"So what, wenn ich an Gott glaube?"
Pfarrerskind Noemi Harnickell: "Dass Menschen so kritisch nachfragen, hat leider berechtigte ­Gründe"
Christine Rösch
Kirche und Religion in der öffentlichen Wahrnehmung
"So what, wenn ich an Gott glaube?"
Noemi Harnickell ist Pfarrerskind. Dazu haben die Leute viele Fragen. Was sie erlebt, was sie antwortet
Noemi HarnickellPrivat
26.01.2022
6Min

Vorgelesen: Standpunkt "So what, wenn ich an Gott glaube?"

"Was machen deine Eltern eigentlich beruflich?", fragte mich ein Bekannter. Wir waren zusammen unterwegs auf einer langen Autofahrt, hatten bereits über dies und jenes gesprochen, wie man es tut, wenn man sich eigentlich fremd ist, aber auf engem Raum zusammensitzt. "Sie sind Pfarrer", er­widerte ich. "Wie? Beide?", fragte er.

Ich lächelte, um zu signalisieren, dass er weiterfragen durfte. Das habe ich über die Jahre gelernt: Leute, vor allem, wenn sie aus der Stadt kommen, haben viele Fragen zum Beruf meiner Eltern und wie er sich auf meine Er­ziehung ausgewirkt hat.

Noemi HarnickellPrivat

Noemi Harnickell

Noemi Harnickell wurde 1992 in Bern geboren und arbeitet als freie Journalistin. Sie studierte Geschichte und Slawistik in Bern, Fribourg und Krakau und absolvierte die Reportageschule Reutlingen.

Der Bekannte schwieg. Wir hatten uns gut verstanden bis dahin, hatten über Politik, Musik und Gesellschaft gesprochen und über dieselben Witze gelacht. Nun fühlte es sich an, als sei etwas zwischen uns getreten. "Seid ihr denn . . ." Der Bekannte rang kurz mit den Worten: "Seid ihr denn sehr religiös?" Üblicherweise kommen dann auch schnell diese Fragen: Betet ihr vor dem Essen? Darfst du Alkohol trinken? Glaubst du an die Wissenschaft? Was hältst du von LGBTQ-Rechten?

Ich führe solche Gespräche regelmäßig. Und um dies vorwegzunehmen: Ich bete nicht vor dem Essen, ich trinke Alkohol, ich vertraue der Wissenschaft, und ich bin gegen die Diskriminierung jeglicher Menschengruppen. Und dies nicht, obwohl ich in Pfarrhäusern aufgewachsen und in den Kindergottesdienst gegangen bin, sondern deswegen.

Wehe ich sage das G-Wort!

Dass Menschen so kritisch nachfragen, hat leider berechtigte ­Gründe. Die Kirchen sind von Männern ­do­minierte, in Teilen restriktive Institu­tionen, die Kinderschänder schützten und mancherorts bis heute schützen – während sie Nächstenliebe und Seelenheil predigen. Das gilt stärker für die katholische Kirche als für die evangelisch-reformierte, der meine Eltern angehören, aber besonders ­kirchenferne Personen unterscheiden da nicht mehr groß. Und konfrontiert mit all diesen Vorwürfen, frage auch ich mich oft: Ist die Kirche nur noch etwas für die ganz Frommen?

Mit dem Leben im Pfarrhaus konnte ich mich nie anfreunden. Ich bin in einer Altbauwohnung in der Stadt aufgewachsen, wo man die nächste Kirche zwar hören, aber nicht sehen konnte, und bis ich neun Jahre alt war, interessierte mich der Beruf meiner Eltern nicht. Aber dann zogen wir aufs Land, in ein kleines Dorf im Berner Oberland, wo meine ­Eltern ­eine gemeinsame ­Pfarrstelle ­antraten. Die Kirche stand neben unserem Haus, der Friedhof schloss sich daran an. Mein Bruder und ich hießen nun nicht mehr wie früher "Tobias und Noemi", sondern waren "die Pfarrers".

Lesen Sie dazu: Die digitale Seelsorgerin spricht auf Instagram mit Menschen über ihren Glauben. Der Pfarrer aus Dresden hatte analog genug zu tun – bis vor kurzem. Eine Begegnung

Waren wir bei Schulfreunden zu Besuch, kommentierten die Eltern unsere Tischmanieren und freuten sich, wenn wir schlechtere ­Noten schrieben als ihre Kinder. Es war, als müssten wir eine Art moralische Messlatte setzen, an der sich alle anderen Kinder zu orientieren hatten. Ein seltsam hoheitlicher Status, in den wir da reingerutscht waren. Mit Religion und Glaube hatte er wenig zu tun.

Vielleicht ärgere ich mich deswegen heute so über Menschen, die mich auf den Beruf meiner Eltern ­reduzieren? Ich möchte manchmal am liebsten rufen: "So what, wenn ich an den lieben Gott glaube? Ihr feiert doch auch alle Weihnachten!" Und dann diese sinnsuchenden Zwanzig­jährigen, die über den Jakobsweg pilgern, ohne eine Ahnung davon zu haben, wer Jakob eigentlich war! Alle erwarten von mir, dass ich weltoffen und tolerant bin, aber wehe, ich sage das Wort mit G!

Urvertrauen in das Gute

Ich erkläre die Glaubenssituation bei uns zu Hause gern so: Wir sind ­natürlich spirituell. Ich glaube an einen Gott, an ein Universum, ein Schicksal – wie auch immer man es nennen will. Meine Mutter nennt es "Urvertrauen in das Gute". Meine Eltern haben einen ­l­iteraturwissenschaftlichen Zugang zur Bibel. Damit meine ich keine emotionale Distanz. Die Bibel war für mich als Kind eine Art Märchenbuch. ­Manche ­Geschichten waren brutal, manche witzig, andere traurig. Ich mochte Mose, der das Meer mit ­seinem Stab teilen konnte, und Jona, der von einem ­riesigen Fisch verschluckt wurde, und die Geschichte meiner Namensvetterin Noemi, die sich auf eine lange Reise begab.

Wir diskutierten oft darüber, ­warum etwas so und nicht anders aufgeschrieben worden ist, welches Wort im hebräischen Original an dieser Stelle steht und wie das den Sinn der ganzen Geschichte ändern könnte. Ich hatte viele Fragen an die Bibel, aber die hatte ich auch an Harry Potter, und meine Eltern taten ihr Bestes, um mit mir nach Antworten zu suchen.

Weitere Essays von Gastautoren zu Politik und Kultur finden Sie in unserer Rubrik "Standpunkt"

Und ja, manchmal beteten wir zu Hause. Aber nie vor dem Essen, dafür fehlte uns allen die Zeit und die Geduld. Mein Bruder und ich haben unserer Mutter inzwischen verboten, beim Spielen zu beten. Wann immer sie eine Sechs würfeln muss, richtet sie ihren Blick zur Decke, schüttelt den Würfel in ihrer Hand und sagt laut: "Lieber, lieber Gott, hilf!" Ich weiß, wie harmlos und absurd das wirkt, aber sie gewinnt fast jedes Mal.

Beten ist verdächtig

Wenn ich heute bete, dann meis­tens in Form einer Meditation. Wenn ich unsicher bin oder Angst habe, hilft es mir, diese Gefühle auszu­formulieren. Wenn ich besonders glücklich bin, dann möchte ich manchmal Danke sagen für das Leben, das ich führen darf. Dass ich alle diese Gedanken in die metaphorischen Hände einer guten Allmacht legen kann, finde ich tröstend.

Während "beten" für viele verdächtig klingt, scheint englisch "pray" cool zu sein. Hashtags, die mit "Pray for" beginnen, sind gerade unter jungen Leuten beliebt. Es folgt meist ein Ort auf der Welt, wo gerade etwas Furchtbares passiert ist, eine Naturkatastrophe oder ein Terroranschlag. Ich ver­stehe den Wunsch, Solidarität zu zeigen, und wer einen solchen Hashtag postet, hat das Gefühl, etwas Gutes und Wichtiges getan zu haben. Wichtiger wäre es, den Menschen konkret zu helfen.

Sophie Scholl glaubte an einen gerechten Gott

Gläubige Weltverbesserer haben oft einen schlechten Ruf, weil sie schnell mit hart gesottenen Missionaren früherer Jahrhunderte in einen Topf geworfen werden. Viele vergessen, dass auch Martin Luther King Pas­tor war. Sophie Scholl glaubte bis zu ihrer Hinrichtung an einen gerechten Gott, und das berühmte Gedicht "Von guten Mächten wunderbar geborgen" schrieb der Widerstandskämpfer und evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer 1944 zur Weihnachtszeit in Gestapohaft. Diese Menschen fanden im Glauben nicht nur den Halt, um finstere Zeiten zu überstehen, ­sondern auch die Kraft, sich gewaltlos für eine gerechtere Welt einzusetzen.

2020 sind in Deutschland 441 390 Christinnen und Christen aus der evangelischen und katholischen Kirche ausgetreten. Einer ­Eurobarometer-Studie von 2021 zufolge ist nur noch für ein knappes Viertel der Deutschen Religion ein wichtiger Wert. Doch Religion ist kein "Wert" an sich. Religion verdient sich ihren Wert erst, indem sie sich für mehr Frieden einsetzt. "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist", schrieb Dietrich Bonhoeffer.

Ich engagiere mich auch heute noch im Kindergottesdienst, den ich als Kind besucht ­habe. Auch einige meiner besten Freunde machen mit. Wir fahren mit Jugendlichen ins Sommerlager, demon­strieren gegen Atomkraftwerke und ­haben ein Theateren­semble ­gegründet. Kirche, wie ich sie ­kenne, ist Gemeinschaft, ist Raum für ­politische Diskussionen und, mehr noch, für politisches Handeln. Und wenn mich jemand fragen würde, wo oder wer mein Gott ist – diese Frage wird mir irritierenderweise kaum gestellt –, würde ich auf diese ­Gruppe verweisen. Gott ist nur ein Wort, das wir selber mit Bedeutung füllen ­müssen. Für mich ist er im Kreis meiner liebsten Menschen, er ist das warme Gefühl, an einem sicheren Ort zu sein, er ist in der Freude beim ­Singen und in jeder regen Diskussion.

Sobald jemand von Gott redet, möchten viele Menschen aus dem Gespräch fliehen. Wenn ich ehrlich bin, geht es mir ähnlich. Oft, wenn mir junge Leute erzählen, dass sie in Freikirchen engagiert sind, ­ertappe ich mich dabei, dass ich sie gern ­fragen würde, ob sie vor der Ehe Sex haben dürfen. Das wurde ich auch schon gefragt. "Was geht dich mein Sexleben an?", fragte ich manchmal zurück. Aber vielleicht ist es wichtig, ernsthaft zu antworten. Sonst legen sich die Menschen ihre eigenen Antworten zurecht.

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Sehr geehrte Frau Harnickell,
Habe ihren Artikel in der Beilage der SZ gefunden und mit Interesse gelesen. Aber was soll ich damit anfangen. Daß Pfarrerstöchter vom Heiligenschein umgeben sein müssen, wer vermutet das heute noch. Und sie tun kund, daß sie "an den lieben Gott" glauben. Na, wenn schon. Aber fúr Sie ist Gott nur ein Wort. Ein Wort, das jedermann individuell mit Bedeutung ausfüllen kann. Das soll alles gewesen sein? Was soll ich dann noch in der institutionellen Kirche, in deren Hausblatt sie schreiben dürfen?
Mit freundlichen Grüßen
Manfred August Peters

Gott, Kirche, Jesus und "heiliger Geist" ist der "heiße Brei", den der "brave" Gläubige auf unerklärlichen Wegen im "Tanz" mit gut und/oder böse "individualbewusst" aus-/erfüllen darf.
Das es in der Bibel ganz konkret um Philosophie fürs Zusammenleben in Gemeinschaftseigentum "wie im Himmel all so auf Erden" geht, dass Gott die Metapher für die Vernunft des Geistes/Zentralbewusstseins/schöpferischen Universums ist und Mensch seine Vernunftbegabung deshalb als ganzheitliches Wesen gottgefällig/vernünftig zu ebenbildlichem Verantwortungsbewusstsein wirksam machen kann, um den geistigen Stillstand seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung ("Vertreibung aus dem Paradies"), die daraus resultierende Konfusion (Turmbau zu Babel) und die "göttliche Sicherung" (offenbarte Vorsehung) vor dem Jüngsten Gericht zu überwinden, das ist gegen die priesterliche "Geistlichkeit" und gegen die zeitgeistlich-reformistische Hierarchie des "heißen Brei's" in systemrationaler Bewusstseinsbetäubung.

Und mit diesen Worten, Formulierungen und Ansichten wollen Sie Mission betreiben, ernsthaft Suchenden Antworten geben und überzeugen? Sie sprechen sicher aus Ihrer "Seele" und berichten über ihre Erkenntnisen. Aber wenn ich versuche, Ihnen wörtlich zu folgen, verliere ich umgehend den Anschluss. In Insiderkreisen mit eigener Sprachwelt werden Sie sicher gut und besonders subjektiv und tolerant verstanden. Mir ist dieses Verständnis leider nicht gegeben.

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„Vetterin“ darf man, zu meiner Verwunderung, laut Duden tatsächlich sagen, dennoch würde ich die gute alte „Base“ vorziehen; beide Wörter sind, ebenfalls laut Duden, „veraltet“. Dann halt, wie dort vorgeschlagen, „Cousine“… Schade eigentlich!
Eberhard Hoos
Trier

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Frau Harnickell ist in meinen Augen noch sehr jung und trotzdem spricht schon viel Lebenserfrahrung aus ihrem Beitrag. Viele Christen treten derzeit aus der Kirche aus. Ob man das muss, weil ein sehr alter weißer Mann,einen Fehler, eine 'Sünde' begangen hat, nachdem er jahrzehntelang nach seinem Wissen und Gewissen gelebt und gehandelt hat, kann man infrage stellen. Das gilt aber für jeden Einzelnen von uns auch: Wer ohne Sünde ist...... .Wenn alle Ausgetretenen ihre Zeit nun nutzen, um über Möglichkeiten einer Erneuerung nachzudenken, kann wirklich etwas Gutes dabei herauskommen. Auch Luther hat eine ganze Weile gebraucht, um Mängel zu erkennen und seine Thesen aufzustellen. Und dass die katholische Kirche nicht nur sklerotiert ist, kann man erkennen, wenn man auf die Jugendarbeit in Pfarrgemeinden blickt, auf Brüder und Patres, die in ihrem Klosterleben für Gleichberechtigung von homosexuellen Paaren kämpfen, die Gefängnisseelsorge im wahrsten Sinne des Wortes betreiben, die jungen Menschen auf vielfältige Weise den Glauben an Jesus Christus nahe bringen. Beispiele ließen sich noch viele Aufzählen! Also: 'Papst' sind wir vielleicht nicht mehr, aber Christen allemal.
Erika Fruhmann, Parsberg

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Sehr geehrte Damen und Herren,
von meinem lieben Nachbarn bekomme ich hin und wieder Ihre Zeitschrift und lese sie gerne. Seite 30 unter Standpunkt von Noemi Harnickell werden Fragen beantwortet zum Christ-sein. Ich wundere mich, warum JESUS CHRISTUS mit keinem Wort erwähnt wird. Das bemerke ich öfter auch in Gottesdiensten der Landeskirche oder Musikveranstaltungen die hier in Mülheim sehr gut sind. Wenn aber die Pfarrerin oder auch der Pfarrer etwas dazu sagen, kommt das WORT JESUS garnicht vor.
Jeder soll es sehen und jeder soll nach Hause laufen und sagen: Er habe Gottes Kinder gesehen und die seien ungebrochen freundlich und heiter gewesen, weil die Zukunft JESUS heißend weil Liebe alles überwindet und Himmel und Erde eins wären und Leben und Tod sich vermählen und der Mensch ein neuer Mensch werde durch JESUS CHRISTUS.
Hanns Dieter Hüsch
Das versuchen wir zu sein mit Gottes Hilfe, zu werden durch Jesu Sterben und durch Gottes Heiligen Geist der uns Stärkung ist, Trost und Hoffnung bei allem unseren Versagen, Es grüßt Sie Ilse Malekshahi (Baptistin der Freikirche Mülheim Ruhr)