Weihnachten lebt in vielen Familien von der Wiederholung. Endlich, ein Mal im Jahr, weiß man, was auf einen zukommt. Am frühen Nachmittag Plätzchen und Tee, dann vielleicht der Gottesdienstbesuch mit Krippenspiel der Kinder oder Enkel, danach zurück nach Hause, Spannung und Vorfreude, das Glöckchen klingelt, Bescherung, Würstchen mit Kartoffelsalat, mit den Geschenken beschäftigen, trinken, den Baum betrachten, schlafen gehen. Je nach familiärer Tradition oder Situation können einzelne Elemente in der Choreografie des Tages ersetzt werden: mal viele Menschen, mal ganz wenige, statt Gottesdienst der Lieblingsweihnachtsfilm, statt Spannung und Vorfreude Anspannung und Stress, mal ist auch ein kleiner oder größerer Streit dabei, mal gehört zum Ritual, dass man dem betrunkenen Onkel oder der betrunkenen Tante sagt, er oder sie möge doch nun bitte langsam gehen.
Und dagegen ist auch gar nichts zu sagen. Das Jahr war beruflich und privat wahrscheinlich wieder aufregend genug – und erst recht vonseiten der großen Politik: Dieses Jahr (ja, wirklich, kaum zu glauben, es ist nicht länger her) hat Donald Trump seine zweite Amtszeit angefangen, Deutschland war im Wahlkampf, es gab einen Messerangriff in Aschaffenburg und eine Terrorfahrt in München, die das Land erhitzten, eine umstrittene Abstimmung im Bundestag, bei der die Unionsparteien mit der AfD zusammen abstimmten, schließlich einen neuen Kanzler Friedrich Merz, zigfache Hoffnung auf Frieden in der Ukraine und im Nahen Osten, ein vorläufiges Ende des Gaza-Kriegs, zigfache Angst vor einem frühen Aus der deutschen Bundesregierung, eine rechtsextreme Partei im dauerhaften Umfragehoch und so viel mehr. Selbst beim Aufschreiben stockt einem der Atem, und es ist kaum zu fassen, dass das alles dieses Jahr passiert ist und nur ein Bruchteil des Geschehens war, das wir alle täglich im unendlichen Nachrichtenstrom miterleben.
Da muss man sich einfach nach Ruhe sehnen. Möge bloß nichts passieren. Nur keine Überraschungen! Diese Sehnsucht nach dem Immergleichen an Weihnachten steht im Kontrast zur Geschichte, um die es bei diesem Tag zumindest ursprünglich einmal ging: Denn die biblische Weihnachtsgeschichte ist eigentlich eine Überraschungsgeschichte. Maria wird schwanger, ohne mit einem Mann geschlafen zu haben, das ist schon eine ziemliche Überraschung. Josef erfährt, dass Maria schwanger ist und weiß natürlich, dass er damit nichts zu tun hatte. Auch das ist für ihn sicherlich überraschend gewesen. Die Hirten sitzen des Nachts auf dem Feld, da kommt ein Engel: Überraschung! Dann ist der Engel auch noch freundlich und sagt: "Fürchtet euch nicht!" – das war die erste Überraschung. Und es geht weiter: Ein Retter wurde geboren, der ist aber ein Kind, das auch noch in einem Stall liegt - klein, harmlos und verletzlich.
Die Protagonisten der Weihnachtsgeschichte dürften sich gedacht haben: Damit habe ich jetzt nicht gerechnet, wow. Es soll ja hier um Weihnachten gehen, deswegen sollten wir nicht zu sehr abschweifen, aber kurz erwähnen kann man schon, dass es mit der Geschichte Jesu ziemlich überraschend weiterging: Erst geschah gute 25 Jahre fast gar nichts, schöner Retter, werden sich die Hirten vielleicht gedacht haben. Dann kam der große Auftritt Jesu, er scharte viele Jüngerinnen und Jünger um sich und alles läuft ganz gut. Es dürfte also überraschend gewesen sein, dass Jesus sich ohne Gegenwehr verhaften lässt und dann am Kreuz stirbt. Überraschenderweise war die Geschichte damit aber nicht zu Ende, sondern: Auferstehung, Gemeindegründung, weltweite Verbreitung hin zur größten Religion aller Zeiten. Die Weihnachts- und Christentumsgeschichte ist voller Plot-Twists.
Damals, als Jesus geboren wurde, war nicht abzusehen, dass dieses Kind und seine Geschichte einmal die Welt erobern würden – im Guten wie im Schlechten. Dass es so kam, hängt sicher auch damit zusammen, dass diese Geschichte sich so unerwartet entwickelt hat. Und genau dieses Unerwartete, Überraschende zieht sich seitdem wie ein roter Faden durch die Geschichte unseres Kulturraums. Ja, man kann sogar sagen, dass das Weihnachtsereignis die Vorstellung vom Lauf der Geschichte auf den Kopf gestellt hat: Von "Es kommt alles, wie es kommen muss, und wiederholt sich dann" auf "Die Geschichte ist eine Wundertüte, mal sehen, was kommt". Denn das an Weihnachten im Jahre 0 geborene Christentum stellte das allgemeine Zeitverständnis auf den Kopf: Die Geschichte verläuft seitdem als Zeitstrahl und das Ende ist für dich, lieber Mensch, offen.
Das Christentum geht zwar davon aus, dass das Ende aller Tage ganz sicher einmal kommen wird. Doch ist dieses Ende kosmologisch gedacht – niemand weiß, was das für ihn oder sie persönlich bedeuten wird.
Und selbst für alle, die mit großer Geschichtstheorie oder religiösen Erzählungen nichts anfangen können, dürfte diese Erkenntnis einleuchtend sein: Niemand weiß sicher, was der Morgen bringt, niemand weiß sicher, was nächstes Jahr kommt. Das Leben, im Großen und im Kleinen, bleibt ganz sicher überraschend.
Das mag ein wenig erschreckend sein und sich nicht wie die besinnliche Weihnachtsbotschaft anhören, die viele Herzen vielleicht erhoffen. Eine gute Nachricht ist dieses Überraschungsmoment dennoch. Wir Menschen haben ja einen Sinn für das Überraschende! Wer liest schon gern ein langweiliges Buch, wer schaut schon gern einen langweiligen Film oder spielt ein Spiel, das zum Einschlafen ist? Nicht sehr viele. Das wissen auch diejenigen, die damit Geld verdienen. Die Serie "Game of Thrones" etwa entwickelte sich auch deswegen zu einem der größten Erfolge aller Zeiten, weil die Zuschauer niemals wussten, was als Nächstes passieren würde – wir Menschen lieben die Spannung.
Lesetipp: Was uns trotz Krisen hoffen lässt
In der intriganten, brutalen, ans Mittelalter angelehnten Fantasywelt der Serie folgt ein Plot-Twist auf den nächsten. Mal stirbt die Hauptperson, die man gerade ins Herz geschlossen hat, mal tauchen neue, unbekannte Mächte auf, die das ganze Ränkespiel durcheinanderwirbeln. Zwar ist in der Welt von "Game of Thrones" niemals wirklich klar, wer gut und böse ist, und oftmals zeigt sich, dass eine Hoffnungsträgerin oder ein Held doch nicht so strahlt, wie es die Zuschauer dachten – es ist also wie im echten Leben. Und gerade deswegen hofft man immer mit, wenn man zuschaut. Immer bleibt das Grundgefühl, es könnte auch ganz anders sein und kommen, als man denkt, und vielleicht geht es ja doch gut aus. Das Vielleicht, die Möglichkeit des Unerwartbaren, ist Grundlage aller Hoffnung und allen Muts.
Dieses Wörtchen "vielleicht" ist zentral und man sollte es nicht unterschätzen – das sagt auch der Autor und "FAZ"-Journalist Simon Strauß in der aktuellen Folge des chrismon-Podcasts "Über das Ende", die am 25. Dezember online geht. Er erzählt darin die Geschichte eines Rabbis, der immer wieder gefragt wird, was denn nun nach dem Tod kommt. Der Rabbi sträubt sich, will sich nicht festlegen. Es werden Beweise von ihm gefordert. Schließlich sagt er: Beweise habe ich keine für ein Leben nach dem Tod, aber vielleicht ist es wahr und es wird eines geben.
Die Zukunft ist ungewiss, gewiss ist nur, dass sie überraschend sein wird, und vielleicht ist es wahr und sie wird viel besser, als wir denken. Diese Lust an der Überraschung, kombiniert mit dem Wissen, dass Ungewissheit bedeutet, dass es auch viel besser kommen kann, als wir momentan denken – das steckt in der christlichen Weihnachtsgeschichte.
Vielleicht geht die Rettung der Welt vor der Klimakatastrophe zum Beispiel nicht von Europa aus, sondern von China. Denn China stößt einerseits so viel CO₂ aus wie kein anderes Land. Fast 30 Prozent der weltweiten Emissionen stammten 2024 aus China – was vor allem an der Stromerzeugung durch Kohlekraftwerke liegt. Doch gleichzeitig wächst die Stromerzeugung durch erneuerbare Energien in China in für deutsche Verhältnisse unvorstellbarem Ausmaß: Allein im Monat Mai 2025 hat China Photovoltaikanlagen mit einer Kapazität von ungefähr 93 Gigawatt errichtet, wofür Deutschland – wie der "Spiegel" schreibt – 30 Jahre gebraucht hat. Wenn das so weitergeht, werden die bisherigen Klimamodelle auf den Kopf gestellt.
Vielleicht verblöden wir Menschen doch nicht zugunsten der Kontostände von Techmilliardären, sondern erleben eine Renaissance der persönlichen Begegnungen. Australien hat im Dezember 2025 bekanntlich als erstes Land weltweit ein Gesetz in Kraft treten lassen, das Kindern und Jugendlichen eigene Social-Media-Accounts verbietet und sie damit schützt. 60 Prozent der Deutschen sind laut einer aktuellen Umfrage dafür, ein solches Gesetz auch in Deutschland zu erlassen.
Vielleicht ist es eine gute Nachricht und keine schlechte, dass wir mittlerweile im sogenannten Anthropozän leben, also dass der Mensch der bestimmende Faktor der Weltentwicklung geworden ist und nicht mehr natürliche, geologische Prozesse. Denn bei allem, was man gegen den Menschen berechtigterweise einwenden kann, hat er doch mehr Interesse an einer menschenfreundlichen Umwelt als "die Natur" oder geologische Prozesse. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass menschliche (nicht natürliche) Bemühungen dafür gesorgt haben, dass laut Unicef die Sterblichkeit bei Kindern auf einem historischen Tiefstand ist: "Die Kindersterblichkeit hat sich seit 2000 mehr als halbiert, von 9,9 Millionen Kindern unter fünf (2000) auf 4,8 Millionen Kinder unter fünf (2023). Im Jahr 1990 waren es noch 12,8 Millionen", so berichtet es Unicef.
Wenn wir uns also auch in diesem Jahr auf das alljährliche Weihnachtsritual freuen und dem immer gleichen Ablauf hingeben, dann könnten wir ein wenig positive Anspannung in unser Herz lassen. Denn die Weihnachtsgeschichte sagt auch: Gottes Geschichte mit den Menschen ist voller Plot-Twists, und sicher ist nur, dass die Geschichte nächstes Jahr weitergeht. Das könnte aber auch heißen, dass es überraschend gut wird, denn vielleicht wird alles besser als gedacht.



