Kolumne Khorchide
Das Beste aus beiden Welten - Freiheit und Gemeinschaft
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Zusammenleben
Ich oder wir?
Berufswahl, Kindererziehung oder Hauskauf: In orientalischen Communities mischen sich alle in alles ein. Im Westen lebt man selbstbestimmter, aber viele sind einsam. Kann man das Beste aus beiden Welten haben?
Peter Grewer
08.09.2025
4Min

Ich bin in einer Kultur groß geworden, in der das Wir zuerst kommt: Wer heiratet, für den sammelt die Großfamilie; beim Umzug stehen Verwandte und Freundinnen von Freunden morgens mit Werkzeug vor der Tür; bei Krankheit kocht man, fährt zur Klinik, bleibt über Nacht; Gäste werden vom Flughafen abgeholt und schlafen zuhause im Gästezimmer; und bevor man zum Anwalt geht, versuchen die Älteren zu schlichten. Wer studieren will, umzieht, ein Haus kauft: Es gibt viele Hände, die tragen. Niemand führt Buch, wer wie viel gegeben hat. Es geht um das Wohl des Kollektivs, nicht um die Abrechnung.

Als ich mit achtzehn nach Europa kam, lernte ich ein anderes Prinzip kennen: Für fast jede kleine Unterstützung gibt es ein Honorar, eine Gegenleistung. Nicht aus Kälte, sondern aus Ordnung. Man erwartet nicht, dass jemand einfach gibt, ohne etwas zu bekommen. Das verändert die Art und Weise, wie wir füreinander da sind.

Ich will nichts romantisieren. Das orientalische Wir hat eine klare Schattenseite, unter der ich oft gelitten habe und zum Teil bis heute leide: dass sich alle in alles einmischen. Das gehört einfach dazu.

Wer wen heiratet, welches Fach studiert wird, welches Haus passt, wie werden die eigenen Kinder erzogen - immer fühlen sich viele zuständig. Neulich saß ich bei meinen Eltern in Wien am Tisch, und wie früher bestimmte meine Mutter, was auf den Teller kommt. Ich hatte keine Chance, sie davon zu überzeugen, dass ich dringend ein paar Kilo loswerden muss und den randvollen Teller nicht schaffe. Zu widersprechen gilt als unhöflich. Aus der Küche hörte ich sie zu meinem Vater sagen: "Unsere Kinder sind westlich geworden; sie hören nicht mehr auf uns." Ich musste lachen, aber diese kleine Szene machte mich nachdenklich.

In Deutschland leben die Menschen selbstbestimmter, haben mehr Freiheit und mehr Raum, sich zu entfalten. Sie müssen aber auch Verantwortung für sich übernehmen: Jede und jeder soll das Leben weitgehend allein hinbekommen. Diese Lebensweise hat klare Vorteile: Frei sein heißt, früh zu lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und bisweilen zu fallen, ohne dass sofort jemand einen auffängt. Aber auch hier gibt es natürlich Schattenseiten: soziale Beziehungen werden lockerer und Menschen sind schneller einsam.

Ich plädiere für einen Mittelweg, den ich beziehungsfähige Autonomie nenne. Das bedeutet, dass jeder Mensch selbstbestimmt Nein sagen darf, aber zugleich bereit ist, Verantwortung für sich und für das Kollektiv zu tragen. Und das bedeutet, in sozialen Beziehungen zu leben, die einen nicht vereinnahmen, aber in Krisen tragen.

Ich habe natürlich auch kein Rezept, wie man dieses Ideal erreicht. Aber ein paar Ideen:

Es braucht Orte, an denen Hilfe kostenlos zur Verfügung steht und sich zugleich niemand beschwert, wenn diese Hilfe nicht angenommen wird. Nachbarschaften, Vereine, Hochschulen, Glaubensgemeinschaften können solche Orte sein. Hier sind wir alle gefragt. Jeder kann konkrete, freiwillige Hilfe anbieten, ohne versteckte Gegenleistung zu erwarten und ohne beleidigt zu sein, wenn sie nicht angenommen wird.

Diese Debatte reicht übrigens über das gesellschaftliche Zusammenleben hinaus. Sie betrifft auch Staaten und deren Verhältnis zueinander. Wie viel Selbstbestimmung darf ein Nationalstaat beanspruchen, wie viel Rücksicht schuldet er einem größeren Wir-Bündnis, Nachbarstaaten und dem Planeten? Souveränität ist wichtig; zugleich machen Lieferketten, Klima, Migration und Sicherheit uns wechselseitig verletzlich. Ein Staat, der nur sich sieht, gefährdet andere und am Ende sich selbst. Ein Staat, der sich völlig aufgibt, verliert Legitimität. Auch hier gilt: beziehungsfähige Autonomie. Interessen klar benennen, Regeln fair aushandeln, Lasten teilen, ohne kulturelle Eigenarten zu nivellieren.

Diese Fragen helfen bei der Suche nach beziehungsfähiger Autonomie - im Privaten wie im Politischen: Beginnt hier Autonomie oder schon Egoismus? Zahlen andere regelmäßig den Preis für mein Handeln? Beginnt hier Solidarität oder schon Bevormundung? Diene ich dem anderen oder will ich ihn lenken? Wächst nach dieser oder jener Entscheidung das Vertrauen oder schrumpft es?

Hilfreich ist auch, Ideale weniger zu verkünden und mehr einzuüben: bitten und Hilfe anbieten, zuhören und Grenzen ziehen. Hilfe annehmen, ohne sich zu schämen. Hilfe geben, ohne Buch zu führen. Dort, wo diese Übungen gelingen, wachsen Resilienz und Zusammenhalt, und der Narzissmus verliert seinen Nährboden.

Ich habe gelernt, die beiden Welten, das Westliche und das Orientalische in mir zu versöhnen. Am elterlichen Tisch darf meine Mutter noch immer bestimmen, was auf den Teller kommt, und ich nehme mir das Recht, freundlich "genug" zu sagen. In diesem kleinen Dialog liegt die große Lektion: Das Ich bleibt erkennbar, das Wir bleibt nah. Hier beginnt die Zukunft einer reifen Gesellschaft.

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Kolumne

Mouhanad Khorchide

Für den islamischen Theologen Mouhanad Khorchide ist die Freiheit des Glaubens sehr wichtig. Er tritt ein für einen Glauben, der die Menschen frei macht und die Liebe Gottes vermittelt. Für chrismon blickt er auf Gott und die Welt, mal religiös, mal politisch, immer pointiert.