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Herr Lampugnani, „Bauen bedeutet seit der Antike, möglichst viel mit möglichst wenig zu erreichen“, schreiben Sie in Ihrem letzten Essay. Gilt das immer noch?
Vittorio Magnago Lampugnani: Leider nicht. Wir leben in einer Zeit der klapprigen Wegwerfarchitektur mit Verfallsdatum. Solide, brauchbare, oft auch schöne Häuser werden abgerissen, um ein paar schäbige Quadratmeter mehr auf dem gleichen Grundstück zu realisieren. Alles unter dem Vorwand der Verdichtung und zum Wohle einer erhöhten Rendite.
Wann begann dieses Denken?
Ende des 19. Jahrhunderts, mit den rasanten Stadterweiterungen. Bezeichnend ist die 1911 erschienene Schrift von Reginald Pelham Bolton. Sein Buch „Building for Profit“ brachte das neue Denken im Bauen auf den Punkt. Er prägte den Begriff der „wirtschaftlichen Obsoleszenz“ von Gebäuden.
Obsoleszenz kommt aus dem Lateinischen. Und meint „sich abnutzen, alt werden, aus der Mode kommen“. Etwas wird „obsolet“ sagen wir. Wie passt das auf Gebäude?
Es geht um den ökonomischen Verfall von Bauten. Der kommerzielle Wert von Gebäuden löste sich vom materiellen, wurde vermeintlich finanziell quantifizierbar und ebenso vermeintlich wissenschaftlich berechenbar. Die Gewerbesteuer, die damals in den Vereinigten Staaten von Amerika eingeführt wurde, wirkte zusätzlich wie ein Brandbeschleuniger. Die Spielregel war simpel: Alles, was in der Bilanz nicht schwarz erschien, war dem Abriss freigegeben.
Gab es so etwas wie einen „Initiationsabriss“?
1910 wurde das Gillender Building in Manhattan, ein sechzehngeschossiges Bürohochhaus, gerade mal dreizehn Jahre nach seiner Errichtung, abgetragen, um einem höheren und moderneren Wolkenkratzer Platz zu machen. Die Gründe waren rein ökonomisch: Es sollte und konnte eine höhere Rendite erwirtschaftet werden. Das war zwar ein Fall, der besonderes Aufsehen erregte, aber nicht der einzige und auch nicht der erste. Die Grand Central Station wurde 1903 abgerissen, obwohl der Bau erst wenige Jahre zuvor grundsaniert worden war. Und auch in Europa begannen die Wertschöpfungsabrisse.
Vittorio Lampugnani
Ging es immer nur um Profitstreben?
Nein, das wäre eine einseitige Sicht. Es ging auch um Repräsentation und urbane Neuerung, wie die Galleria Vittorio Emanuele in Mailand zeigt. Auch wurden vielerorts schlechte, hoffnungslos verkommene Häuser abgetragen, um besseren und gesünderen Wohnraum zu bauen, auch für ärmere Menschen.
Sie sind Architekturhistoriker, schauen also viel in die Vergangenheit – gab oder gibt es Bauten für die Ewigkeit?
Nein, ewig hält kein Gebäude . Aber lange schon. Das Pantheon in Rom ist in meinen Augen ein Musterfall an Nachhaltigkeit, vielleicht eines der ökologischsten Gebäude schlechthin. Zwar wurden bei seinem Bau große Mengen an opus caementitium, einer Urform des Betons, verbraucht. Das war bestimmt nicht besonders ökologisch. Aber es hält seit fast 2000 Jahren und hat so, über die Lebensdauer gerechnet, bemerkenswert wenig graue Energie beansprucht. Übrigens auch weil seinerzeit dem Beton Vulkanasche und ungelöschter Kalk beigemischt wurden, wodurch sich in Verbindung mit Regenwasser kleinere Risse von selbst reparieren.
Was wird heute noch für eine so lange Haltbarkeit gebaut?
Wenig, denn die Investitionen werden kaum langfristig angelegt, also brauchen die Häuser auch nicht lange zu halten. Doch es gibt auch Ausnahmen: Etwa die Kontorhäuser in Hamburg, wo Sie ja leben und die Ihnen bestimmt vertraut sind, Bauten aus soliden Klinkersteinen, sehr langlebig. Und schön. Ich selbst habe auch Klinkerbauten realisiert, sie sind durchaus bezahlbar, wenig anfällig und dauerhaft. Gegenwärtig experimentieren wir in unserem Büro mit Naturstein, den wir massiv und unbehandelt einsetzen wollen: das erzeugt so gut wie keine schädlichen Emissionen, ist dauerhaft, kann wiederverwertet werden und wird, so hoffe ich wenigstens, zeitlos schön.
Bauten und Räume halten länger, wenn sie flexibel sind, sich auch neuen Bedürfnissen anpassen, wie z.B. Clusterwohnungen oder zuschaltbare Zimmer. Siedlungen von Einfamilien- und Reihenhäusern können modernisiert werden und sich anpassen. Gibt es auch da historische Vorbilder?
Die Geschichte der Architektur und der Stadt ist eine Geschichte von Umdeutungen, Umnutzungen, Umbauten. Denken Sie nur an die römischen Amphitheater wie jenes von Lucca. Sie wurden für Gladiatorenkämpfe, Sportereignisse und Theateraufführungen geplant, wurden aber später ganz anders genutzt, sogar als Wohnanlagen. Heute ist das Amphitheater von Lucca ein wunderschöner städtischer Platz.
Oder um etwas zu nehmen, was näher liegt: Berlin-Kreuzberg. Das Viertel hat mit großer Gelassenheit sehr viel mitgemacht. Als Wohnort des Bürgertums im 19. Jahrhundert entstanden, hat es die Invasion des Automobils Anfang des 20. Jahrhunderts souverän überlebt. Durch die Randlage an der Mauer entwertet, hat es nach dem Krieg für ärmere Einwanderungsfamilien gedient, dann wurden die Häuser in den 1960er Jahren von der alternativen Szene entdeckt. Vor der Wende fand mit der IBA-Berlin eine behutsame Sanierung statt, so dass Kreuzberg auch für Kleinfamilien mit kleinem Budget interessant wurde. Und heute leben im dem gentrifizierten Viertel die Jungen und Wohlhabenden, viele Kreative. Der immer gleiche städtebauliche Plan, die gleiche Bebauung erfüllte in etwas mehr als hundert Jahren die Bedürfnisse von völlig unterschiedlichen Klassen, Kulturen und sozialen Gruppen. So was nenne ichnachhaltig.
Wie so viele andere Institutionen und Fachleute fordern auch Sie: Hört endlich auf zu bauen. Mir kommt das immer etwas wohlfeil vor, denn aufhören mit Bauen tut ja niemand. In meiner Heimatstadt Hamburg beispielsweise werden gerade ganze Quartiere in der Altstadt abgerissen, oder es entstehen neue Prestigebauten wie der Elbtower, die schon bei Baubeginn das Scheitern in sich tragen. Mich packt manchmal die Wut – Sie auch?
Manchmal schon, aber dann beruhige ich mich wieder und versuche, dagegen anzuschreiben und aktiv zu werden. Ein wenig Einfluss kann man schon nehmen, und wenn es viele tun, lässt sich vieles ändern. Sie haben Recht, , es wird zu viel geredet undzu wenig gehandelt. Aber ich erlebe auch Kommunen, die umdenken, Grundstücke nicht mehr zu Höchstpreisen verschleudern und so ihre Ortsbilder erhalten und behutsam weiterentwickeln . Und ich erlebe Investoren, die sich überzeugen lassen: Neulich sollte in Zürich eine Siedlung aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts abgebrochen werden, um einem neuen, doppelt so dichten Wohnkomplex Platz zu machen, doch der Bauherr konnte überzeugt werden, große Teile des Bestands zu erhalten und daran weiterzubauen, nach einem klugen Projekt, den ein Wettbewerb bestimmte. Ich glaube, es gibt Hoffnung, vor allem die Jüngeren haben die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels erkannt und wir können vorsichtig optimistisch in die Zukunft schauen.