chrismon: Sie sind Beauftragter der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit – was sind Ihre Aufgaben?
Thomas Rachel: Im Zentrum meiner Aufgabe steht es, dem Thema Religions- und Weltanschauungsfreiheit Aufmerksamkeit zu verschaffen. Meine Arbeit steht dafür, dass sich die Bundesrepublik aktiv für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit einsetzt.
Wie konkret werden Sie das machen?
Zum einen werden wir mit Hilfe der deutschen Botschaften beobachten, wie es um die Religions- und Weltanschauungsfreiheit in den einzelnen Ländern steht. Dabei helfen uns zudem die vielen Berichte, die mich von Nichtregierungsorganisationen erreichen. Viele sind kirchlich geprägt. Zum anderen soll der interreligiöse Dialog gestärkt werden, indem Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen miteinander ins Gespräch kommen. Außerdem werde ich alle zwei Jahre einen Bericht über die Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der Welt vorlegen. Der Bundestag hat dann die Möglichkeit, den Bericht zu diskutieren und dem Thema noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Thomas Rachel
Warum Religions- und Weltanschauungsfreiheit – wo liegt der Unterschied?
Da beziehe ich mich auf Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dort ist von der Freiheit die Rede, die "eigene Religion oder Weltanschauung" zu bekennen. Es geht sowohl um die Freiheit, seine Religion bekennen, leben und wechseln zu können, als auch um die Freiheit von Menschen, die einer nichtreligiösen Weltanschauung anhängen.
Können Sie ein Beispiel für eine solche Weltanschauung geben?
Weltanschauung ist eine Position, die sich nicht aus einer Religion oder einer Glaubensüberzeugung begründet, sondern aus einer anderen Quelle. Auch die gilt es zu beschützen. Denken Sie an Atheistinnen und Atheisten, Humanistinnen und Humanisten. Auch sie werden Opfer von Diskriminierung und Verfolgung.
Fällt auch der Atheismus darunter?
Selbstverständlich. Das im deutschen Grundgesetz verankerte Recht auf Religionsfreiheit gilt auch für Menschen, die nichts glauben oder einen Glauben wechseln wollen.
Warum braucht Deutschland einen Beauftragten für Religionsfreiheit?
Nicht Deutschland braucht diesen Beauftragten, sondern die vielen Menschen auf der ganzen Welt, die in Staaten leben, in denen es keine Religionsfreiheit gibt. Für sie ist es wichtig, dass wir uns für ihre Rechte einsetzen. Dort, wo die Religionsfreiheit gefährdet ist oder nicht beachtet wird, werden zudem ganz schnell auch andere Menschenrechte infrage gestellt.
Nun gibt es aber nicht für alle Menschenrechte Beauftragte. Was hebt das Menschenrecht auf Religionsfreiheit heraus?
Das Recht auf Religionsfreiheit ist unmittelbar mit der Existenz des Menschen verbunden. Vier von fünf Menschen weltweit sagen, dass Religion in ihrem Leben einen ganz hohen Stellenwert hat. Man könnte es auch so sagen: Diese Menschen stehen morgens mit Gott auf und gehen abends mit Gott schlafen. Eine werteorientierte Außenpolitik, für die ich stehe, muss einen besonderen Blick auf diese Dimension des menschlichen Lebens werfen.
Wie steht es um die Religionsfreiheit weltweit?
Insgesamt ist die Situation besorgniserregend. Drei Viertel aller Menschen leben in einem Land, in dem ihre Religions- und Weltanschauungsfreiheit nicht gewährleistet ist. Das betrifft alle Regionen dieser Welt. Nur ein paar Beispiele: In Syrien sind die religiösen Minderheiten der Drusen und Alawiten, der Christen und Jesiden in Bedrängnis. Schauen Sie auf den Druck, der auf die Christen in den palästinensischen Gebieten ausgeübt wird. Oder die muslimischen Rohingya, die aus Myanmar zu Hunderttausenden vertrieben werden. Schauen Sie auf die Zeugen Jehovas, die in Russland verboten wurden und daran gehindert werden, ihre Grundüberzeugung zu leben. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Welche Länder haben Sie besonders im Blick?
Ich werde in alle Regionen blicken. Aber die nächsten Schritte werden sein, dass ich in die palästinensischen Gebiete im Westjordanland reise. Dort und in Jerusalem werde ich mit Vertretern verschiedener Religionen reden und mich außerdem in Ägypten mit Muslimen und Kopten austauschen. Die Region des Nahen Ostens werde ich zuerst besuchen, was auch daran liegt, dass mich von dort viele besorgte Anrufe und E-Mails erreichen.
"Es gibt Angriffe auf das letzte rein christliche Dorf im Westjordanland. Das ist nicht akzeptabel"
Thomas Rachel
Mit wem genau wollen Sie im Nahen Osten sprechen?
Soweit es sich vereinbaren lässt, mit allen Akteuren: mit Vertretern des Judentums, mit palästinensischen Christen, mit katholischen, evangelischen und mit orthodoxen Christen und Muslimen.
Wie schätzen Sie die Lage der christlichen Palästinenser ein?
Ein genaues Bild werde ich mir auf meiner Reise verschaffen. Aber mich erreichen Hinweise darauf, dass Christen in den palästinensischen Gebieten, aber auch in Jerusalem unter Druck geraten: Sie werden auch bespuckt und bedrängt. Es gibt Angriffe von extremistischen Siedlern auf das letzte rein christliche Dorf im Westjordanland Taybeh. Das ist nicht akzeptabel.
Wie beurteilen Sie die Lage in Syrien?
Die Lage ist schwer einzuschätzen, weil sie so dynamisch ist. Bei einem Selbstmordanschlag auf die griechisch-orthodoxe Eliaskirche in Damaskus am 22. Juli sind 22 Menschen gestorben, während sie ihren Glauben praktizierten. Gleichzeitig gab es Angriffe auf Drusen. Aber auch Alawiten und Christen sind deutlich unter Druck – wird mir berichtet. Es muss das gemeinsame Bestreben Deutschlands und der Europäer sein, die neue Regierung zu ermutigen, dauerhaft religiöse und gesellschaftliche Vielfalt aufrechtzuerhalten und zu schützen. Denn sonst ist die Gefahr groß, dass viele Menschen dort keine Perspektive für sich sehen und vertrieben werden.
Wie sieht es in Europa aus?
In der EU haben wir rechtsstaatliche Strukturen, die den Menschen ihre Religions- und Weltanschauungsfreiheit gewährleisten. Aber wenn Sie Europa weiter fassen, dann gibt es beispielsweise in der Türkei immer noch Herausforderungen. Bereits seit 1971 ist das Priesterseminar des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel im Kloster Halki auf der Prinzeninsel Heybeliada geschlossen, so dass die griechische Orthodoxie hier keinen Priesternachwuchs ausbilden kann, was seine Existenz gefährdet. Das ist ein klarer Verstoß gegen die Religionsfreiheit. Ich werde mich dafür einsetzen, dass diese theologische Hochschule wieder geöffnet wird, damit Autarkie beim Priesternachwuchs und eine gesicherte Zukunft für das ökumenische Patriarchat in Konstantinopel weiterhin gewährleistet bleiben.
Schauen Sie sich auch die Situation in den USA an?
Wir schauen in alle Länder. Ich stehe im Austausch mit dem Office of International Religious Freedom des U.S. Departments of State. Das Thema Religionsfreiheit besitzt innerhalb der US-amerikanischen Bevölkerung einen hohen Stellenwert.
Nun scheint sich die Situation in den USA ja in vielerlei Hinsicht zu verschärfen und zu radikalisieren. Bekommen Sie auch von dort besorgte E-Mails und Anrufe?
Nein.
Wie sehen Sie die Situation in China?
China bleibt ein wichtiges Thema. Die Situation des Dalai Lama und der buddhistischen Tibeter ist bedrückend. Religionsgemeinschaften müssen ihre eigenen Angelegenheiten autonom regeln dürfen, dies beinhaltet das Recht, ihre religiösen Würdenträger selbst zu bestimmen. Auch Uiguren, andere muslimische ethnische Gruppen und Christen sind von anhaltenden Repressionen betroffen und leiden teilweise unter Diskriminierung, Gewalt und Freiheitsberaubung. Das verfolgt unsere Botschaft vor Ort sehr aufmerksam. Unter anderem in internationalen Gremien geben wir unserer Besorgnis über Beschränkungen der Religionsfreiheit Ausdruck.
Religionen sind ambivalent. Es gibt nicht nur religiöse Menschen, die in ihrer Religionsausübung unterdrückt werden, sondern auch Unterdrückung, die von Religionen ausgeht.
Ja, das ist so. Religiöse Akteure können Täter oder Opfer von Diskriminierung sein. Diese Problematik ist uns sehr bewusst. Ich kann für mich persönlich sagen, dass ich mich gegen jegliche Radikalisierung einsetze, etwa auch wenn Religion als Vorwand für Hass und Spaltung in der Gesellschaft missbraucht wird.