Es war spät im fast menschenleeren Discounter. Ich hatte gerade Käse, Obst und Rotwein in den Einkaufswagen gepackt, als plötzlich eine schmale alte Frau vor mir stand, gepflegt und ziemlich gut angezogen. Sie schaute mich lächelnd an, streckte mir ihre leere Geldbörse entgegen. Sie fragte: "Haben Sie etwas für mich?" Verwundert, dass sie sich so etwas im Laden traute, griff ich zu meinem eigenen Portemonnaie, fand darin aber nur ein paar Centstücke und zwei 50-Euro-Scheine. Die Münzen legte ich in ihre Börse, die Scheine behielt ich. Kaum hatte sich die Frau wortlos umgedreht, schämte ich mich. Ich hatte ihr nicht geholfen. Besser wäre ich mit ihr durch den Laden gegangen und hätte ihre Einkäufe bezahlt.
Zwei Monate später tauchte spätabends im Hauptbahnhof eine junge Frau vor mir auf, vielleicht zwanzig Jahre alt. Ihre Hände, ihr Gesicht, ihre schwarzen Klamotten waren schmutzig. Sie wirkte wie ein Junkie. "Haben Sie etwas Geld, damit ich mir Essen kaufen kann?", fragte sie. Ich griff zur Geldbörse. Sie war voller Eurostücke. Ohne sie zu zählen, kippte ich ihr alle Münzen in die Hände. Sie strahlte. "Danke! Danke!", sagte sie. Ich lächelte sie an, glücklich darüber, ihr eine Freude gemacht zu haben. Sie verschwand und mir kamen Zweifel: Was bringt es, einem Junkie Geld zu geben? Das Geld wäre bei der alten Frau vielleicht in besseren Händen gewesen.
Wäre, hätte, sollte … Es ist leicht, sich das Thema Armut vom Hals zu halten. Wir sagen etwa: "Selber schuld!" Oder: "Ich spende schon genug an andere." Und: "Großzügige Hilfe fördert nur die Faulheit." Und zwei Klassiker in politischen Debatten: "Wer ernsthaft arbeiten will, der findet auch Arbeit." Oder: "Es gibt schon genug staatliche und kirchliche Hilfe!"
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