Die Wende? Hat Nadja Uhl verschlafen. Als sie am 10. November 1989 aufstand, wunderte sie sich: kein Schwein zu Hause. Sie musste sich fertig machen für die Schule, ging ins Bad, knipste das alte Röhrenradio ihres Großvaters an, auf dem immer RIAS 2 lief, Staatsgebiet der DDR hin oder her.
Da gab es nur knallende Champagnerkorken zu hören, von der offenen Mauer wurde gefaselt. Und Nadja Uhl blieb im Brandenburgischen die Zahnbürste im Mund stecken. "Dass das passiert", sagt sie, "war unfassbar. Und in etwa so wahrscheinlich, wie dass genau jetzt ein Ufo landet." Sie war allein im Bus zur Schule, "in der Klasse waren wir dann drei Hanseln", und der Direktor, ein Kommunist der alten Schule, sagte in seiner Erschütterung, da könne man mal sehen, wer den wahren Klassenstandpunkt hat. Nadja Uhl setzte sich postwendend in den nächsten Bus und fuhr nach Westberlin. "Ich war 17", sagt sie, "und die Welt hat sich geöffnet."
Es ist eine Menge passiert seitdem in ihrer offenen Welt. Und dann war doch auch alles ganz klassisch: durchtanzte Nächte in Kreuzberger Clubs, Abi, Schauspielschule, Theater, ach nee, doch lieber Film und Fernsehen. 2000 ein Silberner Bär für "Die Stille nach dem Schuss", da ging es dann richtig los mit ihrer Karriere, seitdem schwingt immer Hochachtung mit, wenn ihr Name fällt. So wandelbar. So überzeugend. Und wie sie immer dahin geht, wo’s wehtut. Nadja Uhl, 47 Jahre alt, gilt als eine der besten Schauspielerinnen des geeinten Deutschlands.
ZDF-Film "Preis der Freiheit" hat soviel mit Uhls Geschichte zu tun wie kein anderer bisher
Am 4., 5. und 6. November ist sie im ZDF in einer Rolle zu sehen, die ihr schauspielerisch vielleicht gar nicht mal so viel abverlangt hat wie viele vorher. Aber kaum eine hat so viel mit ihrer eigenen Geschichte zu tun. "Preis der Freiheit" heißt der Dreiteiler von Produzentin Gabriela Sperl und Regisseur Michael Krummenacher, der vor allem im Ostberlin der Jahre 1987 bis 1990 spielt.
Es geht um drei unterschiedliche Schwestern – Nadja Uhl spielt Lotte, eine alleinerziehende, zunächst unpolitische Buchhändlerin, die über ihre Empörung über den Müllhandel mit dem Westen erst in die Umweltbewegung und dann in den aktiven Widerstand rutscht. Ihre Schwester Margot, gespielt von Barbara Auer, ist ein ranghoher Kader bei der KoKo, der "Kommerziellen Koordinierung", die für die Beschaffung von Westdevisen jedes noch so krumme Geschäft mit der angeblich feindlichen BRD eingeht.
Auch das Freikaufen von mehr oder minder ausreisewilligen DDR-Bürgern fällt in Margots Bereich. Dieses Geschäftsmodell wird auf der Westseite von Ina (Nicolette Krebitz) koordiniert, die eigentlich die Schwester von Lotte und Margot ist und von ihrer Familie in Ostberlin für tot gehalten wird . . . Es ist die Geschichte einer zerfallenden Familie in einem zerfallenden Land, und selbst wenn man das Gefühl hat, 30 Jahre später alles schon zu wissen: Der menschliche Faktor, die immer wieder anders erzählten Einzelschicksale, macht den "Preis der Freiheit" extrem sehenswert.
Nadja Uhl wurde "glühende Antifaschistin"
Nadja Uhl ist in Stralsund und Henningsdorf aufgewachsen, da war Westberlin einmal über den See spucken entfernt. Sie kommt aus einer Großfamilie, in der es alles gab bis auf einen Vater. Es wurde viel geredet, am Esstisch meist anders als vor der Tür, erinnert sie sich. Da waren Erwachsene wie ihr Großvater, der an das Gute im Menschen und in der Idee der DDR geglaubt hat. Sie hat es ja auch getan. Ihre Kindheit hat sie als "wunderschön" empfunden. Es hat ihr gefallen, Teil dieser sozialistischen Gemeinschaft zu sein. Altstoffe sammeln, für die Alten einkaufen gehen, "das Richtige machen", sagt sie.
Sie ist nach Buchenwald gefahren, wurde glühende Antifaschistin, "mehr Idealismus geht nicht. Aber ich habe auch gesehen, dass das alles nicht mehr zählt, wenn du nicht das öffentlich verordnete Lied singst." Ein Ingenieur in ihrer Familie wurde ans Fließband versetzt, weil er sich weigerte, für die Stasi zu spionieren, hoch qualifizierte Akademiker mussten plötzlich den städtischen Rasen mähen. "Keiner von uns hat je für die Stasi gearbeitet, das ging nicht, da waren sich alle einig in der Familie", sagt sie, "dieses Rückgrat, dieser kollektive Widerstand im Kleinen, der hat mich geprägt."
Nadja Uhls Onkel saß in Bautzen in Haft
Und plötzlich war dieser Widerstand gar nicht mehr so klein. Ihre Onkel und Tanten begannen Mitte der 1980er, auch öffentlich das System zu hinterfragen. Einer ihrer Onkel hatte sich der Umweltbewegung angeschlossen und ist dafür erst nach Bautzen in den Knast gewandert und dann samt Familie mit dem Interzonenzug in den Westen abgeschoben worden. "Sie waren einfach weg, es fühlte sich an wie für immer", sagt Uhl. Ein Verlust, der für sie, ein Mädchen von 13 Jahren, schwer zu begreifen war. "Verluste gehören zu meinem Leben", sagt sie, "aber ich bin eben auch mit zivilem Ungehorsam groß geworden."
Nadja Uhl hat ihre Grenzen gespürt damals. Sie mochte ihr Leben. "Aber dass ich nie an der Côte d’Azur sitzen werde, dass ich nie eine tolle Band in Westberlin sehen würde – diese Gewissheit hatte etwas Endgültiges für mich, als ich 13, 14, 15 war", sagt sie. "Dass da ein Staat über den weiteren Verlauf meines Lebens in engen Bahnen bestimmen würde – diese Erkenntnis hat sich über Jahre hinweg in mir aufgebaut. Und das mündete dann in fünf verzweifelten Minuten, in denen alles in mir aufgebrochen ist." Sie hat erst geheult damals, bis nichts mehr in ihr war. Und dann ist sie in die innere Revolte gegangen.
Nadja Uhl
Stephan Bartels
Sie hat gemerkt, dass es vielen so ging, "da war wieder so ein verbindendes Element in der DDR". Dieses Grummeln im Bauch einer ganzen Nation treibt die Handlung von "Preis der Freiheit" voran. Aber im Leben wie im Film gehen nicht alle damit auf die gleiche Art um. Nadja Uhls Figur Lotte, die 1987 in etwa so alt ist wie ihre Mutter damals, hat einen 17-jährigen Sohn, nah dran an ihrem eigenen Alter in diesen weltverändernden Jahren.
Dieser Sohn – Ingo – wird nach einem Genesis-Konzert vor der Westseite des Brandenburger Tors, dem er vom Osten aus zuhört, von der Volkspolizei verhaftet. Sein Hass auf den Staat findet im Gefängnis ein Auffangbecken – eine Gruppe von Neonazis kümmert sich um ihn, er spürt eine Aufgehobenheit, die ihm der Staat nicht mehr geben kann. Und auch nicht seine Mutter.
Nadja Uhl hat zwei Töchter, dreizehn und zehn Jahre alt. Das, was ihre Rollenfigur erlebt, steht ihr in den kommenden paar Jahren auch bevor: Damit klarzu kommen, wie die eigenen Kinder erwachsen werden, sich ihrem Zugriff entziehen, wie sie für ihre Mädels vielleicht nicht an Bedeutung, aber an Einfluss verlieren wird.
Die Schauspielerei: Uhls Strategie, Wunden zu verarbeiten
Das ist schwer auszuhalten und das Fatale am Kinderhaben: Man kann nie mit Sicherheit vorhersagen, dass alles gutgeht, dass das eigene Kind einen guten Weg einschlägt, dass es nicht in Kreise gerät, die den eigenen Werten diametral entgegenstehen. Nadja Uhl setzt der Unsicherheit Liebe entgegen, sie sage ihren Kindern oft, dass die Welt schöner ist, weil es sie gibt. Sie setzt, sagt sie, Regeln und Grenzen. Aber sie erlaubt sich auch Schwäche zu Hause, wenn die ihr Inneres abbildet, wenn sie authentisch ist, "damit können Kinder gut leben. Ich sage ihnen auch: Erwartet bitte nicht, dass ich euch die Welt erkläre." "Ich bin doch selber oft ratlos bei all dem teuflischen Zeug da draußen."
Als Kind wollte sie Tierärztin werden, heute träumt sie manchmal davon, auf Gärtnerin umzuschulen, "die Natur ist so zeitlos, sie ist mein Ort der inneren Einkehr". Am Ende musste es aber wohl doch die Schauspielerei werden, sagt sie: "Es gibt offenbar einen Zwang, diesen Beruf zu ergreifen, um die Wunden der Kindheit aufzuarbeiten." Über die meisten Wunden redet sie nicht. Über ihren Vater schon. Beziehungsweise: über dessen Abwesenheit.
Sie hat ihn erst kennengelernt, als sie in ihren Dreißigern war. Und irgendwie hatte sie bis dahin auch gedacht, dass er ihr nicht fehlen würde. Doch als sie selbst Mutter wurde, ist etwas aufgebrochen in ihr. Ihr ist klar geworden: Da war schon immer diese Leerstelle, und die hat diffus ein Gefühl getriggert, nicht richtig zu sein. Nadja Uhl sagt: "Die Abwesenheit eines Elternteils bringt uns ganz früh bei, dass wir vermeintlich nicht liebenswert sind."
Das Großfamiliending steckt in Nadja Uhl
Sie hat um ihren 40. Geburtstag herum aufgehört, auf die Liebe ihres Vaters zu warten, "das hat Blockaden gelöst". Ihr Vater hat ohnehin nur ein kurzes Gastspiel in ihrem Leben gegeben, sie kommt heute damit klar. "Aber erklär mal deinen Kindern, warum ihr Opa sich nicht um sie kümmert!", sagt sie. Doch permanent in der Wut bleiben – das geht ja auch nicht.
Nadja Uhl lebt in Potsdam in einem Riesenhaus am Jungfernsee. Sie hat es 2005 mit Kay Bockhold gekauft, ihrem Freund und Manager und dem Vater ihrer Kinder, und mit drei Freunden, da war das Ding ein ruinöser Traum von einer Art Kommune. Inzwischen ist es eine Kombination aus Dauerbaustelle und Mehrgenerationenhaus, auch eine syrische Flüchtlingsfrau habe schon bei ihr gewohnt.
Das Großfamiliending steckt unauslöschbar in ihr. Sie will dafür sorgen, dass ihre Kinder selbst denken lernen, ganz unideologisch, "Ideologiekram langweilt mich". Ihre große Tochter hat in der Schule als Hausaufgabe bekommen, einmal in der Woche Nachrichten zu schauen. "Sie hat zu mir gesagt: Mama, da wird ja ganz schön viel Angst geschürt", sagt Uhl. "Da bin ich fast aus dem Sessel gekippt."
Sie weiß, dass man einer wie ihr zuhört, aber sie will lieber selbst zuhören. "Die Welt", sagt sie, "fokussiert sich zurzeit auf alles, was uns teilt. Mich interessiert viel mehr, was uns eint."