Herbst 2023: "Das Bahnhofsviertel ist zunächst einmal eins: Das Tor zu Frankfurt, für all jene, die mit dem Zug ankommen", fasst mein Wohnungsvermieter auf seiner Homepage die Gegend nüchtern zusammen. Bereits zwei Tage später stelle ich fest: Es stimmt. Viele Menschen laufen hier täglich durch das Tor – aber manche von ihnen bleiben stehen, verlieren sich, rauchen Crack, verkaufen hier Drogen oder ihren Körper.
Ich bin in den 1990er Jahren in Hamburg-St.-Georg aufgewachsen. Ich kenne die benutzten Heroinspritzen am Wegesrand oder auf dem Spielplatz. Später habe ich direkt am Kottbusser Tor in Berlin gewohnt, in der Schönleinstraße, wo Junkies regelmäßig das Treppenhaus vollkotzten und auf meinen Dachboden einbrachen, um dort ihre Crackpfeife zu rauchen. Ich kann Elend aushalten, für mich muss es nicht "weg". Doch was ich im Bahnhofsviertel in Frankfurt am Main erlebe, ist extrem herausfordernd – für meine liberale Welteinstellung und dafür, mich vom Leid fremder Menschen abzugrenzen. Müssen wir das als Gesellschaft hinnehmen? Ist dieser Fleck Frankfurts vergessen, ein Zombieland? Oder sieht es schlimmer aus, als es ist?
Jeden Morgen um acht Uhr gehe ich aus dem Haus und betrete die Taunusstraße. Meistens sitzen vor meinem Eingang Menschen auf dem Boden. Zum Beispiel diese drei Männer, die ihre Crackpfeifen vorbereiten. Einer von ihnen hat seine Hose runtergezogen, vermutlich, um sich einen "Schuss" in den Oberschenkel zu setzen. Höflich bitte ich sie, Platz zu machen. Beißender Uringeruch begleitet mich die fünf Blocks zur U-Bahn. Ich komme durch eine Mülllandschaft aus benutzten Plastiktellern, Spritzen oder Jeanshosen mit braunen Flecken. In den Türaufgängen: Alufolie und benutzte Feuerzeuge. Manchmal auch Erbrochenes. Eine Frau kauert auf einer Haustreppe, das Gesicht in der Kapuze vergraben, ihre Augen aufgerissen. Insgesamt sollen es 5000 Drogenabhängige und 300 Dealer sein, derzeit gibt es 20 bis 30 Drogentote pro Jahr.
Lesen Sie hier: "Wenn Drogen nur scheiße wären, nähme sie ja keiner."
Vier Tage bis zur Landtagswahl in Hessen. Plötzlich sind der ganze Müll, die Junkies und sogar der Uringeruch verschwunden. Jeden Morgen stehen acht Fahrzeuge der Müllabfuhr und Straßenreinigung in meiner Straße, der Boden ist nass gespritzt und sauber. Aber wenn ich abends von der Arbeit komme, ist alles wieder da. So, als würde das Eigenleben des Bahnhofsviertels der Politik sagen wollen: Uns bekommt ihr hier nicht weggeschönt.
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Sehr geehrte Damen und…
Sehr geehrte Damen und Herren,
an sich mag ich ja Artikel, die Fragen stellen. Nur wäre es schön, wenn auch ein paar fundierte Antworten gegeben würden. Sonst werden die Fragen leicht tendenziös und bleiben Rhetorik - im Falle besagten Artikels klingt so eine Law and Order Rhetorik an, die ich Ihrem Magazin bisher nicht zugetraut hätte.
Besonders die folgenden Fragen sind mir in diesem Zusammenhang sauer aufgestoßen:
"Ist es ein Wert in unserer Gesellschaft, suchtkrank ¬herumliegen zu können, wo man will? Sind wir so frei als Gesellschaft, dass wir anderen beim Verelenden zu¬gucken müssen?"
- Die Autorin beantwortet diese Fragen nicht, suggeriert durch den Kontext aber ein klares Nein. Was die für sie denkbaren Alternativen sein könnten, lässt sie hingegen weitgehend offen oder wiederum nur in Frageform anklingen:
"Brauchen wir strengere Gesetze oder jedes Haus muskelbepackte Türsteher?" - in diesem Zusammenhang fungieren die Türsteher vor den Bordellen im Bahnhofsviertel also als eine mögliche bessere Lösung?
- Ja, sind Sie als evangelisches Magazin denn von allen guten Geistern verlassen? Fällt Ihnen nichts anderes ein, als strengere Gesetze und Türsteher? - Wissen Sie, über welche Stadt Sie da schreiben? Warum stellen Sie Ihren Artikel nicht in einen historischen Zusammenhang und erwähnen den "Frankfurter Weg" in der Drogenpolitik, die Schließung des Café Fix und dessen vorherige Unterfinanzierung? Warum klingen die prinzipiellen Möglichkeiten der Stadtreinigung - wie vor den Landtagswahlen - nur nebenbei an, statt zu recherchieren, inwiefern sie auf Dauer gestellt werden könnten?
Ja, man kann im Bahnhofsviertel der Stadt Frankfurt, in der ich selbst über zwanzig Jahre gelebt habe, vom Elend schockiert sein. Das war auch schon vor Jahrzehnten so, auch wenn es damals mehr um Heroin ging und die Junkies u.a. beim Umsteigen in der B-Ebene des Hauptbahnhofs anzutreffen waren.
Aber eine freie (Stadt)Gesellschaft, die nur hier - auf wenige Straßenzüge begrenzt - mit dem Drogenelend konfrontiert wird, während sie das zahlenmäßig noch viel größere Elend des Alkoholismus geflissentlich ignoriert, muss das aushalten. Hilfsangebote für die Betroffenen könnte es indessen tatsächlich mehr geben, nicht nur kirchlich, sondern gerade auch städtisch finanziert.
Aber strengere Gesetze? Für wen? Für diejenigen, die suchtkrank sind? - Ist das christlich, die Elenden zu sanktionieren? Ja, in einer nicht-autoritären Gesellschaft hat jede:r das Recht, sich zugrunde zu richten. Und die Gesellschaft muss bis zu einem gewissen Grad dabei zusehen. Eine autoritäre Alternative wäre die Rückkehr zu Arbeitshäusern, die es auch noch in der jungen Bundesrepublik gab und die erst in den 60er Jahren gänzlich abgeschafft wurden. Meinen Sie so etwas in der Richtung mit strengeren Gesetzen?
Ob sich niemand an dem menschlichen Elend stört, fragt ihre Autorin weiter. Das ist doch nicht der Punkt. Oder sollen jetzt Bürgerinnen und Bürger irgendetwas selbst in die Hand nehmen - so als eine Art Bürgerwehr vor die Cracksüchtigen hintreten und sie auffordern zu gehen, weil man sich an ihnen stört?
Ich fasse es nicht. Passen Sie bitte auf, dass Sie nicht abdriften.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Britta Schmitt-Howe,
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