Mit dem Hashtag "#wirdgut" werben Sie für mehr Hoffnung und Zuversicht. Sie gehören der SPD-Fraktion an, die mit der Union die Regierungsfraktion im Bundestag ist. Warum machen Sie nicht einfach bessere Politik?
Lars Castellucci: Wenn morgen alle Migrantinnen und Migranten, die keinen Aufenthaltsstatus haben, nicht mehr im Land wären, alle Brücken saniert und die Bahn pünktlich fahren würde – wäre die Laune dann schon besser?
Und was antworten die Menschen darauf?
Was genau bessere Politik sein soll, bewerten die Menschen sehr unterschiedlich. Mein Eindruck ist: Im Land ist eine große Orientierungslosigkeit spürbar. Wenn man den Plan kritisiert, den ein Land verfolgt, ist das eine Sache. Aber wenn man den Plan nicht erkennen kann, wird es schwierig, Laune und Stimmung zu verbessern. Wir müssen eine Idee vermitteln, wo es hingehen soll.
Lars Castellucci
Das ist Ihre Aufgabe als Politiker. Aber sehen Sie neben der Politik auch andere Gruppen in der Pflicht, die Stimmung aufzuhellen?
Ich will den Ball nicht einfach in das andere Feld spielen. Wenn wir selbst schlecht gelaunt und nicht überzeugt sind von dem, was wir tun, werden wir niemanden dazugewinnen. Trotzdem glaube ich, dass wir die Stimmung nicht allein der Politik überlassen können.
Wer hilft noch?
Zum Beispiel die Unternehmen, denn sie müssen Investitionsentscheidungen treffen. Das tun sie nicht, wenn sie nicht die Hoffnung hätten, dass sich das auszahlt. Kunst und Kultur können uns anregen, neu zu denken. Ich schaue auf Kirchen und Religionsgemeinschaften. Wir sind als Christen ja sogar zur Hoffnung aufgefordert. Wenn jeder an seinem Platz mithilft, haben wir einen Einfluss auf die Laune im Land.
Wie versuchen Sie das persönlich?
Ich lebe regelrecht auf, wenn ich rausgehe und in Kontakt mit anderen komme. Leider ist das für viele Menschen keine Selbstverständlichkeit mehr. Die Zahlen sind eindeutig: Einsamkeit, Vereinzelung und fehlende soziale Bindungen nehmen zu. Das hat nicht viel mit Politik zu tun, auch wenn Politik mehr tun könnte, um der Einsamkeit entgegenzuwirken. Aber Vereinzelung ist eine Ursache für die schlechte Stimmungslage. Wir sollten viel mehr Menschen erzählen, was passieren kann, wenn man sich einbringt.
Denken Sie an eine persönliche Erfahrung?
Als Schüler setzte ich mich gemeinsam mit anderen dafür ein, dass wir einen weiteren Spielplatz im Wohngebiet bekommen. Und dann hatte ich Glück: Die Stadtverwaltung lud uns ins Rathaus ein und hörte sich unsere Ideen an. Es kam nichts dabei rum, zwei Straßen weiter gab es einen Spielplatz, den wir auch hätten nutzen können. Aber viel wichtiger war dieses Gefühl: Ich werde gesehen, man nimmt mich ernst! Dieses Gefühl des Gesehenwerdens heute in die Breite zu tragen, schafft die Politik nicht allein. Es gab einmal eine Jahreslosung: "Du bist ein Gott, der mich sieht." Wir können Gott auch rausnehmen aus dem Satz. Es geht darum, Menschen, die das Gefühl haben, sie seien gar nicht im Blick, zu ermutigen, sich Gehör zu verschaffen, sichtbar zu sein. Das wäre ein totaler Zuversichtskatalysator.
Sie sind in einer Partei, bringen sich dort ein. Kann man auch außerhalb einer Parteikarriere Zuversicht verbreiten?
Unbedingt! Wir müssen sehr viel mehr experimentieren. Dafür gibt es ein gutes Beispiel: die "Werkstatt der Mutigen". Die Grundidee ist: Engagierte Menschen kommen mit Bundestagsabgeordneten zusammen, beide lernen voneinander, und zwar lösungsorientiert. Wir sehen uns gemeinsam erfolgreiche Projekte an, die mutige Gestalterinnen und Gestalter überall in Deutschland angeschoben haben. Das sind oft Menschen, für die Parteipolitik keine Rolle spielt. Auch Bürgerräte, in denen Menschen vor Ort an der Lösung von Problemen beteiligt werden, bringen uns weiter. Ich finde es auch gut, wenn Engagement erst mal aus Widerstand und Protest erwächst.
"Wer nicht aktiv ist, versinkt leichter in der Depression als jemand, der seine Spielräume nutzt"
Lars Castellucci
Wie meinen Sie das?
Ich habe es miterlebt, als es um den Ausbau eines Straßenbahnnetzes in einer Großstadt ging. In der Stadtpolitik dachte man, alle freuen sich, wenn man entferntere Stadtteile anbindet. Aber es bildete sich eine Bürgerinitiative. Das kann man beleidigt als Gegnerschaft auffassen. Aber es stellte sich heraus, dass viele der Anliegen total nachvollziehbar waren. Ältere Menschen meldeten sich zu Wort: Der Bus fuhr direkt durch ihre Straße, zur Bahn würden sie laufen müssen. Solche Einwände veränderten und verbesserten die Planung. Das war anstrengend, brachte am Ende aber alle weiter. Auch Protestgruppen befähigen zur Hoffnung, auch in ihnen werden Menschen aktiv. Wer nicht aktiv ist, versinkt leichter in der Depression als jemand, der seine Handlungsspielräume nutzt.
Es ist ja fast ein Wunder, dass gerade Sie über Zuversicht reden. Sie beschäftigen sich als Parlamentarier mit sehr harten Themen, mit dem assistierten Suizid oder gerade jüngst mit den Menschenrechten in palästinensischen Gebieten … Sind auch Sie manchmal mit Ihrer Zuversicht am Ende?
Nein, ich habe immer ein "Jetzt erst recht!" und ein "Dennoch" im Kopf und im Herzen. Inmitten der Krisen sieht man plötzlich wieder, wie Menschen doch versuchen, Frieden möglich zu machen. In Israel gibt es immer noch gemischte Gruppen, die nicht aufgeben und daran glauben, dass ein Zusammenleben von Juden und Palästinensern möglich sein muss. Das übersieht man, wenn man nur die Nachrichten schaut und von den Katastrophen überwältigt ist. Oder wenn man – was mir viele Leute berichten – aufhört, Nachrichten zu schauen, weil man sie gar nicht mehr erträgt. Das halte ich für eine Riesengefahr.
Und dieses "Dennoch!" halten Sie auch aufrecht, wenn Sie als Beauftragter der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt im Westjordanland von jüdischen Siedlern beschimpft werden?
Ja, denn nur kurz nach diesem Erlebnis besuchte ich Dörfer in den palästinensischen Gebieten und staunte, wie ruhig die Menschen dort sind. Sie haben mir vermittelt, einfach nur in Frieden leben zu wollen. Sie hätten Grund zur Verzweiflung, aber sie haben auch Unterstützung aus Nichtregierungsorganisationen, von Menschenrechtsanwältinnen, so dass sie sich nicht allein gefühlt haben. Vielleicht hat auch mein Besuch für eine gewisse Zeit geholfen. Ich persönlich kann mich an dem hochziehen, was von Mensch zu Mensch an tollen Begegnungen und tollem Engagement sichtbar ist, selbst in den größten Katastrophen.
"Wir sind ein tolles Land. Wenn eine Flutkatastrophe kommt, helfen die Menschen aus dem ganzen Land zusammen"
Lars Castellucci
Glauben Sie, das mit der Hoffnung und der Zuversicht fällt uns in Deutschland besonders schwer?
Wir sind ein tolles Land. Wenn eine Flutkatastrophe kommt, strömen die Menschen aus dem ganzen Land zusammen und helfen. Es muss uns aber auch politisch gelingen zu sagen: "Hey, wir haben was vor, es wird gut, wenn wir uns gemeinsam dafür engagieren, mach mit!" Und ich mag auch unsere Skepsis und Zurückhaltung. Wir sind ja auch deshalb ein Land, in dem das Engagement gegen den Klimawandel so groß geworden ist, weil wir eben nicht nur zufriedene und fröhliche Menschen um uns herum haben, sondern viele kritische, gut gebildete und skeptische Menschen, die sich auch nicht einfach nur etwas vormachen lassen. Vielleicht haben wir auch die Herausforderung eines älter werdenden Landes, in dem Optimismus schwerer zu erzeugen ist als in ganz jungen Ländern. Aber wir sind so, wie wir sind. Es geht nicht darum, einer Gruppe einen Vorwurf zu machen, sondern zu überlegen, wie man die positiven Kräfte stärken kann.
Wie kann aus Skepsis ein Anpacken werden?
In der Geschichte der SPD gibt es ein gutes Beispiel: Hermann Scheer, er stammte aus meinem Landesverband, ich kannte ihn noch persönlich. Wir nannten ihn "Vertreter der Sonne auf Erden", weil er die Solarenergie groß gemacht hat. Heute stammt weit mehr als die Hälfte des Stroms in Deutschland aus erneuerbaren Energien. Das war Hermanns Vision, für die er verlacht wurde, die er aber ab 1998 in konkrete Programme übersetzt hat und zu der mittlerweile Hunderttausende beitragen, und sei es mit einem Balkonkraftwerk. Wir können nicht nur über abstrakte Begriffe wie Transformation oder Zeitenwende reden, ohne zu sagen, wie wir alle sie mitgestalten können.
Was können die Kirchen tun, um dafür einen Impuls zu setzen?
Mich inspiriert die Botschaft des in diesem Jahr verstorbenen Papstes Franziskus: Jesus Christus ist unser Retter, und das Bild, das er gezeichnet hat, war das einer Kirche, die ein Lazarett nach einer Schlacht ist. Ihre Aufgabe ist, bei den Menschen zu sein, die Wunden zu versorgen, die Wunden zu heilen. Glaube, Liebe, Hoffnung. Das mit der Liebe kann ich als Politiker schwer erreichen. Da merkt man doch, wofür man die Kirche braucht: Dass Menschen sich geliebt fühlen können, egal wer sie sind; egal, was in ihrem Leben gelungen ist; egal, wo sie herkommen. Dann halten sie auch das besser aus, was in der Welt los ist.
In der vorigen Legislaturperiode haben Sie als Abgeordneter ein schwieriges Thema federführend begleitet, den assistierten Suizid. Keiner der Anträge, eine verfassungskonforme Regelung zu finden, hatte eine Mehrheit. Machen Sie weiter?
Ja, denn das ist etwas, das mir persönlich Hoffnung gibt, dass wir über Partei- und Fraktionsgrenzen Brücken bauen und uns überlegen, was wir als Parlament zu solch schwierigen Themen zu sagen haben. Wenn wir es schaffen, tagespolitische Differenzen mal zur Seite zu schieben, ist das eine stärkende Erfahrung. Von den Expertinnen und Experten lerne ich als Abgeordneter: Weit über 90 Prozent der Menschen, die sagen, sie wollen nicht mehr leben, sind in einer persönlichen Krise oder in einer Gesundheitskrise. Mit menschlicher Nähe, auch mit einer ärztlichen Behandlung kann es gelingen, den Lebenswillen wieder zu entfachen. Viele erleben es in der eigenen Familie, dass Menschen sagen, eigentlich reiche es ihnen jetzt. Und wenn man dann sagt: "Wir kommen nächste Woche wieder zu Besuch", hört man: "Schön, da freue ich mich drauf." Der Schlüssel sind die sozialen Beziehungen.