- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Können wir uns nicht konzentrieren oder werden wir zu viel abgelenkt? Oder haben wir plötzlich alle gleich ADHS? In den 1980er Jahren sollten wir uns noch zu Tode amüsieren, lenken wir uns jetzt vom Leben ab?
Früher wurde ADHS nicht bei Erwachsenen diagnostiziert. Das hatte verschiedene Gründe. Vor allem müssen Erwachsene nicht mehr zur Schule gehen, einen Ort, der wie eine Aufgabe der maximalen Schwierigkeitsstufe für Menschen mit Konzentrationsstörungen konstruiert ist: große Gruppen, im Stundentakt wechselnde Räume, Personen, Themen.
Als Erwachsener konntest du dir einen Beruf suchen, der gut zu deinen Interessen passte und vielleicht auch zu deinem Bedürfnis, viel in Bewegung zu sein. Die Themen wechselten dann nicht mehr, und außerdem galt der Grundsatz: Nicht jeder muss zur Uni gehen. Heute sehen wir vieles anders und machen manches anders. Einerseits möchten viele Eltern, dass ihr Kind den höchstmöglichen Bildungsabschluss erreicht. Das ist vernünftig, weil es doch sehr dabei helfen kann, ein unabhängiges Leben zu führen.
Auch gibt es praktisch keine Berufe mehr ohne ständigen Bildungsbedarf. Reinigungskräfte in Krankenhäusern führen in der Regel ganze Broschüren mit, um zu wissen, welche Oberflächen wie gereinigt werden müssen. Förster, in meiner Vorstellung ein Mensch, der mit Hund und Büchse durch den Wald streift und dort für geordnete Verhältnisse sorgt, Förster ist heute ein Studienabschluss.
Aber auch wir in der Psychiatrie haben uns gefragt, wie denn die Gehirne der vielen Kinder, die Konzentrationsstörungen haben, an deren 18. Geburtstag plötzlich damit aufhören sollen. Und natürlich müssen wir auch über das Internet reden, genauer gesagt über das Web 2.0. Als das Fernsehen noch drei Kanäle und einen Sendeschluss hatte und wenig belesene Menschen nur ein Buch pro Monat lasen, gab es eindeutig mehr Langeweile und weniger Ablenkungen im Leben der Menschen. Heute registrieren immer mehr Erwachsene ihre Ablenkbarkeit.
Und viele bitten um Hilfe. Diese Anfragen treffen auf ein bereits völlig ausgelastetes System psychiatrischer und psychotherapeutischer Hilfe, es gibt praktisch niemanden in unseren Fächern, der aktiv Patientinnen sucht. So entsteht der – meiner Meinung nach nicht zutreffende – Eindruck, es gäbe eine Riesenwelle von Erwachsenen mit ADHS und den Verdacht, es handele sich dabei nur um eine Mode. Klar, die Medien spitzen zu und übertreiben, jedes Medium braucht ja selbst Aufmerksamkeit. Die nüchterne Betrachtung der Dinge ist meist – nun ja: nüchtern.
Ich befasse mich schon lange mit diesen Themen, und ich kann sagen: Die Diagnose ADHS ist nicht besonders schwer zu stellen. Viel komplizierter ist das, was danach kommen soll. Es gibt kein universales Heilmittel. Die viel diskutierten Medikamente helfen niemals allein. Abgesehen davon eignen sie sich keinesfalls für jeden, und viele Menschen wollen auch keine Medikamente einnehmen. Das kann ich verstehen, aber der Weg zum achtsamen Umgang mit der eigenen Aufmerksamkeit ist kompliziert, langwierig und auch von Rückschlägen geprägt.
Wer alkoholabhängig ist, kann aufhören zu trinken, aber wer ein Aufmerksamkeitsproblem hat, muss in der Regel weiterhin mit der das Problem zumindest verstärkenden Ursache Internet einen Umgang finden.
So ist es wie so häufig bei der Entwicklung von Wissen. Wir konnten eine Tür öffnen, haben dahinter aber nicht die pure Glückseligkeit entdeckt, sondern neue Herausforderungen.