Begegnung - Wie frei dürfen wir sein – beim Sterben?
Theologin Stefanie Schardien und Schauspieler Ulrich Matthes im Berliner Café Einstein
Daniel Hofer
Stefanie Schardien und Ulrich Matthes über Sterbehilfe
Wie frei dürfen wir sein – beim Sterben?
Selbstbestimmung ist ein sehr hohes Gut, auch am Ende des Lebens, sagen die Verfassungsrichter. Gut so, meint der Schauspieler. Das geht viel zu weit, findet die Theologin
21.10.2020
10Min

chrismon: Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das Verbot für geschäftsmäßige Sterbehilfe gekippt. Sterbehilfevereine dürfen auch in Deutschland aktiv werden. Wer sich beim Sterben helfen lassen will, muss nicht mehr in die Schweiz fahren. Wissen Sie von Menschen, die dort mit Hilfe von Dignitas aus dem Leben geschieden sind?

Stefanie Schardien: Ich kenne einen Arzt, der sich in Deutschland sehr für Palliativmedizin eingesetzt und dann die Seiten gewechselt hat. Er hat eine Frau dorthin begleitet. Ich hatte bei ihm Seminare besucht und war entsetzt.

Ulrich Matthes: Eine Bekannte von mir hat sich vor 30 Jahren in der Schweiz das Leben genommen. Sie war unheilbar an Krebs erkrankt und hatte am Telefon ­einen möglichen Suizid angedeutet. Ich habe versucht, sie umzustimmen. Später habe ich gehört, dass sie Dignitas in Anspruch genommen hat, das hat mich sehr bewegt. Ich habe dann natürlich überlegt, ob ich zu wenig getan habe.

Handelte sie selbstbestimmt?

Matthes: Ja, ganz sicher! Sie war eine außerordentlich starke Frau. Ich kann mir vorstellen, sie hat das ganz mit sich allein ausgemacht.

Die Verfassungsrichter betonen, dass Selbstbestimmung einen freien Willen voraussetzt. Wie frei sind wir?

Schardien: Das Gericht hat klargestellt, dass die Selbstbestimmung ein absolut hohes Gut ist, das über allem steht. So als könne man ohne alle Bezüge zu anderen nur allein über sich bestimmen. Die evangelische Ethik geht davon aus, dass sich Menschen immer in einem Beziehungs­geflecht bewegen, mit anderen sprechen, andere beeinflussen und sich von anderen beeinflussen lassen. Die Frau, von der Sie gerade sprachen, schien sehr aufgeklärt und willensstark zu sein. Ich mache mir Sorgen um die anderen, die unsicher sind, verletzlicher und nicht so gut informiert.

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Stefanie Schardien

Stefanie Schardien, geboren 1976, ist Pfarrerin in Fürth und "Wort zum Sonntag"-Sprecherin. Als chrismon-­Kolumnistin beantwortet sie kniffelige Lebensfragen. Bis 2013 war sie Juniorprofessorin für Systematische Theologie. Sie war Mitglied in der Kammer für Theologie der EKD. Aktuell gehört sie der bayerischen Landessynode und dem Präsidium des Deutschen ­Evangelischen ­Kirchentags an. Zum Thema Sterbehilfe hat sie mehrere Bücher ­veröffentlicht.
Ulrich Matthes, © 2018 Dirk von NayhaußDirk von Nayhauß

Ulrich Matthes

Ulrich Matthes, geboren 1959, ist bekannt für sein ­eindringliches Spiel auf der Bühne und im Film. Seit 2004 gehört er zum Ensemble des ­Deutschen Theaters in Berlin. Am 23. November um 20.15 Uhr zeigt die ARD den Fernsehfilm "Gott" nach dem Theaterstück von Ferdinand von Schirach, in dem Matthes einen ­katholischen Bischof spielt. Es geht um Sterbehilfe, und am Ende dürfen die ­Zuschauer abstimmen. Ulrich Matthes ist Präsident der Deutschen Film­akademie und lebt in Berlin.

Geht das Gericht zu weit in seiner Definition von Selbstbestimmung?

Schardien: Ja. Die Richter sagen: Man muss nicht mehr unheilbar krank sein, um einen Anspruch auf Suizid­assistenz zu haben, und man hat in jedem Alter, in jeder Lebensphase das Recht dazu.

Auch eine Zwanzigjährige mit Liebeskummer?

Schardien: Das Parlament muss das Urteil jetzt in ein Gesetz gießen – für solche Fälle sollte es dringend Schranken einziehen.

In dem Fernsehfilm "Gott" nach dem Theaterstück von ­Ferdinand von Schirach wird die fiktive Sitzung eines Ethik­rats gezeigt, der darüber verhandelt, ob ein 78-­jähriger Mann das todbringende Medikament Natrium-Pent­obarbital erhalten darf. Der Mann ist gesund und trauert um seine verstorbene Frau. Herr Matthes, Sie spielen den Sachverständigen Thiel, einen katholischen Bischof.

Matthes: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat uns mitten in den Dreharbeiten überrascht. Ich dachte, oh, die wagen sich aber weit vor – und habe das spontan begrüßt. Ich hatte dann aber auch bald junge Menschen im Kopf, die so einsam sind, dass sie an Suizid denken. Ich finde auch, das Urteil muss durch den Bundestag modifiziert werden. Jeder von uns war doch schon mal in hohem Maße verzweifelt in Liebeskummerphasen. Dass ich dann nicht an Suizid gedacht habe, liegt an meinen Eltern, an meiner Kindheit, an meinem eher stabilen Wesen. All das wünsche ich einem oder einer Zwanzigjährigen auch! Dass man von einer Gemeinschaft aufgefangen wird, wenn man durch ein furchtbares, existenzielles Tal geht.

"Der Konsens verschiebt sich" - Stefanie Schardien

Schardien: Statistiken aus anderen Ländern stützen leider meine Sorge: Die Niederlande, die schon längst liberaler bei der Sterbehilfe sind, hatten 2002 knapp 2000 Fälle. 2016 waren es etwas über 6000. In den Niederlanden und Belgien ist auch aktive Sterbehilfe erlaubt, die sogenannte Tötung auf Verlangen. Das ist in Deutschland verboten. Aber auch das wird sich nicht mehr halten lassen. Warum sollte einem ALS-Kranken, einem vom Hals abwärts gelähmten Menschen, der das tödliche Medikament nicht selbst einnehmen kann, das Mittel verwehrt bleiben? So verschiebt sich der Konsens darüber, was man ethisch gerade noch in Ordnung fand und was nicht. Die Nieder­länder diskutieren mittlerweile, ob die verloren gegangene Seh- oder Hörkraft im Alter ein unerträgliches Leiden sein kann – und Grund dafür, dass man aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen darf.

Vielleicht ist es für jemanden ja unerträglich, nicht mehr lesen zu können? Wer schwingt sich da zum Richter auf?

Schardien: Das tut keiner. Aber in den Niederlanden und Belgien hat sich das gesellschaftliche Klima verändert. Wenn die Nachbarin immer wieder sagt, sie fände es unerträglich, dass sie nicht mehr sehen kann, finde ich das vielleicht auch irgendwann unerträglich. Da baut sich ­sozialer Druck auf, sei es auch nur ganz subtil.

"Man muss von Mensch zu Mensch entscheiden" - Ulrich Matthes

Matthes: Ich finde, liebe Frau Schardien, Sie malen da zu schwarz! Man muss von Mensch zu Mensch entscheiden, und wenn jemand findet, sein oder ihr Leid sei unerträglich, scheint mir das doch ein angemessenes Kriterium zu sein. Nur: Wie soll man das in eine Gesetzesform gießen? Vielleicht muss man verpflichtende Gespräche einführen und auch das soziale Umfeld befragen?

Soll das auch für den 78-Jährigen aus dem Film gelten, dem körperlich nichts fehlt, der aber den Tod seiner Frau nicht verwindet und lebenssatt ist?

Matthes: Wenn er sich dessen auch nach Gesprächen mit seiner Familie ganz sicher ist, sollte er das dürfen. Dass meine schwer krebskranke ­Bekannte sich das Leben genommen hat, nötigte mir größten ­Respekt ab. Für sie war das die richtige Entscheidung. Sie hat ­einen Prozess, der noch zwei Jahre Quälerei bedeutet hätte, abgekürzt. Ich halte es für richtig, dass der unerträglich leidende Mensch, der das Gefühl hat, er hat sein Leben gelebt, es soll jetzt gut sein, nicht von der Brücke springen muss, sondern sein Leben mit einem von ihm als würdevoll empfundenen Weg beenden kann. Für mich ist das ein glückhafter Endpunkt der Aufklärung.

Schardien: Das unerträgliche Leiden ist eine sehr subjektive Empfindung, da stimme ich Ihnen zu. Palliativmediziner sagen, dass sie die Medikamente mittlerweile so gut einstellen können, dass die Patienten vielleicht nicht ganz schmerzfrei sind, aber dass sie sagen, jetzt ist es erträglich.

Matthes: Bei allem hohen Respekt für die Palliativ­medizin: Wenn ein Mensch aber genau das nicht will! Sich langsam mit Hilfe von Maschinen, von Ärzten, von Medikamenten aus dem Leben hinausschleichen, bis das Schicksal, Gott oder wer auch immer sagt, jetzt ist Schluss.

"Der Druck wächst, Angehörigen nicht zur Last fallen zu wollen" - Stefanie Schardien

Schardien: Natürlich gibt es tragische Einzelfälle, wo der Wunsch zu sterben bestehen bleibt und wo ich das auch von außen nachvollziehen kann. Und trotzdem finde ich, dass unser Land deswegen keinen Rechtsanspruch auf einen assistierten Suizid gewähren müsste, zumal ­Suizidbeihilfe durch Verwandte oder Nahestehende schon bisher bei uns straffrei blieb. In einer Umfrage vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD von 2015 fürchteten 60 Prozent der Menschen, dass bei der Legalisierung der Sterbehilfe der Druck auf Menschen wächst, Angehörigen nicht zur Last zu fallen. Das wären wohl noch sehr viel mehr tragische Fälle. Für diese Menschen brauchen wir auch eine Stimme.

Matthes: Da haben Sie recht.

Assistierter Suizid: Angehörige, Ärzte, Suizidhelfer stellen alles Erforderliche für den Suizid bereit, aber die Handlung muss der Sterbewillige selbst durchführen.

Aktive Sterbehilfe: Dem Sterbewilligen wird ein tödliches Medikament verabreicht, etwa durch den Arzt.

Passive Sterbehilfe: Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen.

Indirekte Sterbehilfe: Die Dosis eines Medikaments zur Schmerzlinderung wird so erhöht, dass eine Verkürzung des ­Lebens in Kauf ge­nommen wird.

Woher kommt diese Angst, jemandem zur Last zu fallen?

Schardien: Es passt nicht in diese Leistungsgesellschaft. Pflege lagern wir aus. Kranksein lagern wir aus. Die Kirche könnte diesen Menschen sagen: In unseren Einrichtungen seid ihr willkommen mit all euren Gebrechen, wir können eure Schmerzen lindern bis hin zur palliativen Sedierung, einer Art Dauerschlaf. Hier seid ihr frei von allem gesellschaftlichen Druck, gerade weil es keine Sterbehilfe gibt.

Andere Leute sagen, es ist eine Einschränkung der ­Freiheit, nicht alle Optionen zu bekommen.

Schardien: Ja, so ist es immer im Leben. So ist es jetzt bei Corona auch. Damit alle die größtmögliche Freiheit haben, muss man die Freiheit an manchen Stellen einschränken.

Wenn sich eines Ihrer Gemeindemitglieder schwer krank für einen assistierten Suizid entscheidet – würden Sie ihm das ausreden?

Schardien: Der Wunsch ist ernst zu nehmen, und ich ­würde diesen Menschen niemals allein lassen. Aber ich würde die Hoffnung nicht aufgeben, dass es für ihn noch mal eine andere Perspektive auf seine Lage gibt.

Matthes: Mir fällt auf, Sie haben bisher noch kaum von Ihrer Religion gesprochen! Sie könnten, so wie Sie argumentieren, auch eine Palliativmedizinerin sein. Was hat denn Ihr Glaube damit zu tun?

"Ich bin nicht nur mir selbst gegenüber verantwortlich" - Stefanie Schardien

Schardien: Ich versuche, meine Glaubensüberzeugung so auszudrücken, dass Menschen, die meinen Glauben nicht teilen, mich trotzdem verstehen. Ohne dass ich das Leben religiös überhöht für absolut oder heilig halte, glaube ich, dass es eine Gabe Gottes ist: dass ich eingebunden bin in größere Bezüge und nicht nur mir selbst gegenüber verantwortlich. Die Entscheidung, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, verändert die Beziehungen zu anderen, zu meinem Partner, zu den Kindern, zu den behandelnden Ärzten und auch zu Gott. Dabei kann ich in meiner ­Beziehung zu Gott dennoch sagen: Ich kann nicht mehr. In der Bibel haben Menschen ihr Unvermögen, ihre Angst immer wieder vor Gott gebracht, das gehört dazu.

Was ist erlaubt bei der Sterbehilfe? Der Bundestag findet keine Antwort, will aber die Suizidprävention stärken. Ein Kommentar von Nils Husmann

Matthes: Ich bin nicht gläubig, aber auch ich fühle mich natürlich absolut mitverantwortlich für mein Umfeld, meine Familie, meinen Freundeskreis, letztendlich für mein Land, als Staatsbürger. Mich erinnert die Debatte an die Auseinandersetzungen um die Antibabypille und die Abtreibung, als das Selbstbestimmungsrecht der Frauen hochgehalten wurde – gegen die Kirchen. Glücklicherweise! Diese Debatte hat sich befriedet. Halten Sie es für möglich, dass die evangelische Kirche in zehn Jahren auch die Sterbehilfe gelassener sieht?

Schardien: Da sehe ich Unterschiede. Bei der Abtreibung stehen zwei Rechte gegeneinander: die Freiheit der Frau und das Leben des Kindes. Der Gesetzgeber hat mit Para­graf 218 im Strafgesetzbuch einem ethischen Dilemma Ausdruck verliehen. Abtreibung ist gesetzeswidrig, aber straffrei. Gesetzeswidrig, weil man das Leben des Kindes schützen will. Straffrei, weil man weiß, dass niemand leichtfertig ein Kind abtreibt und eine Frau durch die Abtreibung schon genug belastet ist. Aber es gibt die Palliativ­medizin – und daher haben wir bei der Sterbehilfe kein vergleichbares Dilemma.

"Das Recht des kranken Menschen, über seinen Körper zu bestimmen, muss an erster Stelle stehen" - Ulrich Matthes

Matthes: Die Gegner der Abtreibung argumentieren wie die Gegner der Sterbehilfe, dass Menschen womöglich gar nicht selbstbestimmt entscheiden. Vielleicht übt der Partner Druck auf die schwangere Frau aus? Vielleicht fühlt sie sich durch die Gesellschaft unter Druck gesetzt? Menschenskinder! Das Recht der Frau, über ihren Körper zu bestimmen, muss doch an erster Stelle stehen! Genauso muss auch das Recht des kranken Menschen, über seinen Körper zu bestimmen, an erster Stelle stehen.

Schardien: Aber das Bundesverfassungsgericht eröffnet jedem in jeder Lebensphase auch ohne schwere Krankheit die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Das ist etwas anderes, das finde ich aus theologisch­ethischer Sicht nicht gut, weil ich an die weitreichenden gesellschaftlichen Folgen denke.

Matthes: Wenn sich Menschen mit Suizidwunsch an ­Organisationen oder Ärzte wenden könnten, die ihnen helfen, wäre das doch erst mal gut. Vielleicht könnten ­diese Organisationen oder Ärzte sie in langen, schwierigen Gesprächen von ihrem Todeswunsch abbringen? Gibt es in den Niederlanden weniger gewaltvolle Suizide, seitdem die Sterbehilfe erlaubt ist?

Schardien: Leider nein. Und man muss sich keine ­Illusionen machen: Bei Sterbehilfevereinen wie Dignitas gibt es keine langen Reflexionsschleifen, man muss nicht viele Gutachten beibringen. Der Bundestag muss sehr vorsichtig sein, wenn er das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzt und zum Beispiel verpflichtende Gespräche, Gutachten und lange Fristen festschreibt.

Lesen Sie dazu: Der Bundestag muss das Recht auf assistierten Suizid neu regeln. Wie hoch sollen die Hürden sein? Zwei Abgeordnete sehen das unterschiedlich

Und was müssen die Kirchen jetzt tun?

Schardien: Sie können sich für die Freiheit stark machen, und zwar gerade durch ihre kritische Position gegenüber Suizidbeihilfe und aktiver Sterbehilfe. Für ihre diakoni­schen Einrichtungen wäre wichtig, dass ein Gesetz auch palliative Sedierung als hinreichende Umsetzung des selbstbestimmten Sterbens anerkennt. Die Kirchen sollten sich dringend und deutlich dafür einsetzen, dass unsere Gesellschaft eine lebensschutzfreundliche Selbstbestimmung fördert.

Herr Matthes, Ihre Figur im Film, der Bischof Thiel, sagt, Leben bedeute Leiden. Können Sie damit etwas anfangen?

Matthes: Nein, überhaupt nicht. Ich versuche immer, mit Problemen aktiv umzugehen. Und ich bin ein politisch engagierter Mensch und versuche auch da, mich für oder gegen eine Sache einzusetzen, anstatt sie – leidend – hinzunehmen.

Schardien: "Leben ist Leiden", da denkt jeder sofort: Zu diesem Verein will ich nicht gehören. Was gemeint ist: Leiden an dem, was noch nicht in Ordnung ist in diesem Leben. Wo wir hoffen: Im Reich Gottes wird dieses Leiden abgeschafft sein.

Können Sie sich vorstellen, auch einmal Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen?

Matthes: Theoretisch ja. Wenn es mir mit 86 so schlecht geht, wäre es schön, wenn ich die Möglichkeit hätte, da­rüber nachzudenken. Dann heißt es immer noch nicht, dass ich es auch tue.

Schardien: Assistierten Suizid in Anspruch zu ­nehmen, würde allem widersprechen, woran ich glaube und wie ich bisher gelebt habe. Aber ich kann es natürlich nicht ausschließen, dass ich einmal so unerträgliche ­Schmerzen habe, dass ich mir das wünsche. Ich hoffe, dass mir dann nicht suggeriert wird, dass das doch die einfachste Lösung wäre oder dass es sich so schickt. Ich hoffe, dass mir jemand zur Seite ist und sagt: Das brauchst du nicht.

Matthes: Das hoffe ich auch für mich.

Infobox

Was ist erlaubt?

In Deutschland: Im Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass jeder Mensch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben habe, das auch die Freiheit umfasst, "bei Dritten Hilfe zu suchen". Dieses Recht besteht "in jeder Phase menschlicher Existenz" und unabhängig von einer schweren unheilbaren Krankheit. Voraussetzung ist eine "frei gebildete und autonome Entscheidung". Aktive Sterbehilfe bleibt verboten. ­Der Bundestag muss nun das Urteil in ein Gesetz gießen.

Niederlande und Belgien: Bei unheilbaren Krankheiten ist auch aktive Sterbehilfe erlaubt – in den Niederlanden für Personen ab zwölf Jahren, in Belgien auch für Kinder.

Schweiz: Aktive Sterbehilfe ist verboten, assistierte Suizide sind erlaubt – auch für Ausländer.

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Guten Abend!
Wenn es doch so einfach wäre, dass es “nur“ um unerträgliche Schmerzen von Todkranken ginge!
Was ist aber in dem Fall, dass ich, verheiratet, kinderlos, trotz aller Präventivmaßnahmen genauso wie meine Mutter und Großmutter unheilbar an Alzheimer-Demenz erkranke, und zwar schon mit 65 Jahren? Wenn ich nicht mit vollen Windeln und geistig abwesend in einem Altenheim dahinvegetieren will? Ja, mein Mann würde sich – so, wie mein Vater es jetzt für meine Mutter tut – kümmern. Aber er würde mit mir zu Hause – genauso wenig wie mein Vater vor zweieinhalb Jahren – nicht mehr zurechtkommen. Meine Geschwister und deren Kinder werden eigene Sorgen haben, zumal sie ja auch erkrankten könnten. Und wer soll die Heimkosten von monatlich mehreren Tausend Euro Eigenleistung tragen, wenn meine Rente und mein Erspartes nicht reichten? Den Suizid kann und muss ich dann schon früh, solange ich noch bei vollem Bewusstsein und geistig in der Lage dazu bin, unternehmen. Im fortgeschrittenen Demenz-Stadium werde ich das einfach nicht mehr können.
Sollte ich dann die Alzheimer-Demenz genauso wie meine Großmutter und Mutter bis zum bitteren Ende durchleiden müssen, nicht sterben dürfen, weil es der evangelischen Ethik nicht entspricht?
Mit freundlichen Grüßen
Insa Mareike Rega

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Freundliche Grüße zuvor! Hier mein Stellungnahme:
Sterben ist ein Kampf, den wir verlieren, um etwas zu gewinnen: Ruhe und Frieden. Zugleich gewinnen wir ihn, indem wir ein möglicherweise unerträglich gewordenes Leiden verlieren. Wer seine Qualen durchzustehen vermag, sollte sich gedulden, denn ein erlösender Tod ist jedem sicher. Mir kommen dazu die Verse Paul Gerhardts in den Sinn: "Wann ich einmal soll scheiden ...". Lieber Herr Matthes, auch ich bin nicht gläubig im engeren Sinne; aber die tröstende Vorstellung "Wann ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür ..." begreife ich als wirkungsvolle Sterbehilfe auf einem letzten Weg ins Offene. Versuchen wir es doch einmal mit dieser von Ängsten befreienden Zuversicht!
Alfred Schubert, Wunstorf-Steinhude

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Frau Schardien als Vertreterin der EKD sagt: "dass unser Land ...keinen Rechtsanspruch auf assistierten Suizid gewähren müßte." Nein, bitte ein Schritt zurück und nachdenken. Es geht zunächst andersherum:
daß keiner und auch keine EKD und die Gesellschaft ein Gesetz verordnen und sagen darf, daß ein Mensch sich einer Rechtfertigung und auch nicht in Form einer Beratung zum Suizid unterziehen muß. Ich zähle mich zu den vielen Menschen, die es schon für eine Zumutung empfinden, dauerhaft und absehbar so unfähig, so gebrechlich und geschwächt zu sein, so daß ich mich nicht mehr selbst versorgen kann. Das entscheidet man für sich selbst immer schon viel früher. Genau das ist die Würde des einzelnen Menschen, daß ihm von niemand dabei reingeredet wird. Wer das nicht will und kann, der kann sich immer noch zur Hilfe an andere wenden. Ich möchte nicht, daß mir bei so etwas Intimen reingeredet wird und mir die Hilfe für Suizid erschwert oder gar verweigert wird. Das ist die Würde die ich meine! So frei wollen wir beim Sterben sein!
Dr. Martin Wöhrle

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Vorgetragenes Argument: "Das Parlament muss das Urteil jetzt in ein Gesetz gießen – für solche Fälle sollte es dringend Schranken einziehen."

Der moderne freiheitliche Bürger (m,w,d) fühlt sich selbstverständlich bemüßigt, die Entschlüsse anderer, die ihn in keiner Weise betreffen, trotzdem seinem eigenen Urteil zu unterwerfen. Da er allerdings auch weiß, dass von diesem seinem Urteil der andere sich nicht unmittelbar beeindrucken lässt, gibt er mit Begeisterung den tatsächlichen Machthabern wie dem Bundesverfassungsgericht oder dem Bundestag heiße Tipps. Dieses Treiben nennt sich öffentliche Debatte und steht hoch im Ansehen.

Wer also einer Zwanzigjährigen gerne verbieten möchte, sich aus Liebeskummer das Leben zu nehmen, setzt auf entsprechende Gesetzgebung. Dumm nur, dass die liebeskranke Jugend sicher nicht erst in die Schweiz fährt oder die höchstrichterliche Rechtsprechung und das Bundesgesetzblatt konsultiert, bevor sie sich vor den Zug wirft. Wer allerdings als Schwerkranker mit üblen Schmerzen an Schläuchen hängt und diesen Zustand nicht mehr länger ertragen will, hat diese Form der Selbstbestimmung nicht mehr. Die Schärfe und Dauer seiner Leidensverlängerung sind sehr wohl abhängig davon, was ihm Justiz und Gesetzgeber, beraten von Ethikprofis, alles verunmöglichen.

Friedrich Feger

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... sagt welche Religion? Richtig, der Buddhismus! ... aber der ist bei Herrn von Schirach/Herrn Matthes wohl nicht gemeint. Wer allerdings passives Erdulden von Leiden als Wesensmerkmal dem Christentum unterstellt, der hat sich nicht wirklich ernsthaft mit dem christlichen Menschenbild und dem in der Weltgeschichte einmaligen sozial-caritativen Wirken der christlichen Kirchen auseinandergesetzt. So scheint das Theaterstück von Herrn von Schirach doch eher Propaganda als ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema zu sein. Schade.

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Persönliche Gedanken zur legalisierten Sterbehilfe
Es ist hoch anzurechnen, wenn man sich schon in jungen Jahren sozial engagiert, Mitverantwortung übernimmt und sich in diesem Rahmen auch bei ethischen Fragen, wie Sterbehilfe, einbringt.
Aber: Jeder Mensch macht im Laufe des Lebens Entwicklungen durch und sieht dabei manches unter neuen Aspekten. So nicht zuletzt die Einstellung zu Tod und Sterben. Von daher erlebe ich es (inzwischen) als Anmaßung, wenn jüngere Personen alten Weisungen zu ihrer Endzeit geben zu müssen glauben. Als alter Mensch muss man m.E. nicht sterbenskrank oder von unerträglichen Schmerzen geplagt sein, um das Recht zugestanden zu bekommen, selbstbestimmt Abschied zu nehmen. Ich will mich nicht rechtfertigen müssen, wenn ich aus dem Leben scheiden will. Für mich ist es z.B. hinreichend, pflegebedürftig einen vorgegebenen, mir aber nicht gemäßen Rhythmus bezüglich des Aufstehens, Waschens, Essens und Zubettgehens aufgenötigt zu bekommen, dabei wie ein Baby gefüttert und gewindelt zu werden, weil ich das als entwürdigend erlebe. Ich möchte keinesfalls im Kreis seniler Mitpatienten Liedchen singen, wie im Kindergarten vermeintlich heitere Spielchen samt Stuhlgymnastik und allerlei Trallala mitmachen müssen. Als junger Mensch sieht man die Situation zwangsläufig eher von der aktiven Seite, wo man sich einbringen, helfen und daraus Befriedigung schöpfen kann. Am Ende aber wird man der Passive, der abhängig ausgeliefert, ja „entselbstet“ ist. Es ist nicht mehr als angemessen, wenn der alte Mensch, sucht er den Tod, den in seinem vertrauten Umfeld finden kann und nicht erst extra einen Jagdschein machen, sich aus Verzweiflung vor den Zug werfen, auch nicht „bloß“ nach Holland oder in die Schweiz reisen muss. Und das, ohne „Papa“, „Mama“ oder den „Onkel Doktor“ um deren gnädiges, großzügiges „Ja“ anbetteln zu müssen.
Meine, sehr persönliche Haltung, das sei betont, soll niemandem aufgedrängt werden, der das oben skizzierte Leben annehmen kann und will.
Ich will es nicht und fordere mein Recht auf Selbstbestimmung unerbittlich ein.
Eva Matern-Scherner

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Hallo,
im Gespräch zum Thema Sterbehilfe mit Ulrich Matthes sagt Stefanie Schardien u.a. "Natürlich gibt es tragische Einzelfälle, ... . Und trotzdem finde ich, dass unser Land deswegen keinen Rechtsanspruch auf einen assistierten Suizid gewähren müßte, zumal Suizidbeihilfe durch Verwandte oder Nahestehende schon bisher bei uns straffrei bleibt."
Mich hat dieser Hinweis auf die Rechtslage sehr irritiert. Einerseits befürchtet Frau Schardien, dass Menschen zum Suizid gedrängt werden könnten, andererseits verteidigt sie indirekt eine Rechtslage, die gerade den Menschen Straffreiheit gewährt, die besonders für das Drängen in Frage kommen. Das ist zynisch.
Auch macht die genannte Regelung die Erfüllung des Wunsches des Suizidwilligen davon abhängig, ob er zufällig einen Verwandten oder Nahestehenden findet, der ihm hilft. Das ist eines Rechtsstaats unwürdig.
Die Regelung setzt darüber hinaus ggf. die Person, die gebeten wird, unter einen unmenschlichen Druck, falls sie nämlich einer solchen Hilfe kritisch gegenüber steht. Soll sie nun den Wunsch abschlagen und denjenigen, der schwer leidet, aufs tiefste enttäuschen (denn der hat ja meist keine Alternative), oder soll sie gegen die eigene Überzeugung handeln?
Außerdem besteht die große Gefahr, dass die assistierende Person, da sie meist ein Laie sein dürfte, fehlerhaft handelt und somit das Leiden des Suizidwilligen erheblich vergrößert. Diese Gefahr wird im übrigen noch dadurch wesentlich verstärkt, dass sich Gesundheitsminister Spahn trotz gegenteiliger höchstrichterlicher Urteile weigert, die entsprechenden Medikamente für Betroffene verfügbar zu machen.
Insgesamt folgt für mich aus der eingangs zitierten Aussage von Frau Schardien deshalb, dass sie entweder die Thematik nicht wirklich durchdrungen hat, oder dass sie unehrlich argumentiert. Beides leider keine angenehmen Alternativen.
Jobst Echterling

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Ich habe mit Interesse die Argumentation in Ihrem Beitrag gelesen. Die Argumente, die vorgebracht werden, sind leider nur aus der Sicht von Aussenstehenden. Was sagen diese zu der Tatsache, dass nicht bei allen Menschen die Schmerzmittel anschlagen? Mein Freund hat eine Wirbelsäulen-Op hinter sich. Die Gabe von Schmerzmitteln im Heilungsprozess in der ersten Woche war dergestalt, dass er zwar sediert war, für ihn die Schmerzen nicht aushaltbar erschienen. Er konnte sich aber nicht äussern.
In diese Situation kann jeder Schmerzpatient am Ende des Lebens kommen.
Es wird also kein Leid gelindert. Wenn der Patient sich nicht äussern kann, weiß man davon nicht.
Ich spare darauf, für den Fall, dass er für mich eintritt, um in der Schweiz zu fahren und das zu tun was ich für richtig halte und nicht von Göttern in weiß abhängig zu sein.

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Eine indianische Weisheit lautet: "Gehe 100 Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn Du ihn verstehen willst."
Diese Botschaft sollten sich all die selbsternannten Ethiker und Moralisten aus Politik und Theologie, die mehrheitlich jung und gesund sind, vor Augen halten, ehe sie weiterhin versuchen, neue Hürden und Verzögerungen für ein selbstbestimmtes Sterben von verzweifelten Menschen aufzubauen und das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu unterlaufen. Man sollte Hürden abbauen und die Voraussetzungen dafür schaffen, daß auch Menschen mit geringerem Einkommen, die keine fünfstellige Summe aufbringen können, die Möglichkeit haben, in Würde zu sterben, wenn sie das möchten, weil ihre Situation unerträglich geworden ist.
Es gibt Krankheiten, die nicht zum Tode führen, aber den Betroffenen auf Jahre hinaus jede Lebensqualität nehmen. Ich spreche aus eigener Erfahrung, und es würde mir sehr helfen, wenn ich die Hoffnung hätte, ggf. die Möglichkeit einer Suizidhilfe in Anspruch nehmen zu können.
Hella Waldvogel

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Liebe Redaktion,
zur uferlos diskutierten Frage der Sterbehilfe mein Beitrag:
Die Erörterung der Motivation zur Selbsttötung unterliegt weithin dem klassischen Irrtum, dass unsere Absichten und Handlungen weitestgehend rationalen Abwägungen folgen. Das ist jedoch beim Anstreben des eigenen Todes noch weniger zutreffend als schon bei den emotional gesteuerten Entscheidungen in Sachen Partnerschaft, Geldanlage, Ernährung, Berufswahl und Stimmzettel. Suizid ist überwiegend nicht das Ergebnis einer klaren Abwägung künftiger Lebensqualität, sondern Folge einer Depression, zu deren anerkannt typischsten Symptomen der von Botenstoffen diktierte Impuls zur Selbsttötung gehört. Ich weiß, wovon ich spreche, nachdem ich zwei qualvolle Jahre mit der Allgegenwart dieser Gedanken erlebt habe. Ich habe in dieser Zeit Vieles gebraucht und Vieles bekommen: Umfassende Aussprache schon zwei Stunden nach erster Anwahl einer Notfallnummer. Dreimal professionelle stationäre Therapie mit Gesprächen und sorgfältiger medikamentöser Einstellung, jahrelange analytische Therapie. Eines habe ich nicht gebraucht: Den Giftcocktail als Lösung aller Probleme.
Ich bin heute symptomfrei und lebe ohne Medikamente, ohne Therapie – und ohne einen Funken von Selbstmordgedanken.
Mit herzlichem Gruß Ihr sehr treuer Leser und oftmaliger Leserbriefautor
Andreas Knipping

Antwort auf von Andreas Knipping (nicht registriert)

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Sehr geehrter Herr Knipping,

es ist immer erfreulich, Sätze zu lesen, wie Sie sie geschrieben haben: "Ich bin heute symptomfrei und lebe ohne Medikamente, ohne Therapie – und ohne einen Funken von Selbstmordgedanken." Ebenso: "Eines habe ich nicht gebraucht: Den Giftcocktail..."

Andererseits stimmen Sie der verbreiteten Meinung zu, dass die lieben Mitmenschen und man selber selbstverständlich auch immer nur einer Illusion anhängen, wenn man "rationalen Abwägungen" eine maßgebliche Rolle beimisst bei "Entscheidungen in Sachen Partnerschaft, Geldanlage, Ernährung, Berufswahl und Stimmzettel".

Da würde ich Sie gerne etwas fragen: Ist Ihre Entscheidung in Sachen Giftbecher, nämlich gegen ihn, rationalen Abwägungen geschuldet oder ist diese Vorstellung auch nur wieder der angebliche klassische Irrtum?

Mit freundlichen Grüßen

Traugott Schweiger

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Sehr geehrte Frau Schardien,
ist palliative Sedierung eine Gabe Gottes?
Ich habe Ihr Streitgespräch ‚Selbstbestimmt sterben?‘ gelesen - und bin entsetzt: „Wir können eure Schmerzen lindern bis hin zur palliativen Sedierung.“ Das ist das Gegenteil davon, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Kirchen sollen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aushebeln, indem sie medikamentösen Dauerschlaf als selbstbestimmtes Sterben einstufen? Kann ich mich Palliativmedizinern anvertrauen, die meinen erklärten Willen so verdrehen? Aus gutem Grund sagt meine Pateintenverfügung, dass ich nie in eine Ihrer Einrichtungen komme,

Zum anderen: Dieser Weg trifft überhaupt nur unerträglichen Schmerz als Grund für die Entscheidung, sein Leben zu beenden. Ein Mrensch kann aber ganz andere wohlüberlegte Gründe haben - und darf Respekt für seine Entscheidung erwarten, nicht die Unterstellung, er tue es, weil „es sich so schickt“.
Mit freundlichen Grüßen
Georg Walenciak / Unkel

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Sehr geehrte Redaktion, sehr geehrte Frau Pfarrerin Schardien,mit großem Interesse habe ich Ihr Gespräch mit Ulrich Matthes zum Thema Sterbehilfe gelesen.
Sehr betroffen hat mich ein Satz von Ihnen, sehr geehrte Frau Pfarrerin,
gemacht.: "wenn eine Nachbarin immer wieder sagt, sie fände es unerträglich, dass sie nicht mehr sehen kann, finde ich das auch irgendwann unerträglich. Da baut sich sozialer Druck, sei es auch nur ganz subtil".
Dazu:
1. wenn eine Nachbarin immer wieder über ihre Blindheit klagt, heißt das für mich, dass sie ihr Leid mitteilen möchte, "immer wieder" heißt, sie findet auch bei Ihnen kein Gehör.
2. Ich habe mehrere Jahre im Altenheim eine blinde Dame betreut, sie verlor als junge Frau nach und nach ihr Sehvermögen. Ich habe diese Frau für ihren Umgang mit ihrer Blindheit bewundert: den Faden zur sehenden Außenwelt nicht abreißen zu lassen, zu versuchen, all' das auszuschöpfen, was ihr Inneres bereichert; ebenso eine andere ältere Dame, blind, mit der ich auf der Straße in's Gespräch gekommen bin.
Ich bin 81 Jahre alt; ich habe keine Angst vor dem Tod, jedoch vor einem Lebensende in Blindheit oder dem Erstickungssterben. Ich weiß, dass ich ebenso verzweifelt wäre wie Ihre Nachbarin.
3. Wenn Sie "sozialen Druck" vermeinen zu spüren, so ist doch gerade dann Ihre Aufgabe als Seelsorgerin gefragt. So wie Ihr Satz klingt, schwingt da ein leiser "subtiler" Vorwurf mit gegenüber der Nachbarin, die diesen Druck leider erzeugt hat.
4. In meinem langen Leben habe ich sehr oft die Erfahrung gemacht, dass ich gerade seelsorgerisch sehr enttäuscht wurde.
Mit freundlichen Grüßen
Jutta-Maria Roth

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Es gibt über allem Gesetz und über aller Religion ein philosophisch begründetes Recht auf den Freitod. Allerdings gibt es auch lächerliche Gründe, in den Freitod zu gehen, etwa eine Zwanzigjährige, die es aus Liebeskummer tut. Deshalb muss vor dem Freitod eine Instanz greifen, die das Vorhaben hinterfragt. Diese Instanz besteht zum einen aus dem Selbstbewusstsein des Betroffenen, zum andern aus einer tragenden Gesellschaft, die hellhörig ist und Menschen in seelischer Not auffängt. An beiden mangelt es in unserer auf Äußerlichkeiten ausgerichteten Gesellschaft. In einer vernünftigen Gesellschaft, in einer emanzipatorisch organisierten Gesellschaft, gibt es kaum einen Grund, aus dem Leben scheiden zu wollen. Gibt es ihn dennoch, sollte er unbürokratisch medizinisch begleitet werden.

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Es wäre vom ethischen Standpunkt unhaltbar, Menschen mit sensorischen Verlusten, die nicht mehr erträglich empfunden werden, Sterbehilfe zu verweigern. Sehen und Hören sind einfach zu kostbar, um den schliimmen Leidensdruck zu verdrängen, der sich dadurch ergibt. Ein solcher Leidensdruck steht sogar mit an vorderer Stelle. In schwerwiegenden Fällen sollte deshalb Sterbehilfe nicht einer unendlichen Prüfung ausgesetzt sein, sondern als Selbstverständlichkeit angesehen werden.
Das versteht man am besten dann, wenn Hör- und Sehverlust gleichzeitig zuschlagen und das Leben zur Hölle machen. Beschwichtigungen von außen, die vielleicht noch von Sinnhaftigkeit sprechen, unterbleiben dann besser, denn sie sind in solchen Phasen wirklich ungeeignet.
Das Beethovenjahr ist noch nicht beendet. Seine Ertaubung ist allgemein bekannt, doch viel weniger, dass er sich auch noch mit einer Kurzsichtigkeit herumschlagen mußte, die ihm sehr zugesetzt hat. In den letzten 4 Jahren kam dann noch eine Augenentzündung hinzu, bei der es sich wahrscheinlich um eine Uveitis gehandelt hat. Das Heiligenstäder Testament wurde schon früher verfasst. Schon hieraus spricht eine Verzweiflung, die verständlich ist. Unter den Umständen der letzten Jahre muss es eher als Segen aufgefasst werden, dass Beethoven kein längeres Leben beschieden war. Wer kann es dann Menschen verübeln, die vom gleichen Schicksal betroffen sind und deren Gefühlslage deshalb die gleiche ist?
Es wäre wünschenswert, wenn sich Chrismo mit dieser Materie noch eindringlicher beschäftigt. Denn sie ist bis jetzt eher stiefmütterlich behandelt worden.
Mit freundlichen Grüßen
Jochen Heß/via Mail

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Der Meinung von Frau Schardien muss ich heftig widersprechen. Die Kirche darf nicht das Selbstbestimmungsrecht unterdrücken und das Bundesverfassungsgerichtsurteil unterlaufen. Wir können nicht die letztendlichen Entscheidungsgründe für einen Suizid ergründen, wie auch nicht den letztendlichen Willen Gottes. Ich werde (als noch Kirchmitglied)eine Verhinderungspolitik der Kirchen heftig bekämpfen. Die Kirche kann ihre Meinung gegen Suizid (-Hilfe) kundtun und vertreten. Sie überschreitet jedoch ihre Grenze, wenn sie es zu verbieten versucht. Wer Suizid ernsthaft plant, wird immer Wege finden, es zu tun. Die Durchführung ist oft unmenschlich, da sie nicht die Möglichkeit haben, z.B. ein schmerzloses Gift nehmen zu können. Z.B.: über 600 Menschen, die sich jährlich vor einen Zug werfen mit der Folge, dass unbeteiligten Menschen wie Zugfahrer, Rettungsdienstmitarbeitern und Polizisten lebenslange psychische Schäden bekommen.

Übrigens stößt auch die Palliativmedizin auf Grenzen.

Was wir tun können und sollen, ist eine gute Beratung von Suizidenten, vergleichbar der Schwangerschaftsberatung. De Betroffene muss jedoch letztendlich selbst entscheiden können. Nur auf diese Weise erreichen wir viele Suizidwillige und haben die große Chance, sie umzustimmen. Wie es sich zeigt, begehen leider viele junge Menschen vermeidbaren Suizid, die sie bei einer entscheidungsoffenen Beratung nicht getan hätten. Die Kirche kann in diesen Beratungen ihre Meinung gegen eine Sterbehilfe vertreten, sollte aber nicht den Fehler der katholischen Kirche machen, keine Beratungsschein auszustellen mit dem Effekt, dass Betroffene nicht zur kirchlichen Beratungsstelle gehen.
Die Aufgabe der Kirche ist jedoch, auf Missbrauch hinzuweisen, wenn ältere Menschen gedrängt werden. Es sollte darauf hingewiesen werden, frühzeitig zu dokumentieren, ob man ggf. Sterbehilfe in Anspruch nehmen möchte. Ich selbst habe dies getan. Ich möchte z.B.: bei fortgeschrittener Demenz nicht mehr weiter leben. Ich habe schreckliche Erfahrungen mit nahestehenden lebensmüden dementen Personen gemacht. Auch eine solche Entscheidung muss respektiert werden. Dies ist meine eigene persönliche Entscheidung und gilt nur für mich. Andere Entscheidungen bis hin zur apparativen Medizin zur Lebenserhaltung sind selbstverständlich zu respektieren.

Übrigens die nur positive Meldungen über glückliche demente Personen sind einseitig und stimmen nicht. Eine objektive Berichterstattung ist wünschenswert.

Mit freundlichen Grüßen
Gunther Debusmann, 16.11.2020

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Sehr geehrte Damen und Herren,
zu dem obengenannten Interview im letzten Chrismon finden Sie nachfolgend meinen Leserbrief:
Neue Argumente wurde nicht vorgebracht. Dafür offenbart sich eine seltsame Vermengung von theologisch-ethischen Positionen mit staatrechtlichen Grundentscheidungen unseres Gemeinwesens. Tatsachen werden unrichtig wiedergegeben und die bekannten, übertriebenen Befürchtungen wiederholt, obwohl es dazu bisher keinen Nachweis gibt.
Zu den Fakten: Suizidbeihilfe ist mindestens seit 1871 in Deutschland straffrei, anders als vorher im Mittelalter. Dies wurde erst im November 2015 geändert und im Februar 2020 vom Bundesverfassungsgericht wieder beseitigt. Wir sind also nicht in einer Phase regellosen Chaos, sondern in dem alten Rechtszustand, ohne dass es jemals auch nur ansatzweise zu den von Frau Schardien beschworenen Auswüchsen gekommen wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat auch nicht einen Anspruch auf Suizidassistenz festgestellt, sondern gerade das Gegenteil: Ausdrücklich soll Suizidhilfe in Anspruch genommen werden können, wenn sie angeboten wird. Und in einem weiteren Leitsatz der Entscheidung ist klargestellt, dass niemand verpflichtet werden kann, Suizidhilfe zu leisten.
Frau Schardien übersieht, dass das Bundesverfassungsgericht gerade keine ethischen Leitlinien aufgestellt hat. Es sagt nur, dass die Würde des Menschen, wie sie unsere Verfassung vorsieht, gerade nicht ein bestimmtes ethisches Verständnis von der Gestaltung des eigenen Lebens – mit oder ohne Leiden – paternalistisch (oder besser: maternalistisch) vorschreibt. Es bleibt natürlich der Kirche und anderen gesellschaftlichen Kräften unbenommen, ihre Ethik zu empfehlen. Aber das ist keine Frage der Grundrechte und erst recht nicht des Strafrechts!
Frau Schardien sagt, bei der Einschränkung der Selbstbestimmung sei es wie bei Corona auch. Damit alle die größtmögliche Freiheit haben, müsse man die Freiheit an manchen Stellen einschränken. Diese Gleichsetzung ist völlig unverständlich. Das eine dient der Erhaltung der Gesundheit der Bevölkerung und der Vermeidung von Opfern, dass andere ausschließlich der Wahrnehmung der Selbstbestimmung über einen wichtigen Teil des eigenen Lebens. Mit der Wahrnehmung der Freiheit über dessen Ende wird doch die Freiheit von niemand anderem eingeschränkt!
Es ist nicht hilfreich, Palliativmedizin und menschliche Zuwendung gegen die Hilfe bei der Bestimmung über den eigenen Tod auszuspielen. Das sind doch keine sich ausschließenden Gegensätze. Selbstverständlich müssen Medizin und Gesellschaft insgesamt sich um Menschen kümmern, die physisch und psychisch leiden und sich das Leben nehmen wollen. Aber das entbindet nicht den Staat, den freien, autonomen Willen zu bewahren, über sein Leben zu entscheiden, und zwar nicht nur bei Krankheit.
Wenn Frau Schardien schon auf Umfragewerte verweist, dann ist doch auch zu beachten, dass 80% der Bevölkerung die Möglichkeit eines selbstbestimmten Todes wollen, wie Befragungen immer wieder zeigen. Auch die These, wegen der Palliativmedizin gebe es kein Dilemma, hält der Wirklichkeit nicht stand. Sie ignoriert Krankheiten, die die auch mit der besten Palliativbehandlung nicht erträglicher werden. Vor allem ignoriert sie den Willen der Betroffenen, in Würde über ihr Leben bestimmen zu wollen, wozu auch das Ende gehört.
Mit freundlichen Grüßen
Bernhard Labudek, München

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An die Redaktion,
Bei der Diskussion über das Recht auf selbstbestimmte Beendigung des Lebens geht es immer um Schmerzen und Krebskrankheiten. Dabei wird ein Aspekt ausgeblendet, der mir wichtig wäre. Ich begründe das mit etwas emotionalen Ausführungen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind Arzt (oder Bürgermeister oder Pfarrer oder …), hochangesehen in Ihrer Gemeinde, anerkanntes Oberhaupt Ihrer Familie, geliebt und geachtet von Ehefrau, Kindern und Enkeln. Jetzt registrieren Sie, dass Sie auf dem Weg in die Demenz sind, weglaufen werden, in unwürdiger Kleidung auftreten, Ihre Notdurft in der Öffentlichkeit verrichten, Ihre Liebsten nicht mehr wieder erkennen, bettlägerig und am Ende wie ein Stück Fleisch hin- und hergewendet werden. Sie möchten aber Ihren Angehörigen anders in der Erinnerung bleiben und beschließen, auf diesen Abschnitt Ihres Lebens zu verzichten.
In dieser Situation hätte ich gerne jemanden (meinen Arzt), der mit hilft, diesen Weg zu beschreiten.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Gotthard Friedrich, Ahlen

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In den Diskussionen wird m.W. nie berücksichtigt, dass wir nicht einmal die Freiheit haben zu entscheiden, ob wir überhaupt leben wollen. Wir werden geboren, passiv und natürlich ungefragt. Wenn wir in einsichtsfähigem Alter damit nicht einverstanden sind, sollten wir da nicht das Recht haben, unser Leben zu beenden?
Mit freundlichen Grüßen
Th. Nitsch

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Ich bin dafür, dass Menschen, die sich in einer ausweglosen, traurigen, schmerzhaften Lage befinden, die Möglichkeit zur Sterbehilfe bekommen.
Mit einem Lokführer habe ich gesprochen, der völlig geschockt und lange arbeitsunfähig war, weil sich jemand vor seinen Zug geworfen hat.
Für unsere Gesellschaft ist es belastend, wenn jemand von einer Brücke oder einem Turm springt, sich vor den Zug wirft oder erhängt... und man diese dann findet. Diese Menschen haben vor ihrem wahrscheinlich schmerzhaften Tod keine Gespräche führen können. Sie sollten beraten werden und dann die Möglichkeit haben, sanft einschlafen zu können.