Menschen feiern den Fall der Berliner Mauer nach dem 9. November 1989
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Deutsche Einheit
Meine Gedanken sind frei
Wie blicken wir in die Vergangenheit? In die Zukunft? Mit dem Mauerfall bekamen wir die Möglichkeit zum freien Denken. Nutzen wir sie sinnvoll? Oder bleiben wir in den Vergleichen stecken?
08.10.2025
4Min

In Berlin bin ich häufiger. Und wenn es mir zeitlich möglich ist, gehe ich zum Brandenburger Tor. Am liebsten laufe ich gleich mehrmals hindurch, von West nach Ost, von Ost nach West. Und auch nach diesen vielen, vielen Jahren bekomme ich eine Gänsehaut und erlebe ein Gefühl des tiefen Respekts vor der historischen Dimension des Ortes.

Was waren das für Veränderungen, im Herbst 1989!

Für das ganze Land und auch für mich persönlich. Grenzen verschwanden Schritt für Schritt aus dem gesellschaftlichen wie politischen Alltag. Ein Symbol dafür war und ist das Brandenburger Tor. Sooo lange undurchlässig für uns aus dem Osten. Heute umso durchlässiger.

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Ich bin in der DDR aufgewachsen und war etwa neun Jahre alt, als ich in Ost-Berlin das erste Mal am Brandenburger Tor stand - oder richtiger gesagt: in der Nähe des Brandenburger Tors. Dicht ran durften wir ja nicht. Sperrgebiet.

Trotz der Absperrungen waren Volksarmee und Polizei gut zu sehen. Die Blicke der Soldaten und Polizisten gingen fest und starr in meine Richtung, in den sogenannten "Osten". Das habe ich als Kind nicht verstanden: Weshalb blickten sie zu mir, wenn doch der "Feind" dadurch in ihrem Rücken blieb und sie ihn überhaupt nicht beobachten konnten?

Vergangene Woche wurde wieder der Tag der Deutschen Einheit begangen. In den politischen Reden und journalistischen Texten ging es immer wieder um die innerdeutsche Entwicklung. Was unterscheidet den Osten vom Westen, was verbindet?

Was bleibt von diesen vielen Betrachtungen zum jährlichen Tag der Einheit? Wie gehen wir alle mit dem Wissen um, das wir über unser Land und unsere Gesellschaft haben? Wie handeln, sprechen und denken wir vom 04. Oktober dieses Jahres bis zum 02. Oktober des kommenden Jahres?

Die Diakonie Sachsen beschreibt in einer Pressemitteilung anlässlich des zurückliegenden Feiertages gemeinsam mit den anderen ostdeutschen Diakonie-Werken die "soziale Einheit als Auftrag". Was heißt das genau?

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Die wichtigsten Forderungen sind meiner Meinung die nach Chancengleichheit und gleichwertigen Lebensverhältnissen. Denn gibt es immer noch nicht.

Stattdessen reden wir ständig über Unterschiede, bestätigen uns gegenseitig unsere Vorurteile. Wenige Tage nach den Einheitsfeiern geht es schon wieder darum, die "Schuld" an den Lebensverhältnissen der einen Bevölkerungsgruppe den jeweils anderen zuzuschreiben; oder die "andere" Gruppe als "schwierig" zu stigmatisieren.

Wir schreiben über "die Ossis" und "die Wessis" und zementieren vor allem unsere Vorurteile: Bei denen sind doch alle so und so. Mit dem Ergebnis, dass wir vor allem aufeinander blicken, aber nicht miteinander in die gleiche Richtung.

Ich kenne aus meiner Arbeit und aus meinem Bekanntenkreis Menschen, die ausgegrenzt werden. Aus dem sozialen und gesellschaftlichen Leben. Ob Sport oder Kultur, ob Ehrenamt oder Bildung - sie bleiben außen vor, denn sie können sich das alles nicht leisten. Kein Wunder, dass sie unzufrieden mit der Gesellschaft sind, und irgendwie auch wenig überraschend, dass diese Unzufriedenheit von Parteien genutzt wird, um Stimmung gegen die "anderen" zu machen, die angeblich allein schuld an dieser Misere sind. Die Blickrichtung wird immer einseitiger. Sie schließt aus, was vielleicht auch möglich sein könnte.

Und damit bin ich wieder beim Brandenburger Tor. Wenn ich da heute hin- und herlaufe, dann bedeutet das für mich eben nicht nur die Freiheit des Ortswechsels, sondern auch, dass ich verschieden Möglichkeiten habe. Ich kann mich frei entscheiden, in welche Richtung ich blicke. Meine Gedanken sind frei.

Schaue ich auf die Zukunft? In die Vergangenheit? Schaue ich optimistisch? Pessimistisch? Das alles liegt an mir und in mir. Mir ist sehr deutlich bewusst, dass so ein Blickwechsel schwierig ist für Menschen, die täglich um ihr soziales und wirtschaftliches Überleben kämpfen. Aber neben diesem Kampf gibt es weitere Möglichkeiten, die, so empfinde ich es, zurzeit viel zu wenig besprochen werden.

Die Diakonie benennt kritisch eine Reihe von Themen für diesen notwendigen Dialog und betont, dass die "Einheit mehr ist als Infrastruktur und Straßenbau". Dabei verweist sie auf die fehlenden gleichen Chancen für alle: Unterschiede bei den Löhnen; eine schlechte medizinische Versorgung und geringere Teilhabechancen im ländlichen Raum. Es gibt den Fachkräftemangel in den pflegenden und sozialen Berufsfeldern; eine sich weiter verfestigende Armutsquote; unbezahlbare Wohnungen und eine steigende Quote psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen.

Dies alle sind Themen und daraus resultierende konkrete Lebensverläufe, die keineswegs neu sind. Sie sind gewachsen. Sie grenzen Menschen aus. Und sie verhindern eine soziale Einheit in unserem Land. Im ganzen Land. Nicht nur im Osten. Darüber sollten wir reden!

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Kolumne

Christian Kurzke

Christian Kurzke stammt aus Ostdeutschland und arbeitet heute bei der Evangelischen Akademie in Dresden. Anke Lübbert wurde in Hamburg geboren, , lebt jedoch seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Greifswald. Beide schreiben sie im Wechsel über Politik und Gesellschaft aus ihrer Sicht.