen des deutschen Straßenverkehrs um rund 6,7 Millionen Tonnen ⁠CO2⁠-Äquivalente pro Jahr reduzieren. Mit zusätzlich Tempo 80 auf Außerortsstraßen wäre insgesamt eine Minderung von bis zu rund acht Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten pro Jahr möglich. Weil die Deutsche Umwelthilfe auch innerorts von einem Limit von 30 km/h ausgeht, erscheint ihr ermitteltes Einsparpotential von mehr als elf Millionen Tonnen an CO2⁠-Äquivalenten durchaus als plausibel. 

Gelegentlich wenden Kritiker ein, ein Tempolimit bringe dem Klima nichts. Aber wenn der Verkehrssektor auf eine Lücke von 180 Millionen Tonnen an CO2⁠-Äquivalenten bis 2030 zusteuert, sind elf Millionen Tonne eine ganze Menge. Nämlich sechs Prozent davon. Und zwar jedes Jahr, der Einspareffekt summiert sich auf: 2025 wären es elf, dann 22, dann 33, im Jahr 2028 schon 44 und bis 2030 55 Millionen Tonnen an CO2⁠-Äquivalenten, die sich ohne Aufwand und Kosten einsparen lassen. 

Man kann es auch noch einmal anders veranschaulichen: Im vergangenen Jahr war der Verkehrssektor für rund 146 Millionen Tonnen Treibhausgase verantwortlich. 7,5 Prozent davon hätten sich mit Geschwindigkeitsobergrenzen einsparen lassen. Sofort!

In welchem Lebensbereich würde man eine Lösung ignorieren, die ein Problem sofort um sechs beziehungsweise 7,5 Prozent kleiner macht? 

Ob eine Debatte über das Thema in Gang kommt, wird der Donnerstag zeigen. Wird die Bundesregierung verurteilt, wird sie Rechtsmittel einlegen. Das verzögert das Verfahren. Vielleicht sieht man sich vor dem Bundesverwaltungsgericht wieder, das den Fall zurück zum Oberverwaltungsgericht gibt. Das muss dann auf der Basis des von der „Ampel“ geschliffenen Klimaschutzgesetzes urteilen. 

Und über all dem schwebt die Frage, ob das überarbeitete Klimaschutzgesetz überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Daran bestehen Zweifel. Denn das Verfassungsgericht machte bereits vor Jahren deutlich: Die Politik darf nicht alle schmerzhaften Entscheidungen den Menschen aufbürden, die heute noch jung oder noch gar nicht geboren sind.

Am Ende werden es also Richterinnen und Richter sein, die Entscheidungen von großer Tragweite treffen – weil die Politik dafür offenkundig zu feige ist. 

*Was sind CO2-Äquivalente?

Treibhausgase halten Wärme in der Erdatmosphäre. Die natürlich vorkommenden Treibhausgase ermöglichen dadurch überhaupt erst ein Leben auf der Erde, an deren Oberfläche ohne die schützende Atmosphäre Temperaturen um die -18°C herrschen würden. Das wohl bekannteste Treibhausgas ist Kohlenstoffdioxid (CO2). Weitere wichtige Treibhausgase sind Wasserdampf, Methan und Lachgas. Vor allem weil die Menschheit Kohle, Öl und Gas verbrannt hat, sind mehr Treibhausgase in der Luft. Es wird wärmer. Das Klima verändert sich. 

Um den Effekt verschiedener Treibhausgase auf die Temperatur an der Erdoberfläche zu vergleichen, benutzt man das Konzept der „CO2-Äquivalente“. Dabei wird die Menge eines Treibhausgases in die entsprechende Menge CO2 umgerechnet, die über einen gegebenen Zeitraum dieselbe Erwärmung bewirkt. Das Ergebnis wird als CO2-Äquivalent angegeben. So macht man unterschiedliche Klimagase miteinander vergleichbar.