Es ist nicht der Regen, der mich im Sommer stört. Ich höre gern bei offenem Fenster zu, wie Tropfen auf Blätter fallen. Viele andere Geräusche mag ich überhaupt nicht: die Autobahn mit ihrem Dauerrauschen, besonders nachts; der Bus, der vor der Tür abfährt; die Flugzeuge, die in Frankfurt starten. Der Junge gegenüber zockt die ganze Nacht am Computer. Er trägt Kopfhörer und brüllt seine virtuellen Gegner an: "Neeeeeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiin, what the fuck, Diggaaaaaa!" Und die beiden Männer nebenan, die bis tief in die Nacht auf der Terrasse reden und dabei rauchen. Unsere Fenster sind deshalb nachts fast immer zu, leider. Vielleicht ist das der Preis, den man dafür zahlt, in einer Großstadt zu leben.
Weil es immer so laut ist, ist immer noch der Bericht in meinem Kopf, den ich zufällig im vergangenen Jahr las. Es ging um Trekkingplätze. Man darf dort eine Nacht zelten, wenn man sich vorher online angemeldet und bezahlt hat. Die Behörden wollen auf diese Weise das Problem mit den Wildcampern in den Griff bekommen, die sich einfach irgendwo in der Natur niederlassen. Auf so einem Platz wollte ich unbedingt mal für eine Nacht schlafen. Der Gedanke hat mich ein Jahr lang nicht losgelassen. Nun ist es soweit. Ich muss los, ab in die Stille!
Allein im Wald zu schlafen, das würde ich mich nicht trauen. Ich frage einen Freund, er sagt ab – der Rücken. Aber ich kann sein Zelt leihen. Meine Frau will auch nicht mit. Unsere beiden Jungs lehnen ebenfalls ab. Doch unsere Tochter, zwölf Jahre alt, sagt zu. Ein Grund mehr, das kleine Abenteuer zu wagen. Es kommt das Alter, in dem auch sie vielleicht nicht mehr so viel mit mir unternehmen will. Und bei drei Kindern muss man als Vater sowieso jede Chance nutzen, auch mal allein mit dem Nachwuchs zu sein.
Wohin wandern wir? Ich entscheide mich für den Trekkingplatz Lahnwiese. Er liegt im Spessart, einem Mittelgebirge, das sich über Teile Hessens, Baden-Württembergs und vor allem Bayerns erstreckt. Der Ort Schöllkrippen ist fünf Kilometer entfernt vom Zeltplatz und von Frankfurt aus in zwei Stunden mit der Bahn erreichbar. Perfekt. Der Spessartbund hat eine Packliste ins Netz gestellt, die ich gewissenhaft abarbeite. Ganz wichtig: Wasser muss man mitnehmen, das gibt es auf den Plätzen ebenso wenig wie Strom. Klopapier muss auch mit, außerdem ein Erste-Hilfe-Set. Und natürlich etwas zu essen. Man darf im Wald keinen Kiosk erwarten, der einem noch ein paar Riegel verkauft.
Wir packen den ganzen Vormittag. Dass mein Reiserucksack schwer und immer schwerer wird, bemerke ich erst, als wir zum Bus müssen. Ich kippe fast hintenüber. Vor Schreck vergesse ich die zweite Isomatte. Den Fehler bemerke ich noch in Frankfurt, aber unsere Zugverbindung lässt keinen Abstecher mehr in ein Geschäft zu. Zur Not, denke ich, schlafe ich auf den beiden Handtüchern, die ich für den Schwimmbadbesuch im Naturbad Schöllkrippen am nächsten Morgen dabeihabe.
Spontane Hilfe von Fremden
Unterwegs gucke ich auf Kleinanzeigen.de im Internet, ob jemand in Schöllkrippen zufällig gerade eine Isomatte verkaufen möchte, habe aber Pech. Weitersuchen kann ich nicht, ich muss unbedingt den Akku schonen. Das Handy ist meine Wanderkarte, aufladen kann ich es erst wieder, wenn wir zu Hause sind. Und ab Alzenau kann ich ohnehin nicht mehr aufhören, aus dem Zugfenster zu schauen. Getreidefelder, grüne Wiesen, Obstbäume, kleine Dörfer und viel Mischwald, der sich auf sanften Hügeln in die Höhe erstreckt – der Spessart ist wunderschön!
Pünktlich um kurz vor fünf am Nachmittag kommen wir in Schöllkrippen an. Der Plan ist, kurz den Ort zu erkunden und uns dann im Gasthaus Post so vollzufuttern, dass später am Abend die Snacks ausreichen, die ich schon für den nächsten Morgen im Gepäck habe. Kaum sitzen wir im Biergarten, fragt die Bedienung, ob sich zwei Leute zu uns setzen dürften. "Natürlich!", antworte ich – und wittere meine Chance. Der Mann trägt ein Funktionsshirt, der wandert bestimmt gern. Wie erhofft fragen sie, was wir mit dem großen Rucksack vorhaben. "Wir wollen im Wald zelten, aber ich Idiot habe die zweite Isomatte vergessen!" Die beiden schauen sich an. "Wir haben doch noch eine im Keller, die können Sie sich gern ausleihen, das ist kein Umweg für Sie auf dem Weg zum Schöllkrippener Forst."
Die Matte ist aus Stoff, ziemlich kurz und dünn, aber viel besser als nichts. Am nächsten Tag sollen wir sie einfach in die Garage stellen, den Schlüssel würden sie stecken lassen. Axel, so heißt mein Retter, begleitet uns sogar noch ein Stück, damit wir hinterm Schwimmbad nicht den richtigen Abzweig verpassen. Es geht auf sieben Uhr zu, als er sich verabschiedet. Um 20.56 Uhr, das habe ich recherchiert, wird die Sonne untergehen, dann sollte das Zelt, das ich noch nie aufgebaut habe, stehen. Fünf Kilometer in zwei Stunden – das sollte zu schaffen sein.
Fünf Kilometer mit 300 Höhenmetern und zwei Rucksäcken sind aber etwas anderes. Wir atmen schon schwer, als der Wald uns verschluckt. Der Weg ist nicht geteert, aber gut befestigt, das macht es leichter. Zweimal noch sehen wir Wanderer und Radfahrer, dann wird es um uns herum immer stiller. Es gibt riesige, schöne Buchen, aber auch Fichten, die sichtlich krank sind. Gelegentlich sehen wir Spuren von großen Maschinen, die den Boden im Forst aufgewühlt haben, um Bäume zu fällen. Schade, in anderen Gegenden holen die Forstleute das Holz mit Pferden aus dem Wald, um die Erde nicht zu verdichten.
Es wird langsam dunkel im Wald. Die Tochter ist immer noch bester Laune und erzählt mir von ihren Lieblingsfilmen. Sie sucht sich Fixpunkte, weil sie glaubt, dass dann die Zeit schneller vergeht, bis wir sie erreicht haben: Weggabelungen oder besondere Bäume. Und irgendwann einen grünen Streifen aus Gras auf dem Weg. Wir sind so vertieft beim Gedanken, wie lange der Streifen uns wohl erhalten bleiben wird, als wir rechts von uns einen kleinen Verschlag sehen und eine Lichtung, die vom Weg aus kaum zu erkennen ist: die Lahnwiese, unser Trekkingplatz!
Ich hatte, als ich den Platz am Vortag für 15 Euro buchte, gesehen, dass wir die einzigen Gäste sein könnten. Nun, um kurz vor 21 Uhr am Abend, wird es immer wahrscheinlicher: Wir sind hier ganz allein, da kommt keiner mehr. Ich drücke aufs Tempo, auch um die Gedankenspirale der 12-Jährigen zu unterbrechen. Unterwegs war sie vergnügt und tapfer, jetzt aber fangen viele ihrer Sätze mit "Was ist ...?" an. "Was ist, wenn Wölfe kommen?", fragt sie. "Die gibt es hier bestimmt nicht", antworte ich, ohne mir wirklich ganz sicher zu sein. Im Gasthaus hatten unsere Tischnachbarn auch über Wildschweine gesprochen, das fiel ihr nun wieder ein. "Was ist, wenn Wildschweine über unser Zelt rennen?" – "Die haben mehr Angst vor uns als wir vor ihnen!", behaupte ich.
"Was knackt da im Unterholz? Hat jemand gesehen, dass wir hier sind?"
Nils Husmann
Na ja, bevor Schweine ein Zelt umrennen könnten, müsste es erst mal stehen. Die Tochter darf den Platz aussuchen, sie wählt ein Stück Wiese neben einem Apfelbaum. Zum Glück geht der Aufbau schnell und reibungslos. Als wir Stangen und Zeltplane so miteinander verzahnt haben, dass alles steht, sieht das Zelt aus wie ein VW-Bus. Bizarr.
Wenn wir wollten, könnten wir nun ein Feuer an der Feuerstelle machen, die es hier oben gibt. Waldbrandgefahr – vorher muss man sich unbedingt im Internet informieren, ob eine Gefahrenstufe erreicht ist – besteht an diesem Tag zum Glück nicht. Aber wir müssten Holz sammeln, dafür sind wir zu müde. Die Nacht zieht auf, wir putzen Zähne. Unsere Münder spülen wir nur sparsam aus, damit das Wasser nicht knapp wird. Dann verschwindet jeder noch auf dem Plumpsklo und schließlich im Zelt.
Zum Lesen ist es zu dunkel. Die Handys sind ausgeschaltet, Internet gibt es ohnehin keines. Man kann nur schlafen. Aber ehe der Schlaf kommt, hört man hin. Es geht gar nicht anders, weil es so still ist, dass man nur das Rauschen in den eigenen Ohren hört. Sobald doch von irgendwoher ein Geräusch kommt, schrecken wir auf. Mal verliert der Apfelbaum neben uns eine Frucht, die auf den Boden fällt. Das Geräusch können wir immerhin schnell zuordnen. Dann wieder knackt etwas im Gehölz. "Was ist, wenn ein Mörder kommt und das Zelt aufschlitzt?", fragt die Tochter. "Auf keinen Fall passiert das!", sage ich. Und blicke auf den Hammer, den ich vorsichtshalber neben meiner Behelfsmatte drapiert habe. Den habe ich eigentlich nur dabei, um die Zeltheringe gut im Boden zu verankern.
Allein im Wald
Auch wir werden still. Die Tochter hält meinen Arm. Schläft sie? Ich gucke lieber nicht, sonst wacht sie vielleicht wieder auf. Es ist, als würde die Ruhe, für die ich hergekommen bin, meine Gedanken auf den Plan rufen und ihnen alle Zeit lassen, sich voll zu entfalten. Ich denke: Wäre ich ein Jugendlicher, dem es abends langweilig ist in den Ferien, dann suchte ich mir andere Jungs, um Leute auf dem Trekkingplatz zu erschrecken! Ich beruhige mich: Dafür sind wir hier viel zu weit weg von allem. Wirklich?
"Papa?", höre ich die Stimme meiner Tochter neben mir. Hat sie etwas gesehen? Es ist nicht komplett dunkel, bald ist Vollmond. War da vielleicht ein Schatten am Zelt? "Papa, ich muss Pipi." Zum Glück ist es nur das! Wir quälen uns noch mal aus dem Zelt und in die Schuhe. Es ist kalt geworden, wir sind hier fast 500 Meter über dem Meeresspiegel. Mit der Taschenlampe leuchte ich ihr in das Loch in Herzform, das in die Plumpsklotür eingelassen ist, damit sie drinnen etwas sehen kann. Dann verschwinden wir wieder im Zelt, überlassen uns unseren Gedanken, bis ich merke: Mein Kind schläft.
Mich hingegen überfällt immer wieder die Angst: Kommt wirklich niemand? Was knackt da im Unterholz? Hat uns auf den letzten Kilometern doch jemand gesehen? Ich habe mich immer wieder umgesehen, um genau das auszuschließen. Ist da ein Tier? Bestimmt gibt es viel weniger Verbrecher, als man so annimmt, aber was ist, wenn uns einer der wenigen heimsucht? Wie weit wäre es querfeldein zur nächsten Straße, wo wir ein Auto anhalten könnten? Aber was ist, wenn dann ausgerechnet unser Verfolger am Steuer säße und uns ahnungslos einsteigen ließe?
Dann fällt mir Wiebke Lühmann ein, eine Frau, die ganz allein von Deutschland aus zum Kap der Guten Hoffnung fuhr, entlang der gesamten afrikanischen Westküste. Oft war sie ganz allein unterwegs. Nachts zeltete sie. Ich hatte ihre Reise auf Instagram verfolgt, voller Hochachtung. Dann werde ich ja wohl eine Nacht im Wald aushalten!
"Ich mag es, wie der Wald riecht, so würzig"
Irgendwann schlafe auch ich ein. Und wache auf, weil ich Flugzeuge höre. Es ist 5 Uhr morgens, die Maschinen fädeln sich über uns für den Endanflug zum Frankfurter Flughafen ein. Einerseits nervig. Ich wollte Ruhe! Andererseits beruhigt mich der Lärm. Hier ist ja doch noch etwas um uns herum, wir sind nicht allein auf der Welt. Bis sieben Uhr schlafen wir weiter, bauen das Zelt ab und machen uns auf den Rückweg. Wir sind viel schneller, es geht ja nur bergab. Also trödeln wir, zählen die Baumringe eines Stammes, der am Wegesrand lagert. Bei 80 Ringen hören wir auf. Der Baum muss schon im Krieg hier gestanden haben! Dann sagt meine Tochter den Satz, der mich am meisten freut: "Ich mag es, wie der Wald riecht, so würzig." Ich, ihr Papa, empfinde das nämlich genauso und bin mir nun sicher, dem Kind eine außergewöhnliche Ferienerfahrung geschenkt zu haben.
Im Schwimmbad hole ich mir endlich einen Kaffee, so gut hat mir lange keiner mehr geschmeckt. Wir springen ein paar Mal ins Wasser und rutschen. Frisch geduscht stellen wir die Isomatte in die Garage unserer Helfer, wie versprochen. Und nach 25 Stunden steigen wir zu Hause aus dem Bus. Es kommt mir vor, als wären wir tagelang weg gewesen, so intensiv ist die Erfahrung, kurz aus dem Alltag auszubrechen und all den Lärm und Komfort hinter sich zu lassen.
Nächstes Jahr will ich wieder los, vielleicht sogar zweimal, gern wieder mit Kind und noch mal ganz allein. Ich will wissen, ob ich das aushalte. Ich brauche nur eine bessere Packliste, damit ich nicht wieder meine Isomatte vergesse. Aber wäre es dann noch ein Abenteuer, wenn man ganz planvoll an alles denkt?
Wie finde ich Trekkingplätze?
Im Internet gibt es Übersichtsseiten für einzelne Regionen. Der Trekkingplatz Lahnwiese, auf dem unser Autor gezeltet hat, findet sich beispielsweise auf dieser Seite des Spessartbundes; hier findet sich auch die nützliche Packliste, die man unbedingt studieren sollte. Thomas Weingärtner, privater Betreiber der Seite Trekkingtrails.de hat deutschlandweit Biwak- und Trekkingplätze auf einer Landkarte vermerkt. Es gibt Regionen, in denen mehrtägige Touren von Zeltplatz zu Zeltplatz – wie im Spessart – möglich sind. Meist muss man die Plätze vorab online reservieren und bezahlen.