Sie befassen sich als Trauerbegleiter intensiv mit dem Leid eines jeden, und ich glaube, dass Sie bei jedem Einzelnen genau da sind, wo er oder sie gerade ist. Ist das der Schlüssel, jedem helfen zu können?
Martin Klumpp: Bei den Gesprächen braucht es Demut und Geduld. Es geht in erster Linie darum, zuzuhören. Und zu signalisieren: Du kannst bei mir dein Herz öffnen, ohne dass du beurteilt wirst. Alle Gefühle sind erlaubt. Demut bedeutet auch Mut, da zu sein und dazubleiben, auch wenn ich gar nichts machen kann, wenn ich also warten muss. Es geht zunächst nicht um das Helfen, sondern um das, was in den Betroffenen vorgeht, was sich in ihnen trotz allem Schmerz verändert. Auf diese Weise bin ich ein Katalysator für einen psychischen Prozess. Gefühle ändern sich nur, wenn sie gefühlt und zugelassen werden. Nur so kann Trauer leichter werden.
Martin Klumpp
Wie kam es zu Ihrem Engagement?
Im Studium hatte ich wenig über Seelsorge und Therapie gelernt. Eigentlich ist es das Gleiche. Es geht um Kräfte, die wir nicht selber "machen" können. Die Psychologie spricht von psychischen Kräften, ohne zu sagen, woher sie kommen. Die Theologie redet von Gott, dem wir alle Kräfte, die in uns wirken, verdanken. In beidem geht es um die Frage, was uns in der Trauer hilft. Weil mir das wichtig war, habe ich mich in Tiefenpsychologie ausbilden lassen. Das hat mich fasziniert und war hilfreich.
Was war Ihnen wichtig, als Sie im Hospitalhof, dem Zentrum der Evangelischen Kirche in Stuttgart für Bildung, begannen?
Ich überlegte zunächst, was das Wort "Bildung" bedeutet. Dass man etwas lernt? Englisch oder wie ein PC zu bedienen ist? Nein, ich nahm den Begriff Bildung in einem höheren Sinne wörtlich und wollte hinterfragen: Wie bildet sich das Selbstgefühl oder das Selbstbild eines Menschen wieder neu, wenn es durch ein schweres Ereignis, ein Unglück oder durch einen schweren Verlust infrage gestellt ist? Was passiert, wenn ein Leben zerbricht? Wenn eine Ehe kaputtgeht? Was ist, wenn ein geliebter Mensch stirbt, der einem viel bedeutet, ohne den ein Leben nicht vorstellbar ist? Wenn ein Mann seine Frau verliert oder umgekehrt, sind zwei Leben zerbrochen, das Leben des Verstorbenen und das Leben des Trauernden. Wie kann es dann weitergehen? Für viele bleibt das unbeantwortet. Ich möchte mit den Betroffenen diesen Fragen nachgehen und ihnen zur Seite stehen.
Wo setzen Sie an?
Wichtig ist, zu erkennen, was sich während des Trauerprozesses bei jedem Einzelnen entwickelt, wie Neues wachsen kann. Wie Psyche und Körper auf den schweren Verlust reagieren. Erleidet der Trauernde einen unendlichen Schmerz, der bis ans Lebensende unverändert bleibt? Oder verändert sich etwas? Und: Wie verändert sich etwas? Was kann ich dafür tun? Wie findet dieser Mensch wieder zu einem Leben, das er gern lebt, das er akzeptieren kann?
Das ist nicht einfach.
Wir können nicht über unsere Gefühle bestimmen, wann wir trauern, wie intensiv wir das tun und wie lange. Das ist für uns heutige Menschen, die wir alles im Griff haben und planen wollen, die wir mit unserem Verstand alles regeln wollen, absolut ungewohnt.
Was vermitteln Sie Trauernden, damit sie ihren Schmerz überwinden?
Gefühle lassen sich nicht wegdrücken. Wenn jemand eine große Wut hat und jemand zu ihm sagt, sei doch nicht so wütend, dann wird die Wut noch stärker. Dasselbe gilt auch für die Trauer. Wer sie nicht aushalten möchte, wer sie verdrängen möchte, bei dem dauert sie umso länger. Wer einen total erfüllten Arbeitstag durchlebt, kann viele Stunden nicht an Trauer denken. Wer dann erschöpft nach Hause kommt, wird oft von seiner Trauer wie von einer Meereswoge überrollt. Im Umkehrschluss heißt das: Die Trauer ist zu durchleben, damit sie irgendwann schwächer wird und bewältigt werden kann.
"Wenn man einen Menschen liebt, dann will man ihn nie vergessen"
Martin Klumpp
Sigmund Freud beschäftigte sich mit akuter Trauer, nachdem seine Tochter gestorben war. Es gebe keinen Trost, keinen Ersatz. Trauer sei die einzige Art, die Liebe fortzusetzen, die er nicht aufgeben wolle. Trauern Betroffene, die einen geliebten Menschen verloren haben, ein Leben lang?
Ja und nein. Wenn man einen Menschen liebt, dann will man ihn nie vergessen. Man vergisst auch nie, dass man ihn liebte. Also bleibt die Trauer immer in gewisser Weise präsent. Gleichzeitig wächst aber auch Dankbarkeit für das, was dieser Mensch für mich war. Irgendwann entsteht das Bewusstsein, dass der verstorbene Mensch für immer zu einem gehört. So bleibt die Trauer ein Teil des Lebens, in dem es trotzdem schöne Stunden geben kann.
Betroffenen wird oft unterstellt, sie trauerten zu lange und zu intensiv. Viele Therapeuten empfehlen, psychische Energie in jemand anderen zu investieren und den Verstorbenen loszulassen.
Trauer ist individuell sehr verschieden und damit auch die Dauer, bis sich ein Mensch in seiner neuen Identität wiederfindet. Je größer die Liebe, desto intensiver die Trauer. Die Zeit heilt keine Wunden. Vor allem Loslassen kommt immer das stetige Wiederherholen dessen, was war. Immer und immer wieder. Zuerst kommen die Bilder und Erinnerungen an das letzte Ende dieses Lebens. Je dramatischer, erschreckender, plötzlicher dieses Sterben verlief, desto länger und häufiger wird dieses Ende immer wieder hergeholt. So lange, bis sich eine gewisse Beruhigung einstellt.
"Man fragt sich quälend, was man hätte anders machen sollen"
Martin Klumpp
Und dann?
Eine innere Stimme sagt dann: Ja, so war es. Erst jetzt begreife ich, dass es geschehen ist. Das ist einerseits ein Fortschritt in der Trauer und zugleich eine Heimsuchung von Schmerz, weil erst jetzt die Endgültigkeit des Sterbens ganz erkannt wird. Im zweiten Schritt dieses Wiederherholens kommt der Rückblick, wie dieses Sterben begonnen hat. Wie war das, als die Krankheit anfing? Die schlimme Diagnose, das Hin und Her zwischen Angst und Hoffnung? Wie war der letzte Tag vor dem Tod, vor dem Unfall? Wer hat was dazu gesagt? Man fragt sich quälend, was man hätte anders machen sollen.
Hörtipp: Was erfährt man über das Leben, wenn man über den Tod nachdenkt? Das fragen wir prominente Menschen im Podcast "Über das Ende".
Wie kann der Verlust bewältigt werden?
Je dramatischer, schrecklicher alles war, desto länger geht das Wiederholen, bis dann wieder die innere Stimme sagt: Ja, so war das alles. Ich kann es jetzt so stehen lassen. Loslassen können wir nur das, was wir auch stehen lassen können. Es darf jetzt so gewesen sein. Im dritten Schritt dieses Wiederherholens gehen die Erinnerungen und Bilder zurück bis hin zu allem, was wir mit diesem Menschen, der jetzt nicht mehr da ist, erleben konnten oder durften. Jetzt wird dieser Mensch mit allem, was er war, in uns lebendig. Alles, was er war, stellt sich in uns ein. Jetzt kommen auch Dank und Freude auf. Auch das, was schwer und schwierig war, darf so gewesen sein. Inmitten aller Trauer wächst eine gewisse Akzeptanz, und die innere Stimme sagt jetzt: Was dieser Mensch für mich war, mit allem, was zu ihm gehörte, bleibt für immer in mir lebendig und ein Teil von mir. Sogar auch, wenn ich nach langer Trauer eine neue Beziehung eingehe, wird nichts von dem, was war, vergessen sein. Einen Ersatz für den verstorbenen, geliebten Menschen, wie Freud sagt, wird es nie geben.
Welche Vorteile bietet eine Gruppe, wie lange kommen Trauernde zu Ihnen?
Die vielen unterschiedlichen, schmerzlichen und in ihrer Intensität so starken Gefühle in einer Gruppe zu teilen, ist für die eigene Selbstfindung förderlich. Die Trauernden sind nicht allein, sie erfahren Verständnis und gegenseitige Unterstützung. Sie lernen, sich selbst zu akzeptieren mit allem, was zu ihnen gehört. Die Gruppe trifft sich zwölfmal im Verlauf eines Jahres. Das hat den Vorteil, dass wir Zeit haben, um Veränderungen zu betrachten. Trauer geht nicht schnell. Manche kommen zwei oder drei Jahre lang und begegnen anderen Trauernden. Immer muss klar sein: Niemand von ihnen muss ein schlechtes Gewissen haben, dass es dauert, bis sie wieder lustig sein können.
Was Sie persönlich antreibt, was Sie erfüllt, können wir nur erahnen …
Schon als Bub wusste ich, dass ich Pfarrer werden möchte. In die Kirche zu gehen und dort im Chor zu singen, hat mir einfach Spaß gemacht. Eine alte Frau aus der Nachbarschaft hat mir ganz viele Geschichten aus der Bibel erzählt. Das hat mich fasziniert, so bin ich Gott begegnet. Später war klar, dass ich Theologie studiere. Die Seelsorge ist mir ein Herzensanliegen. Dabei zu sein, wie Trost entsteht und wächst, dies mitzuerleben, ist ein Geschenk.