Alles fing vor einigen Tagen mit einem gestohlenen Lastwagen an, mit dem ein Angehöriger der drusischen Minderheit Gemüse transportierte. Daraus entstand ein Konflikt in der Region um die Stadt Suweida. Mittlerweile sind Hunderte Menschen tot, sie wurden auf teils grausame Weise ermordet. Was sind die Ursachen für diesen Konflikt?
Tareq Alaows: Die jetzige Situation hat machtpolitische, aber auch religiöse Gründe. Es fing vordergründig tatsächlich mit einem gestohlenen Lastwagen an. Und das erweckt bei vielen Beobachtern den Eindruck, als habe sich der Konflikt daraufhin erst hochgeschaukelt, als ein Streit zwischen zwei Gruppen, hier die Drusen – der Fahrer des Lasters war ein Druse – und dort die Beduinen, weil Angehörige eines Beduinenstammes muslimischen Glaubens den Laster überfallen haben sollen.
Tareq Alaows
Sie sehen das offenbar anders?
Ja, die Übergangsregierung in Damaskus unter der Führung von Ahmed al-Scharaa – sein früherer Kampfname war Abu Mohammed al-Dschulani, er gehörte dem Terrornetzwerk Al Kaida an – stellt die Geschehnisse in der Region als lokalen Konflikt dar, aber sein Regime ist selbst beteiligt an den Massakern im Süden Syriens. Damit hat es jede Chance verspielt, Syrien zu vereinen und eine vertrauenswürdige Regierung aufzubauen. Das Ereignis mit dem Gemüselastwagen war ein Vorwand, um Drusen anzugreifen – mit dem Ziel, wie die Dschihadisten sagen, "diese religiöse Minderheit auszulöschen". Genau dazu rufen regierungsnahe Gruppen in sozialen Medien auf. Dschihadisten aus allen möglichen Regionen Syriens folgten diesen Aufrufen und kamen nach Suweida. Viele von ihnen tragen Symbole der Terrormiliz "Islamischer Staat" auf ihren Uniformen. Sie töteten Drusen, weil sie Drusen sind.
Sie leben in Deutschland, auf welche Quellen in Syrien können Sie sich verlassen, die diese Verbrechen belegen?
Ich bin im ständigen Kontakt mit Verwandten, Freundinnen und Freunden und anderen Menschen, die in der Region leben und auch von den Angriffen betroffen sind. Ich bekomme Bilder, Videos, Berichte und Hilferufe über die Situation in der Region.
Wie bewerten Sie das, was mit den Drusen in Syrien geschieht?
Ich kann es nicht anders deuten, als dass die Übergangsregierung ein dauerhaftes Regime errichten möchte. Dass es so weit gekommen ist, liegt auch daran, dass die Massaker an den Alawiten im März an der Westküste Syriens weder aufgearbeitet worden sind noch Strafen nach sich gezogen haben. Bereits damals mahnten Menschenrechtsaktivisten in Syrien an, dass die Minderheiten im Land geschützt werden müssen. Im März gestand die Übergangsregierung sogar ein, beim Schutz der Alawiten versagt zu haben und dass dschihadistische Gruppen für die Gräueltaten verantwortlich gewesen seien. Es folgte im Mai ein weiteres Massaker in der Nähe von Damaskus, diesmal an Drusen. Über 150 Menschen wurden in drei Städten ermordet. Wieder hieß es, man sei leider nicht in der Lage gewesen, diese Menschen zu schützen.
Wie argumentiert die Übergangsregierung nun mit Blick auf die Lage im Süden Syriens?
Die Waffen sprechen eine deutliche Sprache. Es gab auch Panzereinsätze. Solche Waffen hat in Syrien nur die Übergangsregierung. Das ist für mich der klare Beweis, dass die Regierung beteiligt ist. Die Übergangsregierung hat ihre Rolle aufgegeben, Syrien in eine Demokratie zu überführen und Wahlen zu ermöglichen. Es ist ein Regime, das seine Macht dauerhaft erhalten will.
Wer sind die Drusen?
Vor über 1000 Jahren spaltete sich eine Gruppe vom Islam ab. Das waren die Drusen. Es entstand eine ethnoreligiöse Gruppe, die im Nahen Osten lebt. Angehöriger dieser Gruppe wird man durch Geburt, man kann nicht konvertieren. In Syrien leben rund 600.000 Drusen, die meisten davon in Suweida im Süden des Landes. Es gibt auch im Libanon Drusen, eine kleine Gruppe lebt in Jordanien. Auch in Israel gibt es Drusen, viele haben die israelische Staatsangehörigkeit. Weil sie sich vom Islam abgespalten hatten, wurden die Drusen in den vergangenen 1000 Jahren immer wieder verfolgt.
Woher kommt der Hass auf Drusen?
Er entspringt dschihadistischen Ideologien. Aber nicht alle Muslime sind Drusen gegenüber feindlich eingestellt – das möchte ich hier klarmachen. Aber eine spezielle dschihadistische Ausrichtung im Islam argumentiert, dass man Drusen töten müsse, weil sie sich vom Islam abgespalten haben. Christen gelten Dschihadisten als "Ungläubige", Drusen als "Abgespaltene". Ungläubige solle man bekehren, Abgespaltene mit dem Tod bestrafen.
Auch die Christen sind eine kleine Minderheit in Syrien. Im Juni kam es in einer orthodoxen Kirche in Damaskus zu einem Selbstmordanschlag, die Übergangsregierung bezichtigte die Terrormiliz IS des Anschlags. Sind Christen sicher in Syrien?
Der Anschlag ereignete sich in der Nähe meiner früheren Wohnung. Es zeichnet sich gerade ab, dass auch Christen gefährdet sind. Es gibt keine Minderheit in Syrien, die geschützt ist. Auch in Suweida leben Christen. Eine Kirche dort wurde niedergebrannt.
Leben Drusen und Christen friedlich zusammen?
Ja. Viele Angehörige von Minderheiten in Syrien leben in den Bergen. Alawiten leben in den Bergen an der Küste. Drusen leben in Bergen im Süden des Landes. Und Kurden in den Bergen im Norden. Das hat Gründe: Denn diese Minderheiten wussten immer, dass sie verfolgt werden könnten und die Berge sie schützen. Wichtig ist: Die jetzige Bedrohung geht nicht pauschal von den Sunniten aus, erst recht nicht von liberalen Sunniten. Die Gefahr geht von Dschihadisten aus. Sie kämpften für den IS und halten sich noch immer in Syrien auf. Dazu gehören auch ausländische Söldner, die Abu Mohammed al-Dschulani zur Macht verholfen haben. Es gibt Berichte, wonach es 250.000 bewaffnete Männer gibt, die in Richtung Suweida mobilisiert wurden.
"Es fühlt sich an, als würde man auf einem Pulverfass sitzen, das sofort wieder explodieren kann."
Tareq Alaows
Wie ist die Situation in der Region um Suweida derzeit? In deutschen Medien ist von einer Waffenruhe die Rede.
Ich bin in Kontakt mit Menschen vor Ort, die dokumentieren, was geschehen ist. Die Angriffe der Dschihadisten haben abgenommen. Aber alle sagen: Es fühlt sich an, als würde man auf einem Pulverfass sitzen, das sofort wieder explodieren kann. Es dauerte nach der Hetze in sozialen Netzwerken weniger als zwölf Stunden, ehe islamistische Gruppen in Suweida waren und Menschen massakrierten. Diese Gruppen sind nicht verschwunden, sie sind in der Nähe und stehen unter dem Schutz der Übergangsregierung. Aus sicheren Quellen in Syrien weiß ich, dass Kräfte der Übergangsregierung ihre Uniformen ablegten und mit den Dschihadisten Richtung Suweida fuhren. Dafür gibt es Beweise.
Die israelischen Luftstreitkräfte haben syrische Truppen angegriffen. Wie erklären Sie sich diese Intervention?
Ein Teil unserer Familie lebt in Suweida, der andere in den Golanhöhen und hat die israelische Staatsangehörigkeit. Angehörige der israelischen Armee erfuhren, dass ihre Cousinen und Cousins verfolgt und getötet wurden. Das spielt in Israel eine Rolle. Eines ist mir wichtig: Ich bin gegen Angriffe auf die Souveränität anderer Staaten und sicher bin ich nicht für die Spaltung Syriens. Und ich rede hier nur über die Intervention gegen die Dschihadisten im Süden Syriens. Es geht nicht um die Souveränität Syriens, sondern um den Schutz einer Minderheit, der weltweit nur eine Million Menschen angehören. Ohne die israelischen Angriffe wären die Drusen in ihrer Existenz bedroht gewesen, weil sie sich nicht allein gegen Drohnen und Panzer wehren können.
Macht die Unterstützung Israels die Drusen erst recht zum Angriffsziel für Dschihadisten?
Dschihadisten hetzen schon immer gegen die Drusen, mit oder ohne Vorwand. Klar ist aber: Wenn Menschen die Wahl haben zwischen einer israelischen Intervention oder aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit ermordet zu werden, ist doch der normale Instinkt: Schützt uns bitte!
Am Wochenende verbreiteten Sie auf Instagram einen flehentlichen Appell, die Drusen nicht alleinzulassen und hinzusehen. Fällt uns in Deutschland das Ihrer Ansicht nach schwer?
Ja, und das hat mehrere Gründe. Die Übergangsregierung betreibt eine Propagandamaschinerie. Viele deutsche Medien haben die Botschaften übernommen, wonach die Regierung Minderheiten schützen wolle. Ein weiteres Problem ist, dass die Region um Suweida ohne Strom und Internet ist. Dadurch drangen in den ersten Tagen keine Bilder nach außen, die zeigen, was geschieht. Hinzu kommt: Ich bin überzeugt, dass eine Mehrheit in der deutschen Politik die Übergangsregierung legitimieren möchte, um Menschen nach Syrien abschieben zu können. Die Bundesregierung tut sich schwer damit, zu erkennen, dass Ahmed al-Scharaa ein Verbrecher ist, der die Maske gerade fallenlässt. Syrien ist kein stabiles, sicheres Land, erst recht nicht für Minderheiten. Wir fordern die Einrichtung einer unabhängigen internationalen Kommission, die ermittelt, was in den vergangenen Wochen geschehen ist.
Nach dem Sturz des Assad-Regimes forderten viele deutsche Politikerinnen und Politiker sofort, syrische Geflüchtete mögen zurückkehren. Was ist angesichts der aktuellen Entwicklungen von solchen Forderungen zu halten?
Manche Politiker leiden unter Realitätsverlust. Das Land ist ein Pulverfass. Es gibt sehr viele Minderheiten in Syrien, keine davon hat in der Übergangsregierung eine Stimme. Und es gibt in Syrien keinen Platz für eine Opposition. Auch wenn Sunniten gegen den Angriff auf die Drusen demonstrieren, begeben sie sich in Gefahr. Man muss erst für Sicherheit und Stabilität und für Demokratiebildung in Syrien sorgen, ehe man daran denken kann, dass Menschen zurückkehren.
In Deutschland leben viele Menschen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind, darunter sind auch Muslime. Wie können wir über die Ereignisse in Syrien und das, was den Drusen widerfährt, sprechen, ohne sie alle unter Generalverdacht zu stellen und die Islamfeindlichkeit anzuheizen?
Indem wir differenzieren und die ganze Geschichte erzählen. Es gab Solidaritätsbekundungen für die Drusen in Deutschland. Daran haben sich auch sunnitische Menschen beteiligt. Auf der anderen Seite – und das darf man nicht verschweigen – gibt es in Europa und Deutschland Hass und Hetze gegenüber Drusen. Das muss man ansprechen, ohne einen Generalverdacht zu schüren. Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland möchte in Frieden leben und Minderheiten schützen. Ich bekomme viele Nachrichten von Muslimen, die mir aufrichtig kondolierten, weil auch Verwandte von mir ermordet worden sind.