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In den vergangenen Wochen habe ich im Rahmen einer Studie für mein Institut mit vielen Menschen gesprochen, die aus islamisch geprägten Ländern nach Europa geflüchtet sind. Ihre Geschichten berühren und erschüttern mich. Denn sie alle erzählten von ihrer Suche nach einem Ort, an dem sie und ihre Familien in Sicherheit leben und ihre Zukunft gestalten können.
Zu uns nach Europa zu flüchten, das ist ein langer, harter und gefährlicher Weg. Kaum angekommen, beginnt ein neuer, stiller Kampf. Denn es ist schwer, in einer Gesellschaft Fuß zu fassen, die ihnen Schutz bietet, aber oft unverständlich und fremd bleibt. Sie erleben in Europa zwar mehr Sicherheit, aber viele erzählen von sozialer Kälte. Die kulturellen Unterschiede zu den Herkunftsländern sind riesig - besonders, wenn es um die Geschlechterrollen geht. Ein Vater erzählte mir: "Meine Ehre hängt davon ab, wie gut ich für meine Familie sorge. Wenn meine Frau arbeitet oder meine Tochter ohne Kopftuch zur Schule geht, verliert die Familie an Ansehen."
Solche Sätze sind Ausdruck eines tief verinnerlichten kulturellen Codes. Er hat gute Seiten, weil er Identität und Zugehörigkeit sichert. Aber die patriarchalischen Vorstellungen dahinter bremsen die Menschen in ihrer Entwicklung.
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Diese unterschiedlichen Kulturen zerren an den Menschen. In den Herkunftsländern galt oft: Ein Mann ist stark, versorgt die Familie, trifft Entscheidungen. In Europa hingegen wird Gleichberechtigung, Empathie partnerschaftliches Verhalten gefordert.
Wer die Sprache nicht versteht, verliert noch mehr Boden und kann sich kaum auf neue Werte einlassen, weil die Worte fehlen, sie zu verstehen. Der Zugang fehlt einfach.
Aber nicht nur die Geflüchteten sind verunsichert, sondern auch die Gesellschaften der aufnehmenden Länder. Wirtschaftliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und das Gefühl, dass sich Vertrautes verändert, machen empfänglich für einfache Parolen: Grenzen zu, Kultur schützen, christlich-abendländische Identität bewahren. Darauf reagieren andere mit moralischer Entrüstung: Wer Migration begrenzen will, gilt als hartherzig oder gar rassistisch und unmenschlich. Hinter beiden Reaktionen stehen Ängste: die Angst, das eigene zu verlieren, oder die Angst, die Menschlichkeit zu verlieren.
Und die Geflüchteten? Viele ziehen sich in ihre Communities zurück. Dort ist die Sprache vertraut, die Werte bekannt, die sozialen Rollen klar verteilt. Das gibt Halt, aber es schafft auch Parallelwelten, in denen patriarchale Muster ungebrochen weiterleben. Frauen, die sich emanzipieren wollen, geraten in einen doppelten Konflikt: zwischen der Tradition ihrer Herkunft und den Erwartungen der neuen Gesellschaft. Was ist die Lösung?
"Aufeinander zugehen", heißt es oft. "Kompromisse eingehen." Aber manche Dinge sind nicht verhandelbar. Die Gleichberechtigung der Frau gehört dazu. Sie ist kein westlicher Luxus, sondern ein Menschenrecht. Kein Kompromiss, sondern ein Maßstab für die Würde aller. Doch wie kann man Menschen, die aus völlig anderen kulturellen Kontexten kommen, diesen Wert nahebringen, ohne zu belehren oder zu demütigen?
Eine Politikerin sagte mir kürzlich hinter verschlossenen Türen: "Wir brauchen klare Konsequenzen. Wer unsere Werte nicht respektiert, darf keine Vorteile erwarten." Das klingt nach harter Linie, vielleicht sogar nach rechter Rhetorik, und doch steckt ein wahrer Kern darin: Werte brauchen Verbindlichkeit. Eine Gesellschaft, die alles nur "versteht" und nichts mehr einfordert, verliert ihre Orientierung. Aber Verbindlichkeit darf nicht mit Bestrafung verwechselt werden.
Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um sich von patriarchalen Strukturen zu lösen. Können wir diesen langen Weg für andere verkürzen? Und wenn ja, wie? Ich glaube nicht, dass Vorträge und Appelle genügen. Die Menschen müssen eigene, positive Erfahrungen machen, denn wer erlebt, dass Gleichberechtigung das Zusammenleben reicher, respektvoller, menschlicher macht, wird sie verinnerlichen und sich dafür einsetzen.
Wir müssen uns für Begegnungsräume einsetzen, in denen Frauen aus verschiedenen Kulturen gemeinsam arbeiten, Männer Verantwortung teilen, Jugendliche sich austauschen, ohne Angst vor Bewertung.
Vielleicht ist der wahre Sinn von Integration nicht Verschmelzung, sondern Dialog. Nicht Uniformität, sondern die Bereitschaft zu lernen. Europa darf dabei selbstbewusst sein, nicht überheblich, aber überzeugt davon, dass Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde universelle Werte sind, die jede Gesellschaft bereichern.
Nach diesen vielen Gespräche blieb bei mir ein Satz hängen, den ein junger Syrer sagte: "Ich will nicht, dass meine Tochter so leben muss wie meine Mutter. Aber ich weiß noch nicht, wie ich das schaffe." In diesem Satz liegt alles: die Angst, die Hoffnung, der Wandel. Integration beginnt dort, wo Menschen diesen inneren Satz wagen und eine Gesellschaft bereit ist, ihn zu hören, ernst zu nehmen und gemeinsam neue Wege zu gehen.