Jugendliche suchen jetzt aktiver Beratung übers Telefon
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Crispin la valiente/Getty Images
Nummer gegen Kummer
"Die Anrufe sind krasser"
Seit 30 Jahren betreut der Psychologe Jürgen Wolf den Münchner Ableger der "Nummer gegen Kummer". Sind die Probleme der Jugendlichen heute anders als früher?
Tim Wegner
30.04.2024
6Min

Vor 30 Jahren haben Sie das Münchner Kindertelefon mitbegründet. Was hat sich seither verändert?

Die Anrufe sind krasser geworden: psychosomatische Störungen, Angststörungen, selbstverletzendes Verhalten. Das ist kein Kinderthementelefon mehr, wo es drum geht, dass man sich in den Klassenkameraden verknallt hat und nicht weiß, was man tun soll. Jetzt sind es Themen, durch die Jugendliche und Kinder sich massiv in ihrem Leben eingeschränkt und belastet fühlen. Durch Corona hat das noch zugenommen. Die Jüngsten rufen schon mit neun Jahren an. Aber den Schwerpunkt bilden weiter die Teenager.

Wie erklären Sie sich diese Veränderungen?

Die Älteren sind therapieerfahren. Teilweise haben ihre Therapeuten ihnen die Nummer für akute Krisen empfohlen. Sie melden sich auch aus Kliniken oder Psychiatrien, nutzen das Telefon also einerseits als zusätzliche Unterstützung, aber auch als Fenster zur realen Welt, raus aus der Therapieblase.

Portrait Jürgen Wolfprivat

Jürgen Wolf

Jürgen Wolf ist seit 1994 Ausbilder, Supervisor und fachlicher Leiter des Kinder- und Jugendtelefons (KJT) in München. Er leitet die Beratung für Eltern, Kinder, Jugendliche und Familien im Evangelischen Beratungszentrum München (ebz).

Und die Jüngeren?

Die probieren oft aus: Sie haben ja keine Vorstellung, was Beratung ist, über was man da reden kann. Oder sie rufen an, wenn sie etwas im Fernsehen gesehen haben, das sie belastet.

Was treibt Kinder und Jugendliche um? Was brauchen sie?

Im Moment brauchen sie sozialen Austausch und Verständnis. Im Prinzip eine "Nachbeelterung". Sie suchen positiven Ausgleich mit Erwachsenen. Denn viel Leid, das ihnen widerfährt, geschieht durch Erwachsene. Oft geht es auch um das Gefühl von Einsamkeit und Fremdheit, nicht richtig zu sein, um Identität. Da ist es wichtig, dass sie am Telefon Leute finden, die sie so akzeptieren, wie sie sind. Das ist, was vielen fehlt. Oft müssen sie einer bestimmten Idee folgen, ein Konzept erfüllen und werden an Leistung gemessen.

Kinder und Jugendliche von heute nehmen ihre Bedürfnisse ernst, öffnen sich und werden lauter

Jürgen Wolf

Ist das anders als in den 90er Jahren?

Ich glaube nicht. Der Unterschied ist, dass Kinder und Jugendliche ihre Bedürfnisse ernst nehmen, sich öffnen und lauter werden. Früher haben sie das eher über sich ergehen lassen und geschwiegen. Das sieht man deutlich im Bereich Missbrauch und Gewalt. Das Kinder- und Jugendtelefon ist die Anlaufstelle für viele, die sich das erste Mal öffnen und erzählen.

Wie wappnen sich die Berater*innen am Telefon für diese krassen Fälle?

Wichtig ist eine Haltung, die interessiert, neugierig, nicht wissend, wohlwollend und fürsorglich ist. In achtzig Stunden Ausbildung bekommen die Beratenden alles Methodische an die Hand. Das Ehrenamt an sich begleiten wir durch Supervision und mit jährlichen Fortbildungen zu Themen, die in der Luft liegen. Letztes Jahr war es: Umgang mit Angststörungen. Dieses Jahr wird das Thema Missbrauch und Gewalt sein.

Wie gehen Sie vor, wenn ein Jugendlicher von Missbrauch erzählt?

Zuerst geht es darum, dass sie teilen können, was ihnen passiert ist. Dass sie fühlen, dass sie nicht allein sind und ihr Gegenüber ihren Bericht akzeptiert und nicht sofort Ermittlungen aufnimmt. Dann prüfen wir mit ihnen, wie es weitergehen kann: Wem könnte man sich noch öffnen? Wir informieren über Stellen, an die sie sich wenden können, und erklären, wie das funktioniert. Wir drängen zu nichts, sondern versuchen, das aufzugreifen, was sie mitbringen.

Ich kann mir vorstellen, dass es einen besonders mitnimmt, wenn es um Kinder geht!

Erfahrungsgemäß ist es eher erfüllend, helfen zu können. Die größere Belastung ist das Wechselbad der Gefühle in einer Schicht: Das Telefon klingelt sofort wieder, wenn man aufgelegt hat. Schwierig sind auch die unklaren Themen, wenn man nicht weiß, wo die Person wirklich steht, wenn man kein gutes Gefühl hat, es aber nicht zu fassen kriegt. Oder das Gespräch bricht plötzlich ab – und natürlich die Scherzanrufe.

"Der häufigste Übergriff von Erwachsenenseite ist wohl, jemandem moralisch ins Gewissen zu reden"

Jürgen Wolf

Wie sind Sie vor drei Jahrzehnten gestartet?

Die Idee hatten Erwachsene, die dachten, die Kids nehmen diese Hilfe dankend auf. Klappte so natürlich nicht. Man musste es bewerben, das lief auch erst gut, als sich bei der deutschlandweiten Vereinheitlichung der Nummer in den 90ern ein großer Sponsor fand. Heute ist die Nummer gegen Kummer bekannt, von Montag bis Freitag, 14 bis 20 Uhr antworten Ehrenamtliche an über 70 Standorten und das Telefon steht selten still. 1997 haben wir auch "Jugendliche beraten Jugendliche" gegründet, unter derselben Nummer, aber samstags. Ähnliche Jugendinitiativen gibt es in anderen Städten.

Und reden Jugendliche über manche Themen lieber mit Jugendlichen?

Das war natürlich die Idee der Erwachsenen. Aber es gibt keinen Unterschied. Wer anruft, sucht einfach eine Stütze.

Wie gut erreichen Sie Kinder aus Randgruppen, zum Beispiel aus Einwandererfamilien?

Man darf nicht denken, dass das Telefon die einzige Möglichkeit wäre. Wir müssen ständig überprüfen, wer bei unserem Angebot durchs Raster fällt und welche Form besser geeignet wäre. Seit einiger Zeit beraten wir auch per Mail und neuerdings auch im Chat. Hier in München haben wir ein Projekt, "Erziehungsberatung an Grundschulen", das ist super. Es erreicht alle Milieus und ist an einem Ort, wo sie von sich aus hingehen können. Das erste Zwischenergebnis nach drei Jahren zeigt: ein voller Erfolg!

###zitat|Position(mitte)|Jürgen Wolf|"Die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen ist entscheidend"###

Haben Sie selbst sich in den 30 Jahren verändert?

Ich habe manchmal gemerkt, mit welcher Vorsicht und Skepsis Kinder und Jugendliche Erwachsenen gegenübergetreten sind. Das hat mein Empfinden dafür geschärft, dass die Aufgabe wirklich ist, mit Kindern und Jugendlichen sensibel umzugehen: nicht zu schnell sein, Geduld haben, Sicherheit geben, keine Forderungen stellen, keinen Druck ausüben, nicht werten. Der häufigste Übergriff von Erwachsenenseite ist wohl, jemandem moralisch ins Gewissen zu reden.

Welches Fazit ziehen Sie aufgrund Ihrer jahrzehntelangen Erfahrung?

Die Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen ist entscheidend. Der große Vorteil des Projektes "Jugendliche beraten Jugendliche" ist, dass wir sie direkt beteiligen. Die machen alles, auch Öffentlichkeitsarbeit. Gerade komme ich von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung. Dort wurde betont, dass durch das neue Jugendstärkegesetz Kinder und Jugendliche in die Prozesse einbezogen werden müssen, die sie selbst betreffen. Eine Elternberatung ohne Kinder ist ein Affront. Ein völlig neues Denken! Und ein wichtiger Weg, wo wir alle noch gucken können, wie wir das besser gewährleisten.

Und welche Herausforderungen stehen als Nächstes an?

Die Jugendhilfe und das Gesundheitssystem greifen immer noch nicht gut ineinander und sind nicht niederschwellig genug. Wenn Leute anrufen, die schon in einer Therapie sind, muss man sich fragen: Ist die Therapie unterstützend oder fehlt ihnen etwas? Die Erwachsenenberatungswelt ist zu kompliziert, zu bürokratisch, zu langsam, vor allem für Jugendliche und Kinder in Krisen. Das gilt auch für den Transfer von unserem Telefon zu Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche. Viele bei uns denken zu kompliziert: an Therapien oder ans Jugendamt. Dabei reicht es, Erziehungsberatungen vor Ort zu empfehlen.

Ist das Leben in Deutschland für Kinder besser geworden?

Ich weiß es nicht. Jede Generation hat ihre Herausforderungen. Die Corona-Zeit war eine Zumutung. Diejenigen, die häuslicher Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind, konnten der Bedrohung kaum entgehen. Dann: per Monitor eingeschult und konfirmiert zu werden, keinen direkten Zugang zu Freunden zu haben. Dass gerade eine Krise die nächste jagt, ist für die Kinder auch beängstigend. Lustigerweise hat Corona aber auch vieles relativiert.

Zum Beispiel?

Die Corona-Zeit hat alles erschüttert, was zu Wertigkeit und Leistungsorientierung vermittelt wurde. Es hat sich gezeigt, dass es im Ernstfall auch ohne Schule geht - und manches doch nicht so wichtig ist, wenn es drauf ankommt. Das finde ich nicht schlecht. Ich bin auch optimistisch, dass Kinder ihren Weg durch allen Unbill finden, wenn man sie lässt und begleitet. Die sind zäh. Sie wollen gar nicht so gerettet werden, wie wir uns das vorstellen.

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