Paare mit Behinderung stehen oft vor vielfältigen Herausforderungen
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Menschen mit Lernschwierigkeiten
Sexualität und Behinderung? Ganz normal!
Für Menschen mit geistiger Behinderung ist es oft schwierig, Beziehungen zu leben. Sexualpädagogin Lotta Brodt fordert mehr Freiheiten und mehr sexuelle Bildung
Privat
25.04.2025
5Min

chrismon: Welchen Vorurteilen begegnen Sie in Ihrer Arbeit beim Thema Liebe und Behinderung?

Lotta Brodt: Es gibt das Vorurteil, dass Menschen mit geistiger Behinderung, wir sagen mit Lernschwierigkeiten, viel offener über das Thema Sexualität sprechen, viel direkter sind. Das kann ich nur teilweise bestätigen. Es gibt aber auch genug, für die das Thema schambehaftet ist.

Außerdem habe ich oft mit zwei sehr gegensätzlichen Mythen zu tun. Der eine ist, dass sie gänzlich triebgesteuert seien und ihre Sexualität nicht kontrollieren könnten. Auf der anderen Seite wird ihnen Sexualität ganz abgesprochen und sie werden als "ewige Kinder" ohne Sexualität gesehen. Beides ist falsch. Die Sexualität von Menschen mit Lernschwierigkeiten ist genauso vielfältig wie die Menschen selbst. Die Mythen sind oft ein Zeichen mangelnder Aufklärung.

Lotta BrodtAnke Kristina Schäfer

Lotta Brodt

Lotta Brodt arbeitet als Sozial- und Sexualpädagogin in der Beratungsstelle "Liebelle" in Mainz. Dort berät sie Menschen mit Lernschwierigkeiten und deren Familienangehörige rund um das Thema Sexualität. Zudem gibt sie Workshops für Fachpersonal in Wohngruppen und Werkstätten.

Sie stellen oftmals sehr früh Fragen wie "Willst du meine Freundin sein?" oder "Willst du mich heiraten?". Woran liegt das?

Man lernt zu einem großen Teil aus Erfahrung. Beziehungen eingehen, Liebeskummer, flirten und rumknutschen lernen wir als Jugendliche mit unseren Freunden – ohne dass Eltern dabei sind, ohne dass wir beobachtet werden.

Diese Erfahrungen fehlen Menschen mit Lernschwierigkeiten häufig. Sie gehen auf die Förderschule, dann arbeiten sie in einer Werkstatt und leben in Wohnheimen und größeren Wohngruppen. Sie treffen sich selten ohne Unterstützungspersonen mit ihren Freundinnen und Freunden. Daher mangelt es oft an der Privatsphäre, um solche Lernerfahrungen zu machen.

Und wenn sie dann über ihren Körper und ihre Sexualität aufgeklärt werden und lernen, dass man zum Beispiel erst fragen muss, bevor man jemanden anfasst, dann werden auch solche Fragen wie zum Heiraten schnell gestellt. Weil das gesellschaftlich als das große Ziel suggeriert wird. Es ist ein Versuch, Diskriminierung zu überwinden und als normal angesehen zu werden.

Einige Ihrer Klientinnen und Klienten wünschen sich, jemanden zu heiraten, der keine Lernschwierigkeiten hat. Hängt das auch damit zusammen?

Ja, sie nehmen wahr, dass sie in der Gesellschaft nicht als vollwertig gelten und haben diese Diskriminierung verinnerlicht. Dann kann es ein großes Ziel sein, über eine nicht beeinträchtigte Partnerin oder einen Partner ernstgenommen und gesellschaftlich anerkannt zu werden.

Wie gehen Sie mit solchen Wünschen in der Beratung um?

Ich persönlich habe diese Frage noch nicht so oft erlebt. Das liegt daran, dass ich in den vergangenen zehn Jahren hauptsächlich Frauen beraten habe. Bei Männern ist das häufiger ein Thema. Sie tun sich schwerer, Partnerschaften zu finden. Ich versuche, sie ernst zu nehmen und gleichzeitig zu erklären, dass der Wunsch nach einer nicht beeinträchtigten Partnerin wenig realistisch ist. Gemeinsam entwerfen wir dann ein realistischeres Bild von einer Partnerschaft. Dies kann Enttäuschungen vorbeugen.

Über welche Themen sprechen Sie noch?

Das ist sehr vielfältig. Ich beantworte Fragen, wie der Körper funktioniert, kläre über Sexualität auf und spreche über Verhütungsmittel. Und es geht auch darum, wie man körperliche Sexualität erleben kann, wenn man keine Partnerin hat. Konflikte in Beziehungen besprechen wir ebenfalls. Zum Beispiel wie man sich von seinem Partner auch mal abgrenzen kann, wenn der mehr will als man selbst.

Warum sind Grenzen so ein wichtiges Thema?

Meine Klientinnen und Klienten erleben teilweise täglich, dass zum Beispiel durch Pflege in ihren Intimbereich eingegriffen wird. Oder ihr Nein nicht akzeptiert wird. Da fällt es dann schwer, eigene Körpergrenzen und die Grenzen anderer wahrzunehmen.

"Viele lernen nicht, ihre eigene Meinung auszudrücken oder mal unbequem zu sein"

Lotta Brodt

Sie leben dazu immer noch sehr fremdbestimmt. In Wohneinrichtungen entscheiden in der Regel Andere, wann man zu Abend isst und teilweise auch wann es ins Bett geht. Sie sind es also gewohnt, dass jemand angeblich besser weiß, was gut für sie ist. Viele lernen deshalb nicht, ihre eigene Meinung auszudrücken oder mal unbequem zu sein. Sie sind sehr angepasst, eben weil sie auf Unterstützung angewiesen sind und sich diese nicht verderben wollen.

Studien zeigen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten bis zu zwei bis drei Mal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen sind als andere. Gründe dafür sind eben diese Machtgefälle, aber auch mangelnde Sexualaufklärung. So werden die Menschen zu leichten Opfern.

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Viele Menschen mit Lernschwierigkeiten können Partnerschaft und Sexualität nur am Arbeitsplatz ausleben. Warum?

Da viele auf Unterstützung angewiesen sind, können sie kaum Kontakte außerhalb der Wohngruppe pflegen. Sie können nicht einfach allein die Partnerin oder den Partner an einem anderen Ort besuchen. Und sie können auch nicht begleitet werden, weil es häufig an Personal mangelt. Dementsprechend lernen sie ihre Partnerin oder ihren Partner am Arbeitsplatz kennen. Das ist dann der einzige Ort, an dem die Beziehung gepflegt wird. In den Pausen, aber auch während der Arbeitszeit. Das sorgt für Schwierigkeiten. Die Sozialarbeiter müssen sich dann fragen: Wie gehen wir damit um? Wie viel dürfen wir zulassen?

In der Freizeit unterbinden oft auch die Eltern Beziehungen. Nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie ihre Kinder schützen wollen. Aber diese haben das Recht darauf, schlechte Erfahrungen zu machen und Liebeskummer zu erleben. Man kann jemanden nicht immer vor allem schützen.

Wir haben jetzt sehr viel über Schwierigkeiten gesprochen. Gibt es auch etwas Positives?

Sexualität, Liebe und Partnerschaft sind etwas Schönes. Wir haben nur oft die Problembrille auf, weil wir darauf schauen, was den Alltag und die Abläufe stört. Aber eine gelungene, schöne Partnerschaft steigert den Selbstwert. Viele sind dadurch motivierter, besser gelaunt, haben Lust, neue Dinge zu lernen, um auch die Partnerschaft voranzubringen. Also das Thema Liebe ist ein ganz großer Motor. Das wird nur oft vergessen.

Was müsste sich gesellschaftlich verbessern?

Menschen mit Lernschwierigkeiten wird oft die Sexualität abgesprochen oder diese sehr problembehaftet betrachtet. Und sie erfahren sehr viel weniger sexuelle Bildung als andere. Das Thema kommt in den Familien und Schulen häufig zu kurz.

Wir sehen auch, dass sexuelle Selbstbestimmung in den Werkstätten und Wohngruppen oft schwer zu begleiten ist. Da bräuchte es mehr Personal und weniger Vorbehalte und Angst, zum Beispiel die Aufsichtspflicht zu verletzen. Es geht darum, herauszufinden, wo der schmale Grat zwischen Schutz und Selbstbestimmung verläuft.

Vor ein paar Jahren wurde festgeschrieben, dass alle Einrichtungen ein Gewaltschutzkonzept brauchen. Das ist richtig und wichtig. Das reicht aber nicht. Es bräuchte auch überall ein Konzept der sexuellen Bildung, das sich damit befasst, wie Einrichtungen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung fördern können und den Mitarbeitenden Handlungssicherheit gibt.

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