Eine ältere Frau läuft mit Einkaufstaschen in der Kleinstadt Altentreptow in Mecklenburg Vorpommern eine leere Gasse entlang
Wer kümmert sich um die Alten und Schwachen? Dorfstraße in Altentreptow in Mecklenburg-Vorpommern
Dirk Sattler / IMAGO
Sozialstaaat
Wer Hilfe nötig hat, wird sie noch schwerer bekommen
Jörg Raddatz ist Geschäftsführer des Kreisdiakonischen Werks in Demmin, Vorpommern. Nun muss er seine Sozialberatung schließen, weil der Staat die Zuschüsse weiter kürzt. Wird diese Region vom Rest des Landes vergessen?
Anke LübbertPR
29.01.2025
4Min

Wer in Demmin, Kleinstadt mit 10 000 Einwohnern in Vorpommern, künftig Hilfe beim Bürgergeldantrag braucht, Angst hat vor der Nebenkostenabrechnung hat oder sich fragt, wie er die Beerdigung der Oma bezahlen soll, hat Pech gehabt. Eine allgemeine Sozialberatung wird es hier bald nicht mehr geben.

Das ist kein Ausnahmefall, sondern Teil des Trends: Rund 40 Prozent aller Beratungsangebote wurden seit 2017 im Landkreis Vorpommern-Greifswald eingestellt. In der letzten Ostpost hat mein Kollege Christian Kurzke von aktuellen Kürzungen in Sachsen berichtet - 430 Kilometer weiter nördlich sieht es nicht anders aus.

In den Dörfern ist die Infrastruktur schon länger auf dem Rückzug. Schulen, Kitas, Lebensmittelläden, Autowerkstätten, Gasthöfe sind verschwunden. Nun verschwinden auch noch die Hilfsangebote - und mit ihnen ein Stück Sozialstaat aus den Kleinstädten.

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Jörg Raddatz ist der Geschäftsführer des Kreisdiakonischen Werks (KDW), das die Beratungsstelle bis jetzt aufrechterhalten hat. Seit 23 Jahren setzt er sich für Leute ein, die das selber nicht so gut können: Das KDW ist Träger von Kindergärten, macht Hospizarbeit, bietet Sozial-, Schuldner-, Gewalt-, Opfer-, Sucht-, Ehe-, Schwangerschaftskonfliktberatung. Beratungen für Migranten und für Menschen mit Behinderungen. An fünf, bald nur noch vier Standorten im Landkreis. Und das unter immer schlechter werdenden Bedingungen.

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Im vergangenen Jahr musste das KDW sich über ein Jahr lang jeden Monat wieder Geld von der Bank leihen, am Ende insgesamt fast 800 000 Euro, weil die zugesagte EU-Förderung für die Migrationsberatung über Monate zu spät kam. Nicht nur, dass Raddatz bis Anfang Dezember, als endlich das Geld eintrudelte, das Risiko getragen hat und vermutlich sehr viele Nächte sehr schlecht schlief - er wird auf den Zinsen für die Bankkredite sitzen bleiben.

Vor einer Woche hat er erfahren, dass er bei der Behindertenarbeit 25 Prozent einsparen muss. Ein Viertel! Wie soll er das machen? Er weiß es noch nicht. In einigen Bereichen kann das KDW Überschuss erwirtschaften. Eigenmittel kommen aus dem Kirchenkreis, aber auch da sinken die Einnahmen - wegen der Kirchenaustritte und auch, weil seit ein paar Jahren deutlich weniger in den Kollektenschalen landet.

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Das Geld, das das Land für die Beratungsangebote zahlt, ist seit Jahren nicht dem tatsächlichen Bedarf angepasst worden, der wächst und wächst aufgrund von Inflation, gestiegenen Betriebskosten und angehobenen Tariflöhnen. Der Kreis schießt Geld zu, aber Beratungsangebote zählen zu den freiwilligen Leistungen. Und für freiwillige Leistungen stehen nur zwei Prozent des Kreishaushalts zur Verfügung. Der Rest ist für Pflichtausgaben wie Schulen, Feuerwehr oder Straßenreinigung- und Instandhaltung vorgesehen. Um die zwei Prozent konkurriert Raddatz also mit dem Fußballverein und der Wirtschaftsförderung. Und allen anderen, die Geld vom Landkreis brauchen. Raddatz findet das absurd - er sieht Beratungsangebote als Prävention. Gesundheits-, Gewalt-, Armutsprävention.

Raddatz sagt, dass wir jetzt ausbaden, was wir in den vergangenen 20 Jahren versäumt haben. "Und wenn wir uns mit unseren Beratungsangeboten weiter aus der Fläche zurückziehen, dann wird das die Probleme verschärfen."

Armut gibt es überall. Aber in einem der ärmsten Landkreise Deutschlands ist Armut noch mal ein anderes Ding. Zwei Prozent eines Haushalts, der pro Bürger im Jahr durchschnittlich mit 800 Euro Steuereinnahmen rechnet, sind etwas anderes als zwei Prozent eines der reichsten Landkreise (zum Beispiel München, 3850 Euro im Monat). Das klingt ungerecht. Ist es auch.

Wer Hilfe nötig hat, wird sie in Vorpommern jedenfalls künftig noch schwerer bekommen. "Früher haben Pastoren uns angerufen und einen Hinweis gegeben, bei wem wir mal vorbeigucken sollten. Die hatten ihre Dörfer im Blick", sagt Raddatz. Aber die Kirchengemeinden sind zum Teil so absurd groß geworden, dass die Pastoren kaum noch Bezug zu den Menschen haben. Ein Beispiel: Zum Pfarrsprengel Spantekow gehören 33 Dörfer und 16 Kirchengebäude. Und nur ein Pfarrer.

Obwohl Jörg Raddatz 200 Mitarbeiter koordiniert, arbeitet er nebenbei selber in der Beratung. Gerade kümmert er sich um einen obdachlosen Mann, 77 Jahre alt, der noch nie einen Rentenantrag gestellt hat. Über Wochen hat er mit ihm die fehlenden Unterlagen zusammen gesucht, in Kisten auf Dachböden gekramt, einen längst abgelaufenen Pass ersetzt und eine Gesundheitskarte beantragt. Demnächst wird der Mann Rente kriegen und dann vielleicht auch endlich eine Wohnung mieten können. "Da muss man das Pferd ins Ziel tragen", sagt Raddatz und lacht.

Leute wie er, die unter widrigen Umständen nicht nur den Mangel verwalten, sondern immer wieder Pferde ins Ziel tragen, halten das, was sich Sozialstaat nennt, notdürftig am Leben. Wer findet, dass in Deutschland zu viele Steuern gezahlt werden, dem empfehle ich ein Gespräch mit ihm.

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Kolumne

Christian Kurzke

Christian Kurzke stammt aus Ostdeutschland und arbeitet heute bei der Evangelischen Akademie in Dresden. Anke Lübbert wurde in Hamburg geboren, lebt jedoch seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Greifswald. Beide schreiben sie im Wechsel über Politik und Gesellschaft aus ihrer Sicht. Alle zwei Wochen