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Alles hat seine Zeit, auch die Bilder des Leidens und des Grauens. Dieser Gedanke kam mir, als ich die sehr eindrückliche Arte-Dokumentation "Auf den Spuren der Geschichte" über die Nürnberger Prozesse sah. Hier spielen die krassen, immer noch zutiefst verstörenden Filmaufnahmen aus den gerade befreiten Konzentrationslagern eine entscheidende Rolle.
Die Verhandlungen wurden eröffnet, gerieten aber bald ins Stocken. Die angeklagten NS-Größen begannen, es sich auf der Anklagebank gemütlich zu machen, zu plaudern und zu lachen. Da ließen die Richter Leinwand und Projektor aufbauen und das Licht fast löschen. Jetzt zeigten sie in extremer Drastik, worum es ging, nämlich um welthistorisch unvergleichliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Filmaufnahmen von den geschundenen, nackten Leichnamen, den Leichenbergen – endlich wurden sie den Angeklagten, Richtern, Anklägern, Verteidigern, Journalisten und der ganzen Welt gezeigt. Das war notwendig. Denn nun ließen sich die NS-Verbrechen nicht mehr leugnen oder verharmlosen. Selbst einigen der NS-Leute stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben, wie Originalaufnahmen zeigen.
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Andererseits: Schaut man sich heute diese Dokumentation an, ist man von den Bildern des Grauens schockiert, zugleich aber fragt man sich, ob diese Präsentation des Leidens immer noch angemessen ist. Inzwischen hat man in Gedenkstätten, in der Pädagogik, aber auch in den Medien und im Film gelernt, dezenter zu sein. Aus gutem Grund, denn es ist ein Zeichen des Respekts, wenn man unschuldig leidende Menschen nicht als entstellte Opfer zeigt, sondern ihre Würde im Gedenken wahrt. So wie damals bei den Nürnberger Prozessen können und sollen wir es nicht mehr machen.
Das erinnert an einen wunderbaren Begriff, den Goethe geprägt hat: die "Ehrfurcht vor dem Leiden". Zu Beginn seines Alterswerks "Wilhelm Meisters Wanderjahre" lässt Goethe seinen Helden gemeinsam mit dessen Sohn die "pädagogische Provinz" besuchen, ein idealisiertes Reforminternat.
Dort lernen sie die dreifache Ehrfurcht kennen. Die erste ist die Ehrfurcht vor dem, was über uns ist: Gott und die irdischen Autoritäten. Die zweite ist die Ehrfurcht vor dem, was uns gleich ist: die Mitmenschen und die Solidarität untereinander. Die dritte ist die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist.
Diese dritte Form der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist – also das Leiden –, wird durch den gekreuzigten Christus symbolisch dargestellt. In Goethes Roman begegnen Vater uns Sohn einer Darstellung des Gekreuzigten in der Gemäldegalerie der "pädagogischen Provinz" – auf eine sehr dezente Weise.
Das Bild des Gekreuzigten, das "Heiligtum des Schmerzes", wird nicht direkt präsentiert: "Jene letzte Religion, die aus der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, entspringt, jene Verehrung des Widerwärtigen, Verhassten, Fliehenswerten geben wir einem jeden nur ausstattungsweise in die Welt mit". Nicht, dass man sie künstlich verbergen würde, "aber wir ziehen einen Schleier über diese Leiden, eben weil wir sie so hoch verehren. Wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel aufdrang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu tändeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, bis das Würdigste gemein und abgeschmackt erscheint", so heißt es in "Wilhelm Meisters Wanderjahre".
"Wir ziehen einen Schleier vor die Bilder der Passion." Das könnte die Überschrift über eine Reihe von wunderbaren künstlerischen Interventionen in Kirchen sein, die in den vergangenen Monaten in Chemnitz und im Erzgebirge unternommen wurden: Traditionelle Altarbilder des Gekreuzigten wurden von Gegenwartskünstlern verhüllt – so zum Beispiel der Altar der Kirche von Mittweida durch die Münchner Künstlerin Brigitte Schwacke. Das ergab einen hochinteressanten Dialog zwischen Kirche und Kunst, machte neu aufmerksam auf die alten Passionsbilder und förderte nicht zuletzt die kostbare, lebensnotwendige Ehrfurcht vor dem, "was unter uns" und zugleich ein Teil von uns ist.



