Andreas Braun, 50, BWL-Professor: Vor etwa 20 Jahren bin ich durch eine Prüfung gefallen – höhere Mathematik. Ich dachte mir: Wenn ich das im zweiten Anlauf schaffe, dann mache ich etwas Besonderes. Meine damalige Freundin schlug vor, gemeinsam den Jakobsweg zu gehen. 800 Kilometer von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Santiago de Compostela in 32 Tagen. Das war eine der schönsten Erfahrungen, die wir bis dahin gemacht hatten. Als wir in Santiago ankamen, war ich fit wie ein Turnschuh und gleichzeitig total entspannt. Uns war klar, dass wir schnell wieder auf den Jakobsweg zurückmüssen.
Aber das haben wir verschoben, weil ich als Professor an der BSP Business & Law School in Berlin angefangen habe. Dort merkte ich, dass viele Studierende – wie an allen Hochschulen – gestresst waren. Mir kam der Gedanke: Die müssen alle den Jakobsweg gehen. Also habe ich 2016 angefangen, jährlich Pilgerreisen für 12 bis 15 Studierende anzubieten, um meine Erfahrungen weiterzugeben. Glücklicherweise fand mein Vorschlag Anklang. Das Projekt wird von der Hochschule gefördert und finanziell unterstützt.
Das Besondere am Jakobsweg ist die sogenannte Liminalität, ich bin frei von gesellschaftlichen Zwängen. Hier geht nicht Professor Andreas Braun, hier geht Andreas. Die Eigenschaften, die mich vielleicht in meinem normalen Lebensraum, in Berlin, in meiner Familie, in meinem Bekanntenkreis einschränken, lösen sich auf. Wenn ich einen anderen Pilger treffe, reicht ein "Buen Camino", das ist der Willkommensgruß auf dem Jakobsweg, und drei Minuten später führen wir die tiefsten Gespräche. Griesgrämige Menschen habe ich auf dem Weg selten getroffen.
Gleichzeitig lassen die sportliche Herausforderung und die Natur Zeit und Raum vergessen. Als ich einmal mit einer Gruppe einen Berg hinauflief, fing es an zu schneien. Es war kalt und rutschig. Wir waren alle durchnässt. Plötzlich dreht sich eine Studentin um und sagt: "Das ist das Beste, was ich bisher in meinem Leben gemacht habe." Ich dachte, sie dreht sich um und scheuert mir eine. Aber gerade solche Grenzerfahrungen in der Natur haben einen Reiz und geben einem Selbstvertrauen.
Aber es ist kein Muss. In dieser Hinsicht hat sich der Weg in den letzten 20 Jahren verändert. Damals war er streng katholisch geprägt. Ich wurde einmal von einem Herbergsvater angeraunzt, weil ich an einem Tag wegen starker Schmerzen nur 15 Kilometer gelaufen war. Er sagte: Wer nur 15 Kilometer läuft, ist kein richtiger Pilger. Inzwischen ist der Weg überkonfessionell und entspannter.
Auch für nicht religiöse Menschen hat der Jakobsweg eine lebensverändernde Wirkung. Mein Kollege, der mich bei der ersten Reise mit den Studierenden begleitet hatte, sagte am Abend der Ankunft in Santiago: "Ich bin noch nicht angekommen, ich muss noch weiterlaufen." Zurück in Deutschland kündigte er seinen Job und läuft seitdem. Unter anderem ist er den über 4000 Kilometer langen Pacific Crest Trail an der Westküste der USA gelaufen. Ich habe schon Nachrichten von ihm aus Lateinamerika und der Negev-Wüste bekommen. Er wirkt unglaublich glücklich. Wann immer es geht, versuchen wir, uns in Santiago zu treffen.
Im vergangenen Jahr bin ich den Jakobsweg nach 20 Jahren dann endlich noch mal gemeinsam mit meiner damaligen Freundin und jetzigen Frau gelaufen. Zwei unserer drei Kinder sind mit uns gelaufen. Wenn man den Jakobsweg gemeinsam überlebt, dann kann man durch den Rest des Lebens gehen.
"Für mich ging es darum, mir selbst zu vergeben"
Laura-Marie Meyer
Laura-Marie Meyer, 25, Medizinstudentin: Wir haben uns jeden Morgen mit einem Morgenimpuls auf den Weg gemacht. Das war mal ein Gedicht, mal ein Lied, mal ein Zitat oder eine kurze Geschichte. Danach bekamen wir Leitfragen für den Tag. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die Fragen: Wie sieht Vergebung für dich aus? Wem möchtest du vergeben? Kannst du vergeben?
Für mich ging es darum, mir selbst zu vergeben. Ich war in den vergangenen Monaten sehr streng und ungerecht mit mir umgegangen. Ich kam aus dem dritten Semester meines Medizinstudiums, das unglaublich anstrengend gewesen war. Außerdem hatte ich nebenbei als Krankenschwester gearbeitet. Ich bin sehr perfektionistisch, diszipliniert und durchaus leistungsorientiert. Das sind alles gute Voraussetzungen für akademische Leistungen, aber ich mache mir dadurch viel Stress, vielleicht auch unnötigen Stress. Wenn ich nicht das erreiche, was ich mir vorgenommen habe, bin ich frustriert und ärgere mich über mich selbst.
Auf dem Jakobsweg habe ich die Gewissheit gewonnen, dass ich mein Studium und mein Leben gelassener angehen kann, weil sich Probleme auch ohne übermäßigen Druck lösen lassen. Was wie ein banales Beispiel klingt, hat mich wirklich geprägt: Meine Schuhe drückten am Knöchel, weil mein Fuß zu tief im Schuh saß. Ich war völlig verzweifelt, weil ich nicht weiterlaufen konnte. Die Betreuer boten mir an, einen Tag auszusetzen und ein Taxi zu nehmen. Das wollte ich nicht. Ich hatte die Idee, es erst einmal mit Einlegesohlen zu versuchen. Ich blieb allein zurück und besorgte mir welche in der Stadt. Tatsächlich drückten die Schuhe danach nicht mehr. Ich hätte auch durchdrehen, es ignorieren und mir den Fuß kaputt machen oder für viel Geld neue Schuhe kaufen können. Aber ich wollte das Problem lösen und habe es geschafft.
Seither habe ich mehr Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten, Probleme zu lösen. Ich kann Herausforderungen, vor allem im Studium, meistern, ohne durchzudrehen. Gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht alles kontrollieren kann und auch nicht alles kontrollieren muss. Auf dem Jakobsweg habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gebetet. Ob es das Schicksal ist, ob es Gott ist oder was auch immer du glaubst, jemand hat einen Plan mit dir und alles hat einen Grund.
Ich bin in dieses Semester mit einer ganz neuen Motivation gestartet. Jetzt im März steht mein erstes Staatsexamen an, das Physikum. Dafür muss ich wahnsinnig viel auswendig lernen. Natürlich habe ich Angst davor. Aber ich kenne jetzt eine andere Art von Stress. Die Disziplin und die Herausforderung kann ich auf mein Studium übertragen. Ich weiß aber auch: Innehalten bringt mich nach vorn. Fünf Minuten meditieren oder eine halbe Stunde länger schlafen werfen mich nicht zurück. Ich habe eine bessere Balance gefunden.
"2019 kam ich vom Jakobsweg und ließ mich scheiden"
Martin Kühn
Martin Kühn, 34, Unternehmensberater: Im Jahr 2017 bin ich im Rahmen des Projekts von Andreas Braun zum ersten Mal den Jakobsweg gelaufen. Als ich mich auf den Weg machte, war ich seit sieben Jahren mit meiner damaligen Freundin zusammen. Sie wollte heiraten, ein Haus bauen und Kinder bekommen. Ich fühlte mich noch nicht bereit. Auf dem Jakobsweg habe ich darüber nachgedacht und mich mit meinen Mitpilgern über Liebe und Beziehung unterhalten. Als ich 2017 vom Jakobsweg zurückkam, machte ich meiner Freundin einen Heiratsantrag. Ich beendete mein Studium und nahm einen Bürojob in Berlin an, wo ich auch wohnte. Meine Frau blieb in Potsdam.
Das gab mir Zeit zum Nachdenken und mir wurde klar, dass mein Leben mit meinem derzeitigen Job und meiner Beziehungssituation nicht glücklich war. Ich spielte mit dem Gedanken, nach Hamburg zu ziehen und einen Job in der Unternehmensberatung anzunehmen. Das hatte ich mir bis dahin nicht zugetraut. Während der Pilgerreise sprach ich mit vielen Menschen darüber und wurde mir immer sicherer. Zurück in Deutschland fragte ich meine Frau, ob sie mit mir nach Hamburg ziehen würde. Für sie kam das nicht infrage. 2017 kam ich vom Jakobsweg zurück und heiratete, 2019 kam ich vom Jakobsweg und ließ mich scheiden.
In Hamburg traf ich eine Mitpilgerin von 2019 wieder und wir wurden ein Paar. 2022 lief ich dann den gesamten Jakobsweg noch mal allein – 800 Kilometer von den Pyrenäen bis Santiago. Während des Weges stellte ich fest, dass ich mir mit meiner aktuellen Partnerin nicht vorstellen konnte, eine Familie zu gründen. Ich begann wieder, über eine Trennung nachzudenken.
Konkret wurde der Plan erst im Frühjahr 2023, als ich erneut mit der Gruppe von Andreas Braun pilgerte. Auf der letzten Etappe bekam ich eine Herzmuskelentzündung. Das war das erste Mal, dass ich mit Tränen in den Augen vor der Kathedrale in Santiago stand. Es war das erste Mal, dass ich den Weg nicht nur mit Freude, sondern auch mit Leid beendet hatte. Als ich nach Hause kam, stand meine Freundin mir nicht wohlwollend bei, sondern machte mir Vorwürfe. Das war ausschlaggebend für die endgültige Trennung. Ich beschloss, in meine alte Heimat, nach Potsdam zurückzukehren.
Ohne den Jakobsweg hätte ich diese Entscheidung wahrscheinlich viel später und unter größerem Leidensdruck getroffen. Der Gedanke kam mir immer in den ersten zwei, drei Tagen auf dem Weg, wenn ich ein Stück allein unterwegs war. Ich hatte immer eine Handvoll Themen dabei, über die ich nachdenken wollte. Aber am Ende waren es ganz andere Themen, die hochkamen.
Wenn ich zu Hause bin und spazieren gehe, merke ich oft nicht, was mich wirklich beschäftigt. Es fehlt der Abstand zum Alltag. Wenn mir beim Pilgern der Gedanke kommt, was ich in meinem Leben ändern möchte, tausche ich mich mit Mitpilgern darüber aus. Oft bestärkt mich das in meiner Entscheidung.
Damit möglichst viele Studierende die Chance haben, an so einer lebensverändernden Reise teilzunehmen, engagiere ich mich als Vorsitzender des Vereins Camino Connect, dem auch Andreas Braun angehört. Wir sammeln Spenden und planen Fundraising-Aktionen, um die Kosten für die Teilnehmenden so niedrig wie möglich zu halten.
Meine jetzige Frau und ich können gut zusammen pilgern, vom Tempo her, vom Gesprächsbedarf und von der Pausengestaltung. Auch sie habe ich bei der Reise 2019 kennengelernt. Im Sommer 2024 kam unser Sohn zur Welt. Im September sind wir mit ihm wieder einen Teil des Jakobsweges mit der Gruppe von Andreas Braun gelaufen. Wir wollen auch in Zukunft gemeinsam unterwegs sein.
"Der Jakobsweg hat frühere Wunden geheilt"
Nina Medea Peters
Nina Medea Peters, 26, Psychologiestudentin: Im Gegensatz zu meinen Mitpilger*innen bin ich den Weg in meiner Privatkleidung gegangen, mit Nike-Schuhen und einem Eastpak-Rucksack. Am Anfang wurde ich dafür belächelt, ich glaube, die anderen dachten: "Was macht die hier für eine Modenschau, warum kann sie nicht normale Wanderkleidung anziehen? Wenn ich ehrlich zu mir bin, habe ich das nicht aus irgendwelchen Style- oder Individualismusgründen gemacht, sondern weil ich mich in meiner gewohnten Kleidung sowieso am wohlsten fühle.
Ein Freund, der selbst schon auf dem Jakobsweg gewesen war, sagte: "Nina, du musst dir jetzt vernünftige Schuhe kaufen, ich will nicht, dass du in deinen Nikes läufst, da bekommst du Blasen." Aber ich wollte mich auf mein Bauchgefühl verlassen. Am Ende war es für mich paradox, lustig und schön zugleich, dass fast alle meine Mitstreiter*innen Blasen hatten und es meinen Füßen gutging. Daraus habe ich gelernt: Ich kann mir treu bleiben, meine eigenen Entscheidungen treffen und darauf vertrauen.
Das war generell eine der tiefsten Erkenntnisse für mich auf dem Jakobsweg: Jeder geht seinen Weg in seinem eigenen Tempo mit seinen eigenen Entscheidungen. Dazu gehört auch die Entscheidung, mit wem man den Jakobs- und den Lebensweg gehen möchte.
Beim Pilgern habe ich gemerkt, dass die sozialen Bindungen, die ich aus freien Stücken eingehe, mir mental und körperlich Kraft geben. Ich habe mit anderen Pilgern über Themen wie Vergebung und Vertrauen gesprochen. Die Erfahrungen der anderen haben mich sehr berührt. Auf dem Jakobsweg habe ich eine Gruppendynamik erlebt, die ich so bisher noch nicht erlebt hatte. Das hat frühere Wunden geheilt.
Entgegengesetzt meiner Erwartung ist die körperliche Anstrengung sehr in den Hintergrund gerückt und die Begegnungen haben mich über den Weg getragen. Es sind tiefe Beziehungen entstanden. Wir hatten ein gemeinsames Ziel und wir hatten Zeit. Im Alltag verlieren wir uns manchmal in den paradoxen Gedanken, keine Zeit zu haben – dabei haben wir genauso viel davon wie auf dem Wanderweg, dessen muss man sich nur bewusst werden. Der Weg ermöglicht einen besonderen Austausch mit sich selbst und mit anderen, das versuche ich, in meinen Alltag zu implementieren.