Um es gleich vorwegzunehmen: Frank Zander ist natürlich kein Heiliger. Zum einen lebt er noch – Gott sei Dank! – und zum anderen hat "Frankie" vermutlich kein Leben für den Glauben geführt, wie es die Definition verlangt. Bei Auftritten schenkt ihm sein Publikum eher selten Blumen, dafür hie und da mal eine Flasche Wodka. Doch bei einem dieser Konzerte habe ich einen heiligen Moment erlebt . . .
In Berlin war das, im Festsaal des Neuköllner Estrel-Hotels, Ende der Neunziger. Frank Zander stand auf der Bühne bei seiner berühmten Weihnachtsfeier für Obdachlose; ich gehörte seinerzeit zum Helferteam. Und wie jedes Jahr gab er nach dem Gänsebraten und der Bescherung drei, vier bekannte Songs zum Besten, unter anderen "Hier kommt Kurt" und "Ich trink auf dein Wohl, Marie".
Als die Menge dann nach einer Zugabe rief, spielte er seine (damals neue) Hertha-BSC-Hymne – ein deutsches Cover der Rod-Stewart-Ballade "Sailing" mit völlig harmlosen Liedzeilen: "Ich sitze da, am runden Tresen, und der Wirt zapft noch ein Bier. Hier treff ich die alten Freunde, und dann diskutieren wir. Über all die krummen Dinge, die passiert sind, irgendwo. Sowieso, woho, woho. Und sowieso, woho, woho."
Doch dann folgte der Refrain, statt des gewohnten "I am sailing, I am sailing . . ." diesmal mit Zanders rauer Stimme: "Nur nach Hause, nur nach Hause, nur nach Hause geh’n wir nicht." Ein warmer Schauer lief mir den Rücken herunter. Das ist jetzt nicht wahr, dachte ich. Auf einmal lagen sich die Leute in den Armen, viele von ihnen hackevoll, und alle sangen: "Nur nach Hause geh’n wir nicht."
Wir haben später darüber geredet. "Hast du das gesehen?", habe ich ihn gefragt. Und Zander: "Ja, klar. War nicht zu übersehen . . ." Wenn anderthalbtausend Unbedachte, betrunken und glückselig, singen: "Nur nach Hause geh’n wir nicht!"
Dazu muss man wissen, dass die Frank-Zander-Weihnachtsfeier wahrscheinlich die einzige in Berlin ist, wo die armen Schlucker zum Weihnachtsfest auch ein Bierchen bekommen. Und bei dem einen Bier muss es nicht bleiben. Und noch eins und noch eins . . . Allein die Getränkerechnung der Weihnachtsfeier war fünfstellig.
Der Geist der Weihnacht
Dass irgendwelche Stars und Sternchen in der Weihnachtszeit Charity-Events für Bedürftige spendieren, gibt’s überall. In Berlin aber ist alles anders. Bei der Saalöffnung stand der Sänger am Eingang und empfing jeden Obdachlosen einzeln per Handschlag und manchen auch mit Umarmung. Das waren anderthalbtausend Handshakes in einer Stunde! Dabei hatte es auch einen zweiten Eingang gegeben, durch den jeder und jede hätte sofort durchgehen können.
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Gibt es hierzulande irgendeinen Künstler, der an Weihnachten Ähnliches tut? Der die Unbehausten beschenkt, bewirtet, sich von ihnen umarmen lässt – und ihnen dann noch ein Konzert gibt! Der Geist der Weihnacht, an diesem Abend war er im Estrel.
Wie war das noch? Maria und Josef fanden keine Herberge, mussten in einem Stall "Platte machen", wie man heute auf der Straße sagt. Das heilige Paar hätte auch singen können: Nur nach Hause geh’n wir nicht! Und schon bei Rod Stewart transportiert die Melodie eine unglaubliche Sehnsucht, für die unsere Sprache der Worte nicht ausreicht.
Das große Fernweh bei "Sailing" verwandelt sich bei Zander dann auf wundersame Weise in Heimweh. Und jeder weiß: Durst ist schlimmer als Heimweh. An dem Abend im Estrel muss dann beides zusammengekommen sein . . .
Als Stadionhymne gedacht, sollte Frank Zander dieses Lied wenigstens einmal auf dem Kirchentag singen, auch wenn der Mann vermutlich gar kein Kirchgänger ist. Eines Tages aber wird ihn vielleicht jemand ansprechen: "Frankie, mein Freund, weißte noch? Ich war hungrig, und du hast mir zu essen gegeben. Ich hatte einen Mordsbrand, und du hast mir zu trinken gegeben. Mann, hab ich gefroren! Und du hast mir neue Kleidung geschenkt, einen Schlafsack obendrauf. Ich war so unendlich traurig, und du hast für mich eine Party gegeben, hast sogar gesungen!" Frank Zander wird dann erwidern: "Alter, ich kann mich nicht an jeden erinnern, da waren immer so viele Obdachlose." – Und der Herr wird sagen: "Ja, eben drum."



