In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?
Samuel Koch: Manchmal, wenn mir Menschen Verlustgeschichten erzählen, ich den Eindruck habe, den Schmerz fast selbst spüren zu können, und ich mir dann mit diesem Fremden einen Träneneinschuss teile, tut das zwar weh, aber diese tiefe Verbundenheit zeigt mir, dass ich lebe. Im Turnen haben wir immer gesagt: "Wenn’s blutet, lebt’s noch." Wunden können die direkteste Verbindung zum Herzen sein. Und klar, als ich Anfang des Jahres einen Freund in Hawaii besucht habe und wir gemeinsam gesurft sind, war das wie Fliegen auf dem Wasser, und ich habe mich sehr lebendig gefühlt und für ein paar Momente vergessen, was mit mir los ist.
Samuel Koch
Wer ist klüger, Kopf oder Bauch?
Vor "Wetten, dass . . ?" zum Beispiel hatte ich kein gutes Gefühl und habe die Anfrage dreimal abgesagt. Die vernünftig-rationalen Gründe waren stärker. Vielleicht zukünftig weniger vernünftig sein? Und welche Rolle spielt das Herz? Für mich ist es eher ein innerer, anhaltender Friede, auf den ich versuche, Entscheidungen zu gründen.
Was ist Freiheit für Sie?
Ich glaube, wir sind alle unfrei und abhängig. Von 1000 Faktoren (Müllabfuhr, Öllieferung, Putzkräfte, unserer spezifischen DNA . . .). Natürlich machts mich oft fertig, aber ich habe das Privileg, täglich meine Abhängigkeit vor Augen geführt zu bekommen. Das dankbare Annehmen von Abhängigkeit gibt mir ein Gefühl von Freiheit.
"Ohne Perspektive blieb mir nichts, außer zu Gott zu schreien: Wohin sonst soll ich jetzt noch gehen?"
Samuel Koch
Haben Sie eine Vorstellung von Gott?
Imago Dei: Nach dem Bild Gottes wurden wir erschaffen – so steht es in der Bibel. Also sieht er vermutlich ein bisschen so aus wie Sie und ich. Und dann steht da, wir sollen uns kein Bild machen und: "Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir." Also versuche ich’s gar nicht erst, mir eine Vorstellung zu machen. Erfahren allerdings durfte ich ihn auch in meinen tiefsten Frusttälern: Alle Träume zerplatzt, nie wieder laufen, nie wieder selbstständig leben – ganz ohne Perspektive blieb mir nichts, außer zu Gott zu schreien: Wohin sonst soll ich jetzt noch gehen? Nach drei Monaten wurde ich zum ersten Mal im Rollstuhl auf einen Balkon geschoben. Vor mir Wiesen, ein See, schneebedeckte Berge, endlich frische Bergluft ohne Luftröhrenschnitt – das brachte mich zum Schmunzeln. Ein erster kleiner Moment, der mich mitten im Schmerz hat hoffen lassen, dass es ein lebenswertes Leben geben könnte.
Fürchten Sie den Tod?
Meine ganze Kindheit hatte ich große Angst vor dem Tod, vor dem Leben danach. Im Kindergottesdienst wurde mir gesagt, ich käme in den Himmel, aber ich hatte eine grauenhafte Vorstellung davon: "Ewig" sollte es weitergehen – unerträglich! Ich hatte jahrelang Alpträume. Dann habe ich mit 13 ein naives Gebet gesprochen: Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, dann nimm mir bitte meine Angst vor dem Tod. Ab diesem Gebet hatte ich keine Angst mehr und nie wieder Alpträume.
Wer oder was hilft in der Krise?
Je nach Krisenphase und Persönlichkeit ganz Unterschiedliches: trauern, vergeben, loslassen, Kreativität, ein Wozu finden, sich nicht um sich selbst drehen, Begegnung, Bewegung, Stille, Wahrnehmung des Guten, erkennen, dass man sterben muss, nach Hilfe fragen und diese annehmen, meist von Menschen. Auch wenn sie gar nicht helfen wollen. Ein Satz wie "Wir sind eine Elitehochschule, wir arbeiten nur professionell, also nicht mit Behinderten" hat mir auch geholfen – nämlich diese These zu widerlegen und nicht in der Krise hängen zu bleiben.
Welchen Traum möchten Sie sich unbedingt erfüllen?
Meine Frau meint, dass ich Experte sei, mich von Träumen zu verabschieden. Ich wollte Pilot sein, Kunstturntrainer, Akrobat beim Cirque du Soleil, meinen zahlreichen Kindern Flickflacks beibringen – die Liste ist endlos. Manchmal kann ich gut damit leben, an anderen Tagen denke ich: Mist! Traumhaft wäre, eines Tages ein Hoffnungsinstitut zu gründen. Und zumindest kein nerviger Bruder, Sohn, Freund und Ehemann zu sein.



