Psychologie
Wie kann man gut mit psychotischen Menschen umgehen?
Wenn Menschen an Psychosen erkranken, ist das auch für Angehörige eine große Herausforderung. Die Journalistin Sabine Stamer hat jetzt ein Buch darüber geschrieben
Langzeitbelichtetes Foto von einer Frau, die auf einem Bett am verdunkelten Fenster sitzt.
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Privat
28.10.2025
5Min

chrismon: Sie haben bisher vor allem Sachbücher und Biografien geschrieben, etwa über Daniel Cohn-Bendit und Inge Meysel - wieso jetzt einen Roman?

Sabine Stamer: Das war schon immer ein Wunsch von mir. Ich wollte sehen, ob ich das kann. Jetzt bot es sich an, weil ich mit vielen Betroffenen und Angehörigen gesprochen habe, die sehr offen über ihre Erfahrungen gesprochen haben, aber nicht erkannt werden möchten. Daher wählte ich das Fiktionale – so bleiben sie anonym. Die Geschichte von Miss Sonderbar und ihrer Familie ist so nie passiert. Viele einzelne Begebenheiten, Gefühle und Ereignisse im Buch beruhen jedoch auf realen Erlebnissen.

Sabine StamerBarbara Litzenroth

Sabine Stamer

Sabine Stamer (Jahrgang 1956) ist eine deutsche Autorin und Journalistin. Sie hat in Rom, Washington und Paris gearbeitet. Bekannt wurde sie unter anderem für ihre Biografien über Daniel Cohn-Bendit (2001), Inge Meysel (2003) sowie den Bestseller Mein Amerika – Dein Amerika (2016) den sie gemeinsam mit ihrem Ex-Mann Tom Buhrow schrieb. Sabine Stamer lebt in Hamburg. Der Roman "Miss Sonderbar", 2025 im Lübecker Rote Katze-Verlag erschienen, ist ihr erstes fiktionales Buch.

Wann kam Ihnen die Idee?

Das ist schon ziemlich lange her. Eine Freundin erzählte mir vor über zehn Jahren, dass ihr Kind an Schizophrenie erkrankt ist. Klischees wie "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" sind bekannt. Als Journalistin wollte ich das besser verstehen – also begann ich zu recherchieren. Später ermutigte mich mein jetziger Mann, dessen erste Frau unter einer psychischen Erkrankung litt, die Suche nach einem Verlag zu intensivieren.

Wie haben Sie recherchiert?

Ich durfte in einer psychiatrischen Notaufnahme hospitieren – etwas sehr Ungewöhnliches. Dort konnte ich bei Visiten dabei sein und mit Patientinnen und Patienten sprechen. Der leitende Arzt hat mir großes Vertrauen entgegengebracht. Dort war eine Patientin, die fest davon überzeugt war, von den Ärzten vergiftet zu werden. Sie aß nur verschlossene Lebensmittel – etwa aus Joghurtbechern oder Getränketüten – und verweigerte alles andere. Sie zeigte auf ihren Bauch und sagte: "Das sehen Sie doch, hier kommen die ganzen Gedärme hervor, weil die mich so krank gemacht haben." Für sie war das völlig real – obwohl ich, wie alle anderen, nichts sehen konnte. So etwas hätte ich mir vorher nie vorstellen können.

In Ihrem Buch ist die Hauptfigur Britta zeitweise stabil, heiratet und bekommt ein Kind – wie gelingt ihr das trotz der Krankheit?

Es gibt sehr gute Medikamente, die haben aber auch heftige Nebenwirkungen. Und es ist schwierig, die richtige Dosierung zu finden. Allein die Diagnose ist kompliziert: Psychische Erkrankungen verlaufen selten eindeutig – häufig treten mehrere Störungen gleichzeitig auf. Britta hat auch gute Zeiten: Sie verliebt sich, heiratet, bekommt eine Tochter. Gleichzeitig lösen solche entscheidenden Ereignisse und der damit verbundene Stress oft neue Psychosen aus. Danach geht es eine Zeit lang wieder besser, bis sie erneut abstürzt, weil sie glaubt, die Medikamente nicht mehr zu brauchen.

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Was würden Sie Angehörigen raten?

Ich bin Autorin, keine Expertin. Aber ich habe erlebt, dass es hilft, eine ernste psychotische Erkrankung als Krankheit zu akzeptieren. Für Angehörige ist das oft schwer, man denkt schnell: "Kann sie sich nicht einfach zusammenreißen?" Doch bei jemandem im Rollstuhl würden wir auch nicht sagen: "Kann der nicht einfach mal die Treppe hochspringen?" Entscheidend ist, zu begreifen, dass es sich wirklich um eine Krankheit handelt und dass die Betroffene nur begrenzt Verantwortung dafür trägt. Gleichzeitig muss man lernen, den Erkrankten ernst zu nehmen, ihm ein gewisses Maß an Selbstbestimmung zu lassen.

"Angehörige psychisch Kranker sollten auch auf sich selbst achten, um die nötige Stärke zu behalten"

Sabine Stamer

In Ihrem Buch leidet man stark mit Brittas Angehörigen mit – zum Beispiel mit der Mutter, die in Fürsorge aufgeht, aber maßlos überfordert ist …

Ruth, die Mutter, macht im Grunde alles falsch: Sie trägt alles mit sich allein aus, lebt nur noch für ihre verschwundene Tochter und vergisst dabei völlig sich selbst, dabei sollten Angehörige psychisch Kranker vor allem auch auf sich selbst achten, um die nötige Stärke zu behalten. Gleichzeitig tut Ruth mir sehr leid, denn sie stammt aus einer Generation, die über solche Themen kaum gesprochen hat. Heute ist es selbstverständlich, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Betroffene Familien leiden oft sehr unter dem Unverständnis und dem Stigma, mit dem psychische Krankheiten, psychotische insbesondere, belegt sind. Ich hoffe, mit einer berührenden und gleichzeitig spannenden Geschichte Einblicke in so ein Schicksal geben zu können.

Sabine Stamer: Miss Sonderbar. Rote Katze Verlag, 314 Seiten, 22 Euro

Wie haben Sie den medizinischen Umgang mit den Patientinnen und Patienten erlebt?

Dort, wo ich recherchiert habe, wurde sehr respektvoll mit Patientinnen und Patienten umgegangen – das hat viele meiner Vorurteile über Psychiatrie korrigiert. Gleichzeitig habe ich erlebt, wie stark die Arbeit durch gesetzliche Vorgaben eingeschränkt ist. Zwangsmaßnahmen sind nur erlaubt, wenn eine akute Fremd- oder Selbstgefährdung besteht – aber viele Betroffene erkennen ihre Krankheit selbst nicht und halten die Umwelt für gefährlich. Für Ärzte und Pfleger ist das eine enorme Zwickmühle. Ich durfte einmal dabei sein, als eine Richterin entscheiden musste, ob eine Patientin gegen ihren Willen in der Klinik bleiben soll. Die Ärzte begründen die Notwendigkeit der Behandlung, die Betreuer sprechen für die Patientin – am Ende fällt die Richterin das Urteil. Ganz schwierig!

Was kann denn schlimmstenfalls passieren?

Besteht keine akute Gefahr, müssen die Ärzte warten, bis etwas passiert. Erst heute stand im Hamburger Abendblatt: "Psychisch Kranker wirft einjährige Tochter vor fahrendes Auto." Oft haben die Angehörigen geahnt, dass die psychisch kranke Person Aggressionen entwickeln wird. Aber solange nichts passiert ist, sind allen die Hände gebunden. Natürlich möchte niemand zurück zum alten System der Zwangseinweisungen, aber die Gesellschaft müsste darüber nachdenken, welche Maßnahmen solchen Entwicklungen vorbeugen könnten, ohne die Autonomie psychisch kranker Menschen zu sehr einzuschränken.

Was könnte man verbessern?

Zwischen einem Klinikaufenthalt und dem Alltag fehlt oft die Verbindung. Nach der Entlassung müsste die Betreuung nahtlos weitergehen – am besten durch aufsuchende Therapeutinnen, Sozialarbeiter oder den sozialpsychiatrischen Dienst. Das heißt, die Unterstützung geht zum Klienten oder zur Klientin, denn viele schaffen es in ihrem Zustand nicht, selbst den Weg zur Behandlung zu gehen. Da gibt es noch viel zu tun.

Infobox

Der Roman "Miss Sonderbar"

Inhaltsangabe "Miss Sonderbar":

Britta ist ein besonderes Kind – klug, sensibel und eigenwillig. Doch im jungen Erwachsenenalter verändert sich etwas in ihr. Ihre Eltern beobachten hilflos, wie ihre Tochter zunehmend von Verwirrung, Ängsten und Wahnvorstellungen beherrscht wird. Was zunächst wie eine schwierige Lebensphase aussieht, entpuppt sich als schwere psychische Erkrankung. Britta schwankt zwischen klaren Momenten und tiefen Abstürzen, zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Sie verliebt sich in Jörg, heiratet, bekommt ein Kind – und doch gerät ihr Leben immer wieder aus den Fugen. Während Jörg langsam erkennt, dass seine Frau Hilfe braucht, kämpft Ruth, die Mutter, unermüdlich darum, Britta zu stützen. Doch Liebe und Fürsorge stoßen an Grenzen, wenn Krankheit, Obdachlosigkeit und die Tücken des psychiatrischen Systems übermächtig werden.

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