Es ist 13.35 Uhr in Wuppertal-Elberfeld, kurz nach der Mittagspause. Wie ein Spezialkommando rauschen sechs Schüler, so gerade Teenager, durch einen zentrumsnahen Baumarkt. "Ich würde sagen, wir teilen uns auf", ruft Jakob seiner Truppe zu.
In Zweierteams eilen sie zielstrebig durch die beschilderten Gassen der Schrauben- und der Holzabteilung, ziehen prüfend Hölzer aus dem Regal und rufen lautstark über die Gänge hinweg nach ihren Teamkollegen.
Eine rekordverdächtige Viertelstunde später geht ein ganzer Haufen Plastikboxen und Rohre, Schnüre und Holzlatten übers Kassenband. An der Kasse wirken die Jungen plötzlich stiller, fast ein bisschen reserviert. Bis hierher waren sie von Erwachsenen völlig unbehelligt. Jetzt grinst die Kassiererin augenzwinkernd: "Ham wir alles, ja? Dann 33 Euro. Mit Karte?" Die Geldkarte hat Jakob schon in die Luft gestreckt. "Müssen wir das jetzt selbst bezahlen?", fragt Julian erschrocken in die Runde. Und aus der Kassenschlange erkundigt sich ein älterer Herr: "Was bastelt ihr daraus?" – "Für die Schule, ein Projekt." Der Herr hakt nach: "Titel?" – "Harfe . . . Wasserharfe."
Schüler sollen raus der Komfortzone
"Die Wasserharfe" – diesen klangvollen Namen haben sich die Achtklässler für ihre Projektarbeit ausgedacht. Gemeint ist eine Apparatur, mit der man an heißen Tagen Dinge kühlen kann, ganz ohne Strom. Eine Coladose zum Beispiel. Seit anderthalb Jahren tüfteln die Schüler an der Wasserharfe, pauken Physik, entwerfen Prototypen, schreiben Einkaufszettel. Jeden Mittwoch vier Stunden lang. Am Wuppertaler Wilhelm- Dörpfeld-Gymnasium, das Jakob und die anderen besuchen, ist Projektarbeit Pflichtfach. Dabei sollen sie was fürs Leben lernen – und rauskommen aus ihrer Komfortzone.
Die Wasserharfe funktioniert wie ein nasses T-Shirt, das die warme Haut kühlt: Feine Tropfen kalten Wassers ziehen Wärme aus der Dose. Zauberwort: Verdunstungskälte.
Woran sie arbeiten möchten und wie, das ist den Schülerinnen und Schülern selbst überlassen, solange sie sich an die einzige Vorgabe halten: Für mindestens einen Menschen soll am Ende etwas besser werden. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler rühren nachhaltige Kosmetika oder Waschmittel an und erstellen Computerspiele oder YouTube-Tutorials, die über Umweltschutz aufklären sollen.
Die Rollen sind klar verteilt
Der 14-jährige Jakob wirkt selbstbewusst, wenn er von der Wasserharfe erzählt, ein bisschen wie ein Unternehmer, der sein Produkt bewirbt. Wenn er spricht, kreisen seine Hände vor dem Körper umeinander, wie um seine Argumente noch schneller abzuspulen.
Jakob ist so etwas wie der Chef der Wasserharfen-Bande, oder genau genommen ihr Kapitän: weil sich die Jungen eine "Aufstellung" überlegt haben, wie sie das nennen. Wie im Handy-Fußballspiel, das sie in der Pause zocken. Der Ausflug in den Baumarkt fühlt sich an wie ein Spiel, auch hier kommt es für die Jungs auf das Tempo an: Statt Spielpositionen werden Einkaufsposten verteilt, statt umsichtigen Passspiels zählt passgenauer Baustoff.
Vielleicht beeilen sich die Jungs aber auch so, weil sie die Freiheiten nicht verspielen wollen, die sie an den Projekttagen genießen. "Wir schwänzen Schule bei Akzenta", hatten andere Schüler an einem Projekttag bei Instagram gepostet. Statt in der Supermarktfiliale abzuhängen, hätten sie eigentlich auch in den Baumarkt gehen sollen. Der Insta-Post sei im Lehrerzimmer dann nicht so gut angekommen, berichten sie.
Gefährlich risikoarm
Den Schülerinnen und Schülern selbst mal das Zepter in die Hand drücken – in Schulleiterin Claudia Schweizer-Motte schlummerte dieser Wunsch schon lange. Für manche Schülerin sei schon das Wort Abenteuer negativ besetzt, erzählt die Schulleiterin. Ganz auf sich gestellt, ohne Familie oder Lehrpersonal, seien einige nur auf dem Schulweg.
In der Corona-Zeit schrumpfte das Schulleben dann auf die Größe von Monitorkacheln. Dass die Schul-Lockdowns auch die Bildschirmzeit drastisch erhöhten, bereitete Schweizer-Motte größere Sorgen als der verpasste Lehrstoff. "Die Jugend ist auch eine Zeit, in der ich ein Risiko eingehe", ihr Ton wird eindringlich, als sie das sagt. Die virtuellen Welten von Social Media und Videospielen, in denen sich Schülerinnen und Schüler ebenso wie Erwachsene umtun, kommen der Rektorin gefährlich risikoarm vor. Gegensteuern müssen für Schweizer-Motte auch die Schulen.
Seitdem ihr Gymnasium die Schultore endgültig wieder öffnen konnte, wandern die Schülerinnen und Schüler ihrer 9. und 10. Klassen deshalb auf eigene Faust auf die Zugspitze oder arbeiten zehn Tage lang auf einer Käsealm. Mit 100 Euro Budget und einer erwachsenen Begleitperson sollen die Älteren ein echtes Abenteuer erleben. "Temptemus" nennen sie dieses neue Schulfach. Auf Deutsch: Lasst es uns wagen! Das galt auch für die Schule: "Ein fertiges Konzept, von dem wir total überzeugt waren, hatten wir nicht. Ich hatte aber so ein Gefühl: Da hab ich Lust drauf!", erinnert sich Lehrer Thomas Wegner.
Mit den Lehrern auf Augenhöhe
Seit dem Ende der Lockdowns ist das Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium auch eine von 200 Schulen deutschlandweit, die den FREI DAY eingeführt haben. So heißen die Projekttage, bei denen auch die Wasserharfen-Crew mitmacht.
Die FREI DAYS hat Margret Rasfeld ins Leben gerufen, Verfechterin von selbstbestimmtem Lernen und einst selbst Schulleiterin. Die Proteste der Fridays-for-Future-Bewegung hätten, so Rasfeld in ihrem Buch "FREI DAY. Die Welt verändern lernen!", mehr als eindrücklich gezeigt, wie viel junge Menschen selbstständig lernen können, "wenn sie wirklich motiviert sind: Wo finde ich das Wissen, das ich brauche? Wie melde ich eine Demo an? Wie mache ich einen Flyer oder eine Website? Wie rede ich mit Polizist*innen oder Journalist*innen?"
Wie bei den Klimaprotesten sollen sich auch die FREI DAYS um Nachhaltigkeit und Umwelt drehen. Unterstützung erhält Rasfeld etwa von Pisa-Koordinator Andreas Schleicher: Schulen sollten nicht in erster Linie Wissen vermitteln, sondern sich um eine vertrauensvolle Schulkultur auf Augenhöhe bemühen. Weil die jungen Menschen dann von sich aus Dinge wissen wollen. Lehrerinnen und Lehrer auf der anderen Seite sollten ihre Rolle als Besserwissende aufgeben und sich zu, so wörtlich, "Lernbegleiterinnen, Coaches, Potenzialentdecker*innen, Unterstützer*innen und Bündnispartner*innen" entwickeln. Das ist auch für die Pädagogen nicht immer einfach.
Im Kunstraum der Schule, es ist mittlerweile 14.22 Uhr. Die Wasserharfen-Leute sägen sich die Teile für den neuen Prototyp zurecht. Hochkonzentriert und auch ein wenig angespannt fixiert Frank Lapp das Sägeblatt, mit dem Deniz*) ein Holzstück bearbeitet – und Deniz’ Hand, die das Holz gefährlich nah zum Sägeblatt hält. Nachdem der Baumarktbesuch gut geklappt hat, erweist sich das Zurechtsägen als Herausforderung.
Eigentlich ist Frank Lapp Physik- und Mathelehrer, heute coacht er das Wasserharfen-Team beim Sägen. Tapfer sagt er lange nichts – bis sich Tobias Berresheim hinzugesellt: "Oh, und wer gewinnt? Holzstab oder Säge?" Der Politiklehrer bekennt offenherzig, er sei leider auch kein Experte im Sägen.
Lapp, der immerhin "als Kind viel gesägt" hat, macht es jetzt doch einmal vor: Ritsch, ratsch, das überschüssige Holz fällt auf den Boden. "Du hattest das Sägeblatt blockiert." Nun also noch mal. Säge arbeiten lassen! Noch ein bisschen schräger! Nicht aufgeben! Als Frank Lapp die letzten widerspenstigen Holzfasern wieder mit einem Strich durchsägt, ärgert sich Deniz, wie schnell das plötzlich ging. Verdammt!
Neue Wege für ein altsprachliches Gymnasium
Derart um Augenhöhe bemüht sind die Lehrer am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium vermutlich nicht immer gewesen. Die altsprachliche Lehranstalt blickt auf eine 400-jährige Geschichte zurück, berühmte Wuppertaler wie Friedrich Engels und Johannes Rau machten ihr Abitur an dieser Schule.
Seither ist viel passiert. In der Mittagspause rennen Kinder zwischen zahllosen Terrarien und Aquarien in der Aula herum: kleinen Paralleluniversen, in denen wie schwerelos ein Axolotl treibt, eine Bartagame döst oder das Jemenchamäleon Wilhelm II. seine Augen kreisen lässt.
Die jungen Stadtmenschen sollen sich für die vielfältige Tierwelt erwärmen, so die Idee – und wieder: selbst machen und Verantwortung übernehmen. Die Wuppertaler Schule ist ein echtes Experimentierfeld. Das ist gerade für ein städtisches Gymnasium bemerkenswert – auch wenn die Ganztagsschule den Unterrichtsausfall, den die FREI DAYS mit sich bringen, leichter auffangen kann.
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Nach den ersten Erfahrungen haben Schulleiterin Schweizer-Motte und die Kolleginnen Annette Ahrenkiel und Anke Frings die FREI DAYS umgestaltet. Weil echtes Geld zu verdienen, die Schülerinnen und Schüler stärker motiviert, lernen sie jetzt, ein Produkt an den Start zu bringen. Auch Vermarktung gehört dazu. Und ganz ohne Bewertungen, wie Margret Rasfeld vorschlägt, gehe es auch nicht. Statt pauschale Noten zu verteilen, sortieren sie die Schülerinnen und Schüler jetzt auf einer differenzierteren Kompetenzskala ein.
Die zweite Erkenntnis: Weil die Projekte ausuferten, ein Waffelverkauf-Fundraising das nächste jagte und sogar Briefe an den US-Präsidenten aufgesetzt wurden, haben Schweizer-Motte und ihre Kolleginnen eine "Starterphase" eingeführt. Dort lernen schon die 7. Klassen, welche sozialen Herausforderungen und Umweltprobleme drängen, und erproben Tools für die Projektarbeit: digitale Notizsysteme etwa, mit denen sie sich untereinander abstimmen können, den Stand der Dinge oder neue Ziele teilen.
Auch ein Lernerfolg: Durststrecken überstehen
14.30 Uhr. Eine halbe Stunde vor Schluss ist bei Liam und Matthis die Luft raus. Eigentlich wollten die beiden an ihrem Modell basteln, das demonstrieren soll, wie mit Hilfe von Magneten Strom erzeugt werden kann. "Ihr bringt nächste Woche eine Bohrmaschine mit. Beide!", sagt Frank Lapp bestimmt. – "Abeeeer . . ." – "Ist mir egal!" Die Spezialbohrer konnten sie nicht auftreiben.
Liam zupft an seinen Schnürsenkeln, er ist gefrustet. So einen Durchhänger hatten sie schon mal: "Da hatten wir uns das Thema rausgesucht und dachten: Wo sollen wir jetzt eigentlich anfangen?" Zwei FREI DAYS lang haben sie nur auf ein Blatt geschrieben, was ihr Magnetmotor einmal bringen soll, "unendliche Mengen Energie" etwa. Solche Tage machen ihn einfach unglaublich müde, sagt Matthis. Beim nächsten Mal will Liam öfter eine zweite Meinung von seinen Mitschülern einholen. Er hat also trotzdem viel gelernt bei den FREI DAYS, auch über Magnete.
Der 13-Jährige kann sich vorstellen, später einmal Ingenieur zu werden – oder auch Buchautor, weil er gerne Geschichten schreibt. In denen geht es meist um magische Welten und Wesen, so wie bei seinem Vorbild, der Jugendromanserie "Wings of Fire", in der fünf junge Drachen einem Krieg ein Ende setzen wollen.
Wie Jakob freut sich auch Liam auf die Zeit bei "Temptemus", wenn er ein noch größeres Abenteuer erleben wird. Er hat aber auch Respekt davor. Als Liam ein erstes Mal den Baumarkt betrat, hat sich das für ihn "illegal angefühlt", so als dürfte er zur Schulzeit nicht dort sein, erzählt er am Telefon: "Ich dachte: Was mache ich jetzt hier?" Wenn er in zwei Jahren durch Deutschland reist, dann wird dieses Gefühl bestimmt ganz schön groß sein.
Nach der Anstrengung kommt der Stolz
Die letzten "Temptemus"-Jahrgänge haben Kameras mit auf die Abenteuerreisen genommen und aus dem Material dann einen Film geschnitten. Er erinnert ein wenig an Survivalshows wie die millionenfach geklickte YouTube-Serie "7 vs. Wild", in der Influencer mit kaum mehr als einer Kamera ausgestattet in der Wildnis überleben müssen.
Das Video der Schülerinnen und Schüler begleitet sie auf die Zugspitze, bei der Arbeit auf der Käsealm oder bei der Krisenreflexion in den Zelten. Nach zehn Tagen mit improvisiertem Essen, geplatzten Isomatten und Google-Maps-Routen, die auf Golfplätze führen, knurren die Mägen und die Nacken sind verspannt. Die meisten zeigen sich zufrieden, aber auch froh, dass es geschafft ist. Es überwiegen Erleichterung über zivilisatorische Annehmlichkeiten wie das Burgermenü beim Schnellrestaurant und Vorfreude auf das gemütliche Bett daheim.
"Wir haben die letzte Szene gedreht, es war der absolut erste Film, den wir gedreht haben", sagt eine Schülerin, zu Hause angekommen. "Sie ist stolz", feixt ihre Freundin in die Kamera, "das kommt nicht oft vor."
*) Name geändert