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Seit ich hier über Wohnpolitik schreibe und spätestens, nachdem ich die Wiener Stadtplanerin Eva Kail zu Gast in einer Talkrunde hatte, wollte ich nach Wien.
Weltweit gilt Wien als Vorbild für einen trotz aller Krisen recht stabilen sozialen Wohnungsbau. Die Geschichte vom Wiener Gemeindebau reicht über 100 Jahre zurück. Überall stehen Wohnhäuser mit dem stolzen Hinweis: Erbaut von der Stadt Wien! Auch in der Zukunft will Wien Vorbild sein für den sozialen Wohnungsbau. Ein Paradebeispiel dafür liegt an der Ostgrenze vom 22. Bezirk, in "Transdanubien" wie sie hier sagen: Die Seestadt Aspern.
Letzte Woche war ich da, ein schöner Zwischenstopp im Österreich-Urlaub mit dem Gatten und eine interessante Ergänzung zum Besuch der historischen Wiener Innenstadtbezirke.
30 Minuten dauert die Fahrt mit der U-Bahn, über die Donau ins ländliche Umland. Früher lag hier Wiens Stadtflughafen Aspern. Heute entsteht eine komplett neue kleine Stadt für über 25 000 Bewohner*innen und über 20 000 Arbeitsplätze. Es gibt Schulen, Geschäfte, Sportstädten, zwei U-Bahnstationen und mittendrin ein künstlicher See mit Strand und Seegrasbepflanzung am Ufer.
Wir verlassen die U-Bahn eine Station vor der Seestadt und radeln los, vorbei an Einfamilienhäusern und Feldern, auf denen gerade Zwiebeln trocknen. Am Horizont sehen wir die Silhouetten vieler hoher Neubauten und plötzlich sind wir mittendrin. Mein erster Eindruck? Eine Enttäuschung.
Das soll die fantastische Seestadt sein, von der ich schon so viele bunte Bilder und Filmchen auf Youtube gesehen habe? Mh…
Wie gut, dass wir nicht lange alleine sind. Marvin Mitterwallner vom Besucherservice ist gekommen. Auf geht’s. Marvin flott voran mit seinem e-Roller, wir auf den Rädern hinterher. Wir fahren kreuz und quer durch das "Pionierquartier", das älteste Viertel der Seestadt, mittlerweile schon fast ganz fertig. Wir halten an, Marvin erklärt. Zu viel Beton? Zu wenig Grün? Ja, klar sagt der Stadtplaner, da gebe es viel Verbesserungsbedarf. Schon seit über zehn Jahren arbeitet Marvin bei der für die Seestadt gegründeten Entwicklungsgesellschaft "Wien3420 aspern Development AG". Die ersten Planungen reichen Jahrzehnte zurück, und damals sei man stolz gewesen über so fortschrittliche Dinge wie Fahrradstreifen, reduzierte Parkplatzangebote und vor allem anderen: So viele unterschiedliche Hausprojekte.
Wir radeln weiter und entdecken die unterschiedlichsten Häuser mit ebenso unterschiedlichen Grundrissen. Immer wieder stellt uns Marvin die Frage: "Na, was meint ihr - frei finanziert oder gefördert?" Er freut sich sichtlich, wenn wir angesichts eines Innenhof-Swimming-Pools für die Bewohnerschaft auf "frei finanziertes Eigentum" tippen. Nein, auch gefördert. Anders als viele andere Kommunen hat Wien seinen städtischen Grund und Boden nie in großem Rahmen versilbert und kann so immer noch sehr intensiv als öffentliche Hand mitgestalten. Über 50 Prozent aller Wienerinnen und Wiener bewohnen heute eine geförderte Wohnung, Socialhousing Wien heißt die Webseite dazu. Kein Wunder, dass Wien zu den beliebtesten Wohnstädten der Welt zählt.
Trotz aller schönen Hausprojekte, einiger kleiner Geschäfte und Cafés entlang der Hauptstraße wirkt das Pionierviertel weiter erstaunlich leblos. Und das liegt vor allem an dem fehlenden Grün. Wir entdecken ein Plakat:
Die Initiative SeeStadtgrün gibt es schon länger. Nach meiner Rückkehr telefoniere ich mit der Organisatorin Katarina Rimanóczy. Katarina lebt mit Mann und zwei Kindern von Anfang an, also seit 2014, in der Seestadt im Pionierquartier. Eigentlich gerne - doch das fehlende Grün in ihrem Umfeld setzt ihr zu. Seit Jahren streiten sie und die anderen über 100 Mitglieder des Vereins vor allem mit Ämtern der Stadt Wien, denn die Freiflächen liegen in deren Verantwortung. Der Verein fordert mehr Bäume, mehr Pflanzflächen, mehr Gestaltungshoheit für sich selbst, also für die Menschen, die im Pionierquartier leben. Katarina ist frustriert: "Es wird gerade so viel gemacht, dass wir nicht richtig wütend werden; aber eben doch so wenig, dass sich kaum etwas ändert."
Ich kann sie gut verstehen. Ich lebe in der Hamburger Hafencity, auch ein europäisches Vorzeigeprojekt, und ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn mir auf gut organisierten "Beteiligungsrunden" vierspurige Straßen als "Boulevards" und ein paar Baumscheiben mit Hochbeet als "Grünfläche" präsentiert werden. Oder wenn trotz vieler Proteste eine der letzten Brach- und Grünflächen im Viertel einem weiteren, angeblich "dringend notwendigen" Büroneubau weichen muss. Mitten in der Klimakatastrophe und nach Corona.
Aber jetzt sind wir in Wien. Für die Seestadt gab es natürlich einen Masterplan, doch von Anfang an war der "agil" angelegt, ein "lernendes System", erzählt Marvin.
Er muss nicht viel reden, denn wir sehen und fühlen es direkt. Straße für Straße, die wir weiter in Richtung neue Quartiere radeln, verändert sich das Gesicht der Seestadt. Die Buntheit der Häuser bleibt gleich, auch die Dichte der Bebauung, doch der Umgang mit Grünflächen lässt ein komplett anderes Lebensgefühl entstehen. Es gibt den See, in dem auch jetzt noch, in diesem warmen Oktoberherbst, Menschen baden. Und es gibt richtige Parks, mehr Platz für die Wurzeln der Bäume, viele echte Grünflächen zwischen den Häusern.
Ich telefoniere nochmal, diesmal mit Teresa Morandini. Sie leitet das "Quartiersmanagement" der Stadt, eine weitere Besonderheit von Wien, wo ähnliche Einrichtungen für jedes städtische Neubauquartier mit eingepreist werden. In der Seestadt erfolgt die Finanzierung teils mit öffentlichen Geldern, teils durch Abgaben der hier tätigen Bauherr*innen; als Partnerorganisation im Quartiersmanagement ist die Caritas mit dabei.
Teresa erzählt. Es gibt Büro- und Besuchszeiten, einen Newsletter, es werden Sportangebote erarbeitet und viele möglichst "niedrigschwellige" Formate. So jeden Monat ein "Nachbarschaftsfrühstück", ohne Anmeldung; Tee und Kaffee und Gebäck werden gestellt. Wer will, bringt was mit, niemand muss.
Jeweils am Jahresanfang gibt es einen kleinen Jurywettbewerb für nicht-kommerzielle Veranstaltungen von Menschen aus der Nachbarschaft für die Nachbarschaft, die dann gefördert werden: In diesem Jahr zum Beispiel eine große Schnitzeljagd für die Kinder. Das Büro hat ein eigenes Lastenfahrrad und Teresa und ihre Leute radeln durchs Viertel, "aufsuchende" Quartiersarbeit nennt sich das heute.
Bei jedem fertigen Neubauprojekt hängt bei den Bewohner*innen ein Zettel an der Tür: "Kommt zu uns ins Büro und holt Euch kostenlos einen Einkaufstrolley ab." Mit solchen Angeboten erreicht das Quartiersmanagement auch Menschen, die nicht von sich aus in die Geschäftsstelle kommen würden.
Zurück zu unserer Tour mit Marvin. Ganz am Ende erreichen wir noch ein Highlight: Ein Kultur-Parkhaus. Unten gibt es Theater- und Gemeinschaftsräume, oben Parkplätze, doch das lässt sich ändern, sollte es tatsächlich mal weniger Autos geben. Da ich selbst seit Jahren ehrenamtlich daran mitarbeite, ein altes Parkhaus in Hamburg umzuwidmen, freue ich mich auch hier über eine "agile" Planung. So wenig wie möglich wird für die Ewigkeit festgeschrieben.
Von Dach schweift unser Blick nach Osten, ganz hinten in der Ferne liegt Bratislava, doch davor noch die vielen unbebauten Flächen der Seestadt. Sie ist noch lange nicht fertig. Ich hoffe, ich kann wiederkommen.