Das ehemalige Bürogebäude der Telekom an der Inneren Kanalstraße in Köln wird jetzt zu Kleinwohnungen umgebaut.
Julia Siedle
Wirklich zu nix mehr nutze?
Jedes Gebäude kann etwas anderes
Sie stehen leer: Kaufhäuser, Bürogebäude, Kirchen oder Tankstellen in unseren Städten. Höchste Zeit, eine Wiederbelebungs-Strategie zu entwickeln. Anamarija Batista und Julia Siedle tun genau das
Tim Wegner
23.05.2024
4Min

Julia Siedle und Anamarija Batista sind Stadtforscherinnen. Anamarija arbeitet als Forscherin, Lehrende und Kuratorin in Bereichen Architekturtheorie, politische Ökonomie und Kulturwissenschaften. Julia ist Professorin für Wohnungsbau-, Quartiers- und Bestandsentwicklung an der Hochschule in Biberach. Mit beiden sprach ich über ihr neues Buch, das im Herbst erscheint - und über Tankstellen, die zu Galerien werden können... zum Beispiel

Julia und Anamarija, Ihr forscht über die „Obsolete Stadt“. Obsolet heißt in diesem Zusammenhang, bestimmte Gebäude werden nicht mehr gebraucht. Wir könnten sie doch einfach abreißen? 

Auf keinen Fall. Abriss ist eine schlechte, klimaunverträgliche Lösung. Besser ist die Um- und Weiternutzung. 

Für welche Gebäudtypen gilt das? 

Einzelhandelsimmobilien wie Kaufhäuser, Ladenlokale, Einkaufszentren, Bürogebäude in bestimmten Lagen, KfZ-Infrastrukturen wie Parkhäuser und Tankstellen, aber auch Kirchen, Gemeindehäuser, Krankenhäuser und andere. Das alles sind Immobilien, die wichtige Ressourcen sein können, um neue Raumbedarfe innerhalb der Städte aufzunehmen, allen voran das Wohnen. Aus ökologischer und sozialer Perspektive ist es eigentlich ein No-Brainer, also eine absolute Selbstverständlichkeit, die Transformation dieser Immobilien strategisch anzugehen und nicht dem Markt zu überlassen.

Es geht in Eurem Buch um relativ junge Gebäude aus der Nachkriegszeit. Die sind ja nicht wirklich alt. Waren die schon immer als „Wegwerfarchitektur“ geplant, wie es der Architekturkriker Vittorio Magnano Lampugnani neulich in der Wohnlage beschrieben hat?  

Das 20. Jahrhundert war geprägt von der Idee, dass das gute Leben durch Massenkonsum erreicht werden kann. Viele Menschen lebten nun in der Stadt. Sie kamen, um Schulen zu besuchen und Arbeit zu finden. Das Auto machte die Menschen mobil. Für die soziale Marktwirtschaft waren neben Arbeits- auch Freizeitinfrastrukturen wichtig. Um diese Ziele schnell zu erreichen, entstanden viele der heute obsolet werdenden Gebäudetypen. Bauprozesse wurden standardisiert, gleichzeitig verringerte sich die Lebenserwartung eines Gebäudes. Man könnte, ähnlich wie in Bezug auf andere Konsumgüter, von einer geplanten Obsoleszenz, also einem "geplanten Verschleiß", sprechen.

Für Eure neue Forschungsarbeit habt ihr verschiedene Gebäudetypologien definiert. Warum braucht es so eine Typologisierung?

Verschiedene Gebäudetypen „können“ unterschiedliche Dinge. Die typologische Betrachtung erlaubt eine Art „Fast Track“, um sowohl auf stadtplanerischer als auch auf Gebäudeebene Nachnutzungsmöglichkeiten auszuloten und mit Hürden umzugehen – das Rad muss nicht jedes Mal neu erfunden werden, wenngleich lokale Bedarfe im Einzelfall unterschiedlich sind. So lassen sich z.B. obsolete Bürogebäude aus den 1950er und 60er Jahren  gut in Mikroapartments umnutzen, die sich entlang eines zentralen Flurs aufreihen und nur in eine Himmelsrichtung orientiert sind. Bei größeren Wohneinheiten wird es dann kniffliger bzw. es werden tiefere Eingriffe erforderlich. Es stellt sich hier außerdem die Frage nach der Nutzung der Erdgeschosse. Wir sehen, dass gemeinschaftliche Nutzungen häufig nicht realisiert werden, weil alle Räume aus wirtschaftlichen Gründen so effizient wie möglich verplant werden. 

Und das hilft den Kommunen dann genau wobei?

Kommunen brauchen einen strategischen Umgang mit dem Bestand: um sich an neue, sich verändernde Raumbedarfe anpassen zu können, um Marktmechanismen, die zur sozialer Ungleichheit führen, zu korrigieren, und um die Stadt als Lebensraum im ökologischen Sinne überhaupt zu erhalten. Der typologische Blick ermöglicht es, urbane Nutzungsstrukturen zu steuern und dabei einzelne Gebäude entlang ihrer „Fähigkeiten“ weiter zu entwickeln, graue Energie zu bewahren und gleichzeitig sorgsam mit der Ressource Boden umzugehen. Die Frage lautet: Was ist wo möglich und sinnvoll? 

Kaufhaus Galeria Kaufhof in Stuttgart am Eingang der Innenstadt in der Eberhardstraße. Sehr gute Lage, solide Bausubstanz, geschlossene Fassade. Die Stadt hat ihr Vorkaufsrecht ausgeübt und kann die Entwicklung der Immobilie nach der Schließung im Januar 2024 steuern

Gerade gibt es durch die Benko-Pleite viele leerstehende Kaufhäuser. Sind Kaufhäuser eine besondere Herausforderung für Nach- und Umnutzung?

Eigentlich sind Kaufhäuser recht vielfältig umzunutzen, gerne gemischt. Kaufhäuser befinden sich in guten Lagen, die Bausubstanz ist meist hochwertig. Baulich gelöst werden müssen Fragen der Belichtung und Belüftung der sehr tiefen Grundrisse und der Umgang mit den häufig geschlossenen Fassaden. Das lässt sich aber machen – wenn man Höfe ins Gebäude einschneidet, kann man in einem ehemaligen Kaufhaus sogar wohnen. Hier ist die Herausforderung in der Tat mehr die Spekulation, die wegen der hohen Bodenpreise durch René Benko und andere betrieben wurde. Hier müssen lokale Finanzierungsmodelle gefunden werden, um die Gebäude trotz der extrem hohen Buchwerte gemeinwohlorientiert umnutzen zu können.

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Ich helfe ja dabei mit, in Hamburg ein altes Parkhaus umzuwandeln – bei Euch habe ich auch gelesen, dass Ihr Tankstellen betrachtet habt.  Da fehlt mir die Fantasie, was man mit einer alten Tankstelle machen könnte. Habt Ihr Beispiele ?

Tankstellen zeichnen sich ganz wesentlich dadurch aus, dass sie gut erschlossen und im Stadtraum sehr gut sichtbar sind. Jeder kennt die Tanke an der Ecke. Und sie haben einen großen überdachten Außenbereich. So eignen sie sich zum einen für öffentliche Nutzungen, z.B. Kultur- oder Begegnungsorte. In Berlin wurde zum Beispiel eine Tankstelle in „Das kleine Grosz-Museum“ umgebaut. Die gute Erreichbarkeit macht sie aber auch zu attraktiven Standorten für neue Mobilitätsformen und auch Logistik, Stichwort letzte Meile. Für beides werden viele kleine, dezentrale Hubs in den Quartieren gebraucht. Nicht zuletzt ergeben sich häufig Entsiegelungspotentiale – ein Riesenthema in Zeiten der Klimaerhitzung.

Shell-Tankstelle an der Venloer Straße in Köln Ehrenfeld. Die Tankstelle liegt prominent direkt am Eingang zum Quartier und hat eine hohe stadträumliche Präsenz

Welche Rolle spielt das Gemeinwohl in all Euren Überlegungen?

Die Frage des Gemeinwohls ist zentral. In unserem „Gemeinwohlkompass“ (Link zur Seite: https://obsolete-stadt.net/forschung/) haben wir drei Dimensionen der gemeinwohlorientierten Transformation identifiziert: Stadtökologie, Ko-Produktion und Verteilungsgerechtigkeit, Eigenart. Er soll nicht nur das Gemeinwohl als Leitbild postulieren, sondern anhand von 12 Fragen dabei helfen, Räume und Formate zu kreieren, die den beteiligten Akteur*innen die Möglichkeit bieten, ganz konkret und auf Augenhöhe darüber zu verhandeln, welche lokalen Bedarfe existieren und wie sie realisiert werden können. 

 

Was brauchen die Städte jetzt?

Städte tun gut daran, sich einen Überblick über obsolete und Obsoleszenz-gefährdete Immobilien zu verschaffen, um strategisch mit ihnen umgehen zu können. Wir plädieren daher u.a. für eine Art kommunales Obsoleszenz-Kataster. Allerdings sind die obsoleten Immobilien, von denen wir sprechen, oft in privater Hand. Städte brauchen Handhabe über Grund und Boden, um überhaupt im Sinne einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Stadtplanung aktiv werden zu können. Die Frage der Bodenpolitik ist komplex, und das Instrumentarium im Baugesetzbuch stammt in großen Teilen aus einer Zeit, als die planerischen Probleme ganz andere waren als heute. Die Themen Innenentwicklung und Transformation von Bestandsgebäuden sind hier noch nicht ausreichend abgebildet – ein Update ist erforderlich.

Hörtipp: Anamarija lebt und arbeitet in Wien, der Stadt, über die ich hier schon öfter geschrieben habe. Und just in dieser Woche hörte ich in meiner Lieblingsradiosendung "Zeitzeichen" eine Folge über das "Rote Wien". Damals gab es eine Wohnsteuer! Und heute immer noch preiswerte Gemeindewohnungen. 

Kolumne

Dorothea Heintze

Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß aus eigener Erfahrung: Das eigene Wohnglück finden ist gar nicht so einfach. Dabei gibt es tolle, neue Modelle. Aber viele kennen die nicht. Und die Politik hinkt der Entwicklung sowieso hinterher. Über all das schreibt sie hier.