chrismon: Warum rufen Sie Freiwillige dazu auf, Häftlingskarteikarten aus Konzentrationslagern abzutippen? Die Karten wurden doch schon eingescannt.
Sonja Pösel: Mit dem Scannen haben wir die Dokumente erst mal nur vor dem Verfall gerettet. Es gibt also jetzt Bilder von den Dokumenten. Aber das Internet ist dämlich. Wenn ich in einer Suchmaschine einen Namen eingebe und der ist nur als Bild dargestellt, findet die Suchmaschine den Namen nicht. Deshalb müssen wir die Informationen von den Häftlingskarten in eine Datenbank eingeben. Dafür brauchen wir die Hilfe von Freiwilligen.
Kann das nicht künstliche Intelligenz tun?
Wenn Sie diese Karten sehen – die sind von Menschen geschrieben, oft mit der Hand, da stehen die Informationen nicht immer an derselben Stelle, da sind Stempel drauf, da sind Flecken drauf – damit hat die KI Probleme. Bei einigen unserer Projekte nutzen wir auch KI, wir arbeiten dann intern vieles nach.
Sonja Pösel
Wozu soll diese Onlinedatenbank am Ende gut sein?
Wir sind das weltweit größte Archiv über NS-Verfolgte, von den Alliierten vor circa 75 Jahren gegründet. Wir haben heute immer noch 20 000 Anfragen im Jahr. Jüngere Generationen wollen mehr über die Schicksale ihrer Angehörigen wissen. Wir merken aber auch, dass es den Menschen nicht nur um die reine Information geht, sondern sie wollen wirklich diese historischen Dokumente anschauen können. Wenn wir es schaffen, das Onlinearchiv mit allen Informationen zu füttern, dann kann man darin selbstständig suchen – für die eigene Familiengeschichte, zu wissenschaftlichen Zwecken oder aus persönlichem Forschungsdrang.
Sie haben das als Pilotprojekt zuerst mit Jugendlichen in Schulen ausprobiert, 2020, wie fanden die das?
Die waren begeistert, die wollten immer weitermachen, manche wollten gar nicht nach Hause. Es gibt viele engagierte junge Menschen, die nach etwas suchen, wo sie wirklich mitarbeiten können. Dieses Projekt wird in der Schule gemacht, aber es ist eben nicht für den Lehrer, nicht für die Note, nicht für die Schublade. Sondern sie helfen wirklich.
Mittlerweile können alle Leute mitmachen und Häftlingskarten abschreiben. Was haben diese Freiwilligen für Motive?
Es gibt sehr unterschiedliche Gründe fürs Mitmachen. Während Corona, als viele allein zu Hause saßen, wollten die Menschen was zu tun haben – und über unser Forum konnten sie auch Kontakte knüpfen, da sind Freundschaften entstanden, sogar über Kontinente hinweg. Und dann gibt es Einzelne, die sich extrem engagiert haben. Eine Freiwillige zum Beispiel hat im letzten Jahr 15 000 Dokumente bearbeitet.
Wissen Sie etwas über diese Frau?
Nein, nichts, sie möchte nicht über ihren Nicknamen hinaus bekannt werden. Aber wir haben gerade in einer kleinen Studie die Leute gefragt, warum sie bei dem Projekt mitmachen. Manche sind selber familiär betroffen; oder je-
mand sagt, mein Großvater war Täter, ich möchte gerne etwas Gutes tun; auch Open Data ist für manche eine Motivation, jeder soll sich selber ein Bild machen können von den Verbrechen der Nationalsozialisten, und dazu müssen alle Zugriff haben, daran wollen sie mitwirken. Und dann gibt es viele, die einfach nicht möchten, dass diese Opfer des Nationalsozialismus in Vergessenheit geraten.
Dann ist das Abschreiben der Karteikarten auch eine neue Form von Gedenken?
Ja, das ist eine neue, moderne Form von Gedenken. Es entsteht das weltweit größte digitale Denkmal für die Opfer und Überlebenden der NS-Verfolgung. Und weil es digital ist, können viele Menschen teilhaben, auch wenn sie ihre Wohnung nicht verlassen können.
So können Sie Ihre Familiengeschichte recherchieren - eine Anleitung
Ich habe das neulich mal selbst probiert und fand es nicht einfach – schon weil die Anweisungen, was ich tun soll, auf Englisch waren . . .
Wenn Sie unten auf "Account" klicken, ist da ein Sprachumschalter.
Am Ende bin ich an einem nicht entzifferbaren Straßennamen aus einer polnischen Stadt gescheitert. Mist, hab ich gedacht, was mach ich jetzt.
Das versteh ich. Das ist genau unsere Erfahrung: dass es so, wie wir das bisher gemacht haben, oft zu schwer ist. Deswegen haben wir jetzt ein neues Tool entwickelt. Die neue Plattform soll den Zugang einfacher machen. Man muss nicht so viel lesen, die Anweisungen sind klarer, außerdem haben wir für den Anfang Bestände ausgesucht, wo die Scans besser lesbar sind, weil sie neuer sind und nicht aus den 70er Jahren stammen. Alle sollen mitmachen können.
Aber wenn ich was einfach nicht lesen kann?
Wenn eine einzelne Angabe unlesbar ist, zum Beispiel der Geburtsort, tippt man "unklar" in das Feld ein. Dann gucken sich das unsere Profis noch mal an. Wenn Sie die ganze Karte nicht lesen können, klicken Sie auf das Symbol für "Neu laden", dann bekommen Sie eine andere Karte auf den Bildschirm. Wenn man es zum ersten Mal macht, muss man auch mal einen Hilfetext lesen, aber im Grund genommen ähnelt sich das immer.
Könnte ich mich auch direkt austauschen mit anderen?
Ja, Sie klicken auf "Forum", und dann taucht dieses Pop-up auf: "Stell eine Frage zu diesem Dokument"; Sie posten und wir antworten Ihnen – oder Leute aus dem Forum. Man ist nicht allein!
Was ist, wenn ich was falsch abschreibe?
Sie müssen keine Angst haben. Jede Karte wird dreimal bearbeitet, also von drei verschiedenen Personen eingegeben. Wenn diese Eingaben dann voneinander abweichen, schauen wir uns das intern noch mal an.
Ist das eigentlich vom Datenschutz her okay?
Die Arolsen Archives unterliegen nicht den deutschen Datenschutzgesetzen. Das internationale Gremium, das unsere Arbeit im Sinn der ehemals Verfolgten überwacht, hat bestimmt: Alle Dokumente aus dem Archiv sollen zugänglich sein – außer Anfragen, die jünger als 25 Jahre sind.
Kürzlich hatten Sie 30 000 Häftlingskarten aus dem Konzentrationslager Stutthof online gestellt – aber dort waren doch 110 000 Menschen in Haft.
Das sind alle Karten, die überliefert sind. Die Nationalsozialisten haben bei der Befreiung der Lager extrem viel vernichtet. Manchmal waren es die Häftlinge selber, die bei ihrer Befreiung in die Schreibstuben gegangen sind und Karten gerettet haben, weil sie wussten, das ist die einzige Möglichkeit, einen Verwandten, der in ein anderes Lager weiterdeportiert wurde, wiederzufinden. Deshalb gibt es diese Bestände.
Ein Zoom-Webinar mit Tipps zur Recherche der Familiengeschichte
Wie viel Prozent aller Namen in Ihrem Archiv haben Sie schon digitalisiert?
Wir können nur schätzen, wie viele Namen wir insgesamt haben: wahrscheinlich 17,5 Millionen Namen. Wir wollen eigentlich bis 2025 unsere rund 30 Millionen historischen Dokumente digitalisiert haben, und zwar nicht nur als gescannte Bilder. Aber von diesem Ziel sind wir weit entfernt. Unser großes Problem sind die unglaublich vielen Listendokumente – Deportationslisten, Eingangslisten. Die sind sehr schwer zu erfassen. Da haben Sie 40 oder 50 Namen auf einem Dokument, oft handschriftlich. Um voranzukommen, arbeiten wir bei den Listen mit Profis und KI. Es ist noch viel zu tun. Aber wir sind dran. Und wir haben jetzt Prioritäten gesetzt.
Worauf konzentrieren Sie sich jetzt, damit es schneller vorangeht?
Auf die Erfassung der Grunddaten, also Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Häftlingsnummer. Es kann sein, dass wir die Karten, etwa die aus Stutthof, später noch mal online stellen, um weitere Daten auf der Karte zu erfassen – zum Beispiel Beruf, Namen der Eltern, Wohnort. Aber jetzt werden erst einmal die Grunddaten erfasst, damit diese Person, dieser Name online gefunden werden kann.
Wie viele haben bislang als Freiwillige mitgemacht?
60 000 Freiwillige. Manche haben Tausende Karteikarten eingegeben, manche nur eine. Für mich ist jede Person, die sich damit auch nur einmal beschäftigt hat, toll. Das ist fantastisch, wenn ein Mensch 15 000 Karten eingelesen hat, aber mein Ziel ist, dass möglichst viele Menschen so ein Dokument wenigstens einmal gesehen haben.
Mitmachen kann man auf dem Tablet oder am PC: https://everynamecounts.arolsen-archives.org/
Opfer-Archive: Die Arolsen Archives sind das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Sie beinhaltet Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen des NS-Regimes. Die beiden anderen großen Dokumentationsstätten sind das Yad Vashem in Israel und das United States Holocaust Memorial Museum in Washington. Das Fernziel ist, dass alle Informationen digital zusammengeführt werden.