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Es ist immer erhellend, etwas Eigenes mit den Augen eines anderen zu betrachten. An einem Vormittag habe ich einen Bekannten über den Kirchentag geführt, der noch nie auf einem solchen und auch noch nie in Hannover gewesen war. Im deutschsprachigen Ausland lebend, hatte er bisher nur aus der Ferne herübergelinst.
Ursprünglich aus einem evangelikalen Milieu stammend, hatte er zur Vorbereitung kurz in den asozialen Netzwerken nachgeschaut, was die ehemaligen Kumpels so schrieben. Eifrig müssen sie das Programm nach Skandalösem oder Skandalisierbarem gescannt haben. Das Wenige, was sie fanden, haben sie dann krachend hochgezogen. So entstand wieder einmal das gute alte Feindbild vom "links-grün versifften" Kirchentag.
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Doch während wir beide freundlich plaudernd durch die heiter belebten Hannoverschen Straßen und über schönen Plätze schlenderten, begegnete meinem Spaziergast eine andere Wirklichkeit als die, die er erwartet hatte. Nein, es zogen keine antikapitalistischen Horden plündern durch die Innenstadt. Nein, ältliche, weiße, heterosexuelle Männer wie wir beide wurden nicht geteert und gefedert. Nein, niemand wurde genötigt, auf der Stelle sein Geschlecht zu ändern, homosexuell zu werden oder Koran-Suren auswendig zu lernen.
Natürlich wusste mein Bekannter, dass er bisher nur mit einem negativen Klischee beliefert worden war. Aber weil eben immer etwas hängen bleibt, war er doch verwundert: "Johann, das ist hier ja alles überhaupt nicht revolutionär. Es ist eher… " Hier stockte er, weil er nach einem passenden Adjektiv suchte. "Es ist hier eher alles so harmlos."
Ich habe gelacht. "Harmlos" ist zwar kein Kompliment, aber es passt, denn es widerspricht der antikirchlichen Propaganda hartrechter Einflussnehmer sowie den Kommentatoren der "Jungen Freiheit", von "Tichys Einblick", aber auch der sich dahinradikalisierenden "Welt".
Man kann dem "Harmlosen" zudem einen Sinn abgewinnen. Es bezeichnet nämlich all das, was anderen keinen Harm, Gram, Schmerz oder Schaden zufügt, sondern Gutes tut und Freude schenkt.
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Das zeigte sich beim Kirchentag in alltäglichen Verrichtungen: Man wartete geduldig in Schlangen, pöbelte nicht, wenn es zu lange dauerte, sondern unterhielt sich mit anderen Wartenden. Es zeigte sich im Gespräch: Man hörte einander zu, ließ andere ausreden und formulierte das Eigene so, dass andere mit anderen Auffassungen darüber nachdenken konnten. Es zeigte sich in all den vielen Bibelarbeiten und Gottesdiensten: Man hörte, schwieg, sang und betete zu dem, der die Quelle aller Harmlosigkeit ist, nämlich zu Gott, dem treuen Menschenhüter.
Sicher, ein Kirchentag ist nichts für Snobs. Freundinnen und Freunde neuester modischer Trends würden hier enttäuscht. Auch wer sich an gefährlichem Denken delektiert oder steile Provokationen braucht, damit sein Hirn sich lebendig anfühlt, wird leer ausgehen. Wer aber um den tieferen Sinn des Harmlosen und seine besondere aktuelle Bedeutung weiß, wurde ziemlich reich belohnt.
P.S.: Übrigens, liebe Kirchenfeinde von X, "Welt" und Co., ihr müsst euch mal entscheiden. Ihr könnt nicht sagen, dass die evangelische Kirche eine linksaktivistische NGO sei, und zugleich behaupten, dass sie ein Ausführungsorgan großkoalitionärer Obrigkeiten sei. Am besten, ihr kommt beim nächsten Mal selbst vorbei. Dann führe ich euch gern herum, ganz lieb und harmlos.