Pro
von Isolde Karle
In den Grenzfällen des Lebens ist es nicht möglich, zweifelsfreie Gewissheiten zu kommunizieren. Es gilt, offen zu sein für die Widersprüchlichkeiten des Lebens. Dies bedeutet auch, dem mit Respekt zu begegnen, der sich in unerträglichem Leid für den Tod entscheidet und sich das Recht nimmt, sein Sterben mitzugestalten.
"Das Risiko einsamer Suizide wird dadurch gesenkt"
Es ist ein Gebot der Nächstenliebe, Menschen, die mit ihrer Kraft am Ende sind, deren Schmerzen medizinisch nicht in den Griff zu bekommen sind, zu helfen, die Gabe des Lebens zurück in Gottes Hände zu legen, ohne dass sie sich sündig fühlen müssen. Oder allein gelassen werden. Darüber hinaus wird es viele Menschen beruhigen, um einen letzten Ausweg zu wissen, ohne diesen am Ende deshalb auch in Anspruch zu nehmen.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil die Würde und Selbstbestimmung des Menschen gegen staatlichen (und kirchlichen) Paternalismus verteidigt. Es stützt damit zugleich die Haltung von zahlreichen Christinnen und Christen, die sich durch die Position der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Deutschen Bischofskonferenz in dieser Sache nicht vertreten fühlen.
Isolde Karle
Das Urteil ermöglicht ein vertrauensvolles Verhältnis von Arzt und Patient, indem es die ärztliche Suizidhilfe entkriminalisiert, Ängste (auf Arztseite) reduziert und Gespräche über Sterbewünsche ermöglicht. Das Risiko einsamer und gewaltsamer Suizide wird dadurch signifikant gesenkt. Die Belastung für Angehörige, die bislang als Einzige straffrei Suizidhilfe leisten durften, wird überdies deutlich reduziert.
Das Gericht hat in seinem Urteil zugleich deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber nun gefordert ist, die Sterbehilfe mit Regeln zu versehen, die einem Missbrauch entgegenwirken. Die Kirchen täten gut daran, diesen Weg mitzugehen, den Spielraum des Urteils in einem humanen Sinn zu nutzen und ihrerseits zur Suizidprävention und zu einem Ausbau der Sterbebegleitung (durch Palliativmedizin und Hospize) beizutragen.
Contra
von Stefanie Schardien
Das Urteil bedroht die Freiheit der Einzelnen – besonders die Freiheit der Schwächsten. Suizid und die Suizidhilfe dürfen kein Normalfall werden, und doch braucht es Ausnahmen für Notfälle. Die bisherige Regelung hat dies ermöglicht: Sie hat die Geschäftsmäßigkeit der Sterbehilfe verboten und zugleich die nicht geschäftsmäßige Sterbehilfe straffrei gestellt. Unbenommen: Dieser Spielraum von § 217 wurde zu wenig genutzt. Seine Abschaffung aber kehrt die Beweislast um, zumal das Gericht erschütternd weit geht und den Personenkreis der Sterbewilligen nicht auf Schwerstkranke einschränkt. Der Wunsch zu sterben genügt – auch wenn ihn Menschen äußern, die unter Depressionen oder Mobbing leiden.
"Alte und Arme fürchten am meisten, nicht mehr selbst bestimmen zu können"
Das Bundesverfassungsgericht hat das Selbstbestimmungsrecht über alle gewichtigen Einwände gesetzt: über die Erfahrungen der Niederlande, in denen immer mehr Menschen immer früher und bei immer mehr Diagnosen, besonders bei Demenz, ihren eigenen Tod verlangen. Über die Erfahrungen mit den zweifelhaften, oft juristisch verfolgten Methoden der Schweizer Organisationen wie Dignitas. Es gibt keinen Grund zur Annahme, in Deutschland werde sich alles ganz anders entwickeln.
Stefanie Schardien
Auch der mögliche soziale Druck wird hintangestellt: Dabei ist die Verwandlung der Option von einem "Ich könnte gehen" zu einem "Warum gehst du nicht?" nur ein paar Engpässe im Gesundheitswesen und populistische Parolen weit entfernt. Eine Studie zur "Angst vorm Sterben" belegt: Alte und Arme fürchten am meisten, bei solchen Regelungen am Ende gerade nicht mehr selbst bestimmen zu können. Unrealistisch? Wie schnell vermeintliche gesellschaftliche Grundüberzeugungen kippen, hören wir ja gerade täglich in den erstarkenden rechten Parolen.
Die Kirchen, die all das mitbedenken, seien unbarmherzig in ihrer Kritik, heißt es jetzt. Was für ein unanständiger Vorwurf an jene, die sich seit langem für Palliativmedizin und Hospizarbeit starkmachen. Das Urteil ist ein Hackentritt für all jene, die in diesen Bereichen Sterbenden ein würdiges Lebensende ohne Druck – eben in Freiheit – ermöglichen.