Sie halten die Abschlusspredigt auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag (DEKT). Was versprechen Sie sich von dieser Predigt?
Mein Wunsch ist, dass die Predigt neue Gedanken anstößt, die etwas in den Zuhörenden bewirken. Das wäre schon viel. Ein Problem bei Predigten ist ja, dass einer redet und alle anderen zuhören müssen. Und bei der Abschlusspredigt des DEKT kommt noch dazu, dass die Gemeinde so groß und unterschiedlich ist, dass ich nicht einmal ansatzweise alle kenne und ich sowieso nicht alle erreichen kann. Für mich ist dieser Gottesdienst der Abschluss des gesamten Kirchentagsgeschehens, also das, was man liturgisch die "Sendung" nennt. Ich möchte den Menschen das Gefühl mitgeben, wir sind viele und die Kirche kann etwas bewegen.
Hanna Reichel
Um was wird es gehen?
Das mir vorgegebene Thema ist "Nichts kann uns trennen". Damit kann ich mich sehr gut identifizieren: mutig und beherzt den Polarisierungen in der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen.
Einige der letzten Predigten haben stark polarisiert. Wie gehen Sie damit um?
Wo Wahrheit angesprochen und aufgedeckt wird, entstehen Polarisierungen. Das ist schon beim Kreuz so gewesen. Am Kreuz wird klar, dass Gott anders ist, als Vernunft, Weisheit und Wille zur Macht ihn gern haben wollen. Deshalb sagt Paulus: Das Kreuz ist ein Skandalon. Wenn eine Predigt dazu führt, dass Menschen sich aufregen, ist das also nicht zwangsläufig etwas Schlechtes, es kann ja daran liegen, dass eine Wahrheit aufgedeckt wurde, die Menschen nicht gern hören wollen! Aber Aufregung ist kein Selbstzweck, sondern steht eben im Dienst dieser Wahrheit. Wenn die Aufregung dazu führt, dass die eigentliche Botschaft nicht mehr gehört werden kann, ist sie nicht im Sinn der Sache.
"Aufregung ist kein Selbstzweck, sondern steht eben im Dienst dieser Wahrheit"
Hanna Reichel
Im Moment gibt es heftige Diskussionen darüber, ob die Kirche politisch sein soll. Die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hat in einem Interview gemeint, die Kirche solle sich nicht in tagesaktuelle Debatten einmischen. Was meinen Sie?
Die Kirche darf sich nicht mit bestimmten Parteien und Gruppen identifizieren lassen oder gar eine eigene politische Macht und Gewalt ausbilden. Aber Kirche ist immer politisch. Eine Kirche, die so tut, als sei sie unpolitisch, unterstützt den Status quo.
Lesen Sie hier, warum ein Theologe sagt, die Bibel sei ein gefährliches Buch
Julia Klöckner hat im Interview gesagt: "Klar kann sich Kirche auch zu Tempo 130 äußern, aber dafür zahle ich jetzt nicht unbedingt Kirchensteuer." Ist die Forderung nach dem Tempolimit Ihrer Meinung nach aus theologischen Gründen notwendig gewesen?
Theologisch muss diese Entscheidung nach einer Regel getroffen werden: Geht es hier um den Kern des Evangeliums? Wenn nein, sollte die Kirche da den Raum weit offen halten. Aber wenn ja, dann muss die Kirche sich klar positionieren. Diese Abwägung ist schwer. Zwei Beispiele aus der Geschichte, bei denen uns heute sehr einleuchtet, dass es theologisch notwendig war, Einspruch zu erheben. Deutschland zur Nazi-Zeit: Darf der Staat Menschen jüdischer Abstimmung vom Pfarramt ausschließen und damit ein rassistisches Kriterium über das stellen, was in der Taufe passiert? Südafrika zur Zeit der Apartheid: Kann ein Abendmahl an nach Hautfarben getrennten Tischen die Wirklichkeit der Versöhnung in Christus verkörpern?
Ausschluss von Menschen jüdischer Abstammung oder Trennung von Menschen nach Hautfarbe, das sind sehr große Themen. Was bedeutet Ihre Regel für die angesprochene Frage nach dem Tempolimit?
Meine beiden Beispiele mögen uns heute groß erscheinen, aber zunächst waren das auch nur kleine Paragrafen im Kirchenrecht. Und andererseits ist die Klimakatastrophe, als Argument für das Tempolimit, sicher eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Wie müssen wir leben, damit nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch das der Lebenssysteme, in die wir eingebettet sind, weiter existiert? Das ist eine Riesenfrage. Und dazu kann man aus dem Glauben heraus nicht schweigen. Aus christlicher Perspektive ist individuelle Bequemlichkeit keine besonderes Gut. Ihre Bedeutung wird im Gegenteil sogar infrage gestellt. Dass der Glaube durchaus Verzicht und sogar Opfer bedeutet, ist hingegen nicht von der Hand zu weisen, auch wenn Leute vielleicht nicht gern dafür zahlen, das zu hören. Das zu sagen, auch in einer Predigt, ist wichtig.
"Kirche ist größer als die nationalen oder politischen Kontexte"
Hanna Reichel
Sie leben seit über sieben Jahren in den USA, vorher waren Sie Deutschland. Wo befindet sich Ihr Herz?
Ich lebe schon immer in verschiedenen Welten: Ich bin in Venezuela und Argentinien aufgewachsen, habe eine Zeit lang im Libanon studiert. Für mich ist daher klar: Kirche ist größer als die nationalen oder politischen Kontexte, in denen wir leben. Man zieht irgendwo hin und hat mit den Menschen dort keine gemeinsame Sprache oder Kultur, aber auf der Grundlage, dass wir alle zum Leib Christi gehören, können wir trotzdem zusammenkommen. Das prägt mich sehr.
Lesen Sie hier mehr über rechte Christen in den USA
Sie kommen aus den USA nach Hannover, um die Predigt zu halten. Spielt dieser Blick von außen eine Rolle?
Das Thema "Nichts kann uns trennen" ist ja gerade überall sehr aktuell. Faktisch stimmt der Satz ja erst einmal nicht. Wir sind durch vieles getrennt. Aber das war bei Paulus auch nicht anders, der diesen Satz im Römerbrief schreibt: Es geht bei ihm ja dauernd um tiefe religiöse und soziale Spaltungen mitten durch die Gemeinden und um handfeste Konflikte mit den Mächten und Gewalten drumherum. Paulus’ Botschaft ist ja nicht, dass wir uns alle liebhaben und uns nichts voneinander trennen kann. Sondern, dass nichts von all den noch so bedrohlichen Trennungen uns von der Liebe Gottes trennen kann. Wenn Gottes radikale Zusage mir gilt, dann gilt sie leider, leider auch den anderen, sogar denen, die mir fremd sind oder die ich unglaublich nervig finde.
"Christliche Nächstenliebe richtet sich gerade nicht nur an die, die mir sowieso nahestehen"
Hanna Reichel
Die US-Politik scheint im Moment eher zu spalten.
... und tut ja so, als würde sie sich dabei auf christliche Werte stützen: Ich denke zum Beispiel an die Aussagen des Vizepräsidenten J. D. Vance zum Ordo Amoris, zur traditionellen Ordnung der Liebe. Vance hat gesagt: Natürlich liebe ich zuerst meine Familie, dann meine Nation und später vielleicht irgendwann auch den Rest der Welt. Er möchte also "America first" irgendwie christlich taufen, aber da hat Vance etwas grundsätzlich nicht verstanden. Christliche Nächstenliebe richtet sich gerade nicht nur an die, die mir sowieso nahestehen. Weil Gottes Liebe allen gilt, muss auch meine Liebe größer und weiter sein als meine persönliche Sympathie oder meine politischen Allianzen. Darum wird es in der Predigt auch gehen.
Sie arbeiten an einer Universität in den USA. Wie wirkt sich die Politik der Trump-Regierung auf Ihre Arbeit aus?
Das ist das bestimmende Thema. Ganz klar: Es ist bedrohlich. Unsere Hochschule ist eine private, kirchliche Hochschule, die nicht auf öffentliche Gelder angewiesen ist, sondern hauptsächlich von einem Stiftungsvermögen lebt. Das heißt, wir sind zum Glück nicht so direkt durch Mittelkürzungen angreifbar. Aber ein Drittel unserer Studierenden sind internationale Studierende. Und da ist die Angst auf dem Campus mit Händen zu greifen. Was machen wir, wenn Menschen die Visa aberkannt werden – oder gar der Grenzschutz plötzlich auftaucht? Wie ist die Gesetzeslage? Müssen wir Polizisten in den Hörsaal lassen? Dürfen wir Studierende in unseren Büros verstecken? Wie kann das Studium weitergehen, wenn Menschen der Status aberkannt wird?
"Der größte institutionelle Widerstand kommt aktuell von den Gerichten"
Hanna Reichel
Es gibt also Widerstand?
Der größte institutionelle Widerstand kommt aktuell von den Gerichten. Und natürlich gibt es Proteste auf den Straßen, die wachsen auch. Für mich ist es ermutigend, dass mittlerweile eine Reihe von renommierten Institutionen der Hochschullandschaft nicht einfach einknicken und machen, was verlangt wird. Es gab gerade einen Brief, der von 150 Hochschulpräsidentinnen und Präsidenten unterzeichnet wurde. Darin steht: Wir lassen uns nicht einfach in die Wissenschaftsfreiheit eingreifen. Aber gleichzeitig gibt es viele Einrichtungen, die sich vorauseilend anpassen.
Wie sieht diese Anpassung aus?
Forschungsanträge werden nicht gestellt oder anders formuliert. Veranstaltungen werden umbenannt, Stellen nicht wiederbesetzt, angesehene Kolleginnen und Kollegen wechseln ins Ausland. Auch an meiner Hochschule sind die ersten Studierenden ausgereist. Viele ziehen sich aus dem öffentlichen Spotlight zurück. Und für beides gibt es leider gute Gründe. Für mich ist es aber auch besonders wichtig, als Theologie und Kirche dagegenzuhalten. Hier in den USA sind öffentlich vor allem solche Formen des Christentums dominant, die individuelle und nationale Stärke feiern und der Ausgrenzung von Immigrantinnen und Immigranten und von trans und queeren Menschen Wasser auf die Mühlen gießen. Da geht es für mich darum, öffentlich zu sagen: Der christliche Glaube steht für die Überwindung unserer kleinkarierten Liebe durch Gottes Liebe, die so weit ist, dass sie unsere kleinbürgerliche Vernunft aufsprengt. Und darum muss der christliche Glaube konkret für Gerechtigkeit, Solidarität, und den besonderen Schutz der Schwachen aufstehen.
Lesen Sie hier: Ist Gott queer?
Haben Sie manchmal schon bereut, in die USA gegangen zu sein?
Bereut nicht, aber die größer werdende Unsicherheit für Einwanderer, Transmenschen und die, die ideologisch nicht auf Linie sind, ist natürlich spürbar. Es werden ja Menschen an der Grenze aufgehalten oder ausgewiesen oder die Visa werden nicht verlängert, auch ohne Rechtsgrundlage und Rechtsweg. Insofern bin ich erleichtert, jetzt die Staatsbürgerschaft zu haben. Aber ich fühle mich auch verpflichtet. Immerhin musste ich einen Eid auf die Verfassung schwören. Das gibt mir jetzt auch das Recht, mich einzumischen, wenn diese Verfassung angegriffen wird. Ich habe es also nicht bereut, hier ist jetzt der Ort, an dem ich meine Arbeit machen muss.
"Der Schaden im politischen System ist jetzt schon verheerend"
Hanna Reichel
Wie schauen Sie in die Zukunft? Ist die US-Demokratie stark genug, Trump zu überleben?
Ich bin natürlich kein politischer Analyst. Hoffnung macht, dass es immer mehr Protest gibt. Aber auch, dass Trumps Politik die Inflation steigen lässt und es daher sein kann, dass sich viele seiner Wähler und Wählerinnen bei den Kongresswahlen in zwei Jahren wieder von ihm abwenden. Aber der Schaden im politischen System ist jetzt schon verheerend – sowohl institutionell als auch von der politischen Kultur her lässt sich der auch nicht so leicht zurückdrehen. Und leider sehen wir ja ähnliche Tendenzen wie die Erstarkung reaktionärer und autokratischer, antidemokratischer und antipluralistischer Kräfte nicht nur in den Vereinigten Staaten. Darum bin ich leider nicht sehr optimistisch, dass wir das Ruder ganz herumreißen werden, auch wenn wir natürlich alles dafür tun müssen, was in unserer Kraft steht.
Welche Rolle kann der Glaube bei dieser Kraftanstrengung spielen?
Letztlich beziehe ich meine Hoffnung eben nicht aus einem bestimmten politischen System. Wo wir das zu eng mit der christlichen Hoffnung identifizieren, sind die geschichtlichen Desillusionierungen vorprogrammiert. Da liegt eine große Aufgabe meines Erachtens: Auch heute wieder unsere christliche Hoffnung – und bestimmte politische und soziale Formen auseinanderzubuchstabieren, und mutig, stark und beherzt zwei Sachen zu tun. Erstens Kritik zu üben und zu sagen: "Das ist nicht das Reich Gottes!" Aber zweitens eben auch positiv daran festzuhalten: "Eine andere Welt ist möglich –eine Welt, in der viele Welten Platz haben."