chrismon: Herr Sommer, in der Selbständig Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) können nur Männer Pfarrer werden. Warum?
Michael Sommer: Die SELK ist sehr bibelverbunden. Für eine kleine Gruppe von Geistlichen folgt daraus als Identitätsmerkmal ihrer Kirche, dass Frauen nicht ordiniert werden dürfen. Sie berufen sich auf eine sogenannte "Schöpfungsordnung", wonach der Mann der Frau übergeordnet ist, und Bibelstellen wie 1. Korinther 14 und 1. Timotheus 2, in denen es heißt, dass die Frau im Gottesdienst schweigen soll.
Michael Sommer
Diese Bibelstellen sind ja nicht wörtlich zu verstehen.
Dem Apostel Paulus war es wichtig, dass sich die Gemeindemitglieder unauffällig verhalten und sich ihrer gesellschaftlichen Umgebung anpassen – damals dem Patriarchat. Gleichzeitig gibt es in den gleichen Briefen Stellen, aus denen hervorgeht, dass Frauen im Gottesdienst eine aktive Rolle gespielt und Gottes Wort verkündigt haben. Und auch in heutigen Gottesdiensten in der SELK schweigen die Frauen ja nicht, sondern wir haben Lektorinnen, die das Evangelium lesen, und Pastoralreferentinnen, die predigen.
Mit der theologischen Auslegung hat sich die SELK sicher auseinandergesetzt?
Die Kirchenleitung der SELK hat schon in den 1990er Jahren bei ihrer eigenen theologischen Hochschule ein Gutachten dazu in Auftrag gegeben. Die Fakultät kam mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass es keine zwingenden theologischen Gründe gibt, die gegen eine Frauenordination sprechen. Das wissen wir von den beteiligten Theologen, denn die Kirchenleitung entschied anschließend, dieses Gutachten nicht zu veröffentlichen.
Wenn keine theologischen Gründe gegen eine Frauenordination sprechen, auf welche Argumente berufen sich die Gegner?
Einerseits verweisen die Gegner auf die Tradition, wobei sie die vielen Kirchen, in denen es die Frauenordination gibt, außer Acht lassen. Ein weiterer Punkt sind die internationalen Beziehungen zu anderen konservativen Kirchen, die die SELK pflegt, etwa zur Missouri-Synode in den USA und zum Internationalen Lutherischen Rat (ILC). Letzterer hat sich 2017 die Regel gegeben, dass dort nur Mitglied sein kann, wer keine Frauenordination einführt. Damit schüren die Gegner Ängste, etwa, dass mit einer Einführung die SELK ihre Abendmahlsgemeinschaft mit anderen Kirchen verliere und dass eine Kirchenspaltung drohe.
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Sie haben ein Youtube-Video veröffentlicht, in dem Sie die Geschichte der Diskussion um die Frauenordination in Ihrer Kirche erklären. Welche Reaktionen haben Sie auf das Video bekommen?
Ich habe viele positive Reaktionen von Gemeindemitgliedern der SELK und Pfarrern bekommen, die sich über das Video gefreut haben. Eine überschaubare Anzahl von Menschen hat aber auch negativ reagiert, die meisten davon waren Pfarrer aus der SELK. Auch unser Bischof Hans-Jörg Voigt gehörte dazu.
Ihr Bischof hat ein 20-seitiges Papier als Reaktion auf das Video verfasst und online veröffentlicht. Was stand in diesem Papier?
Er warf mir vor, dass viele Aussagen im Video falsch oder ungenau seien. Darauf habe ich mit einem weiteren Video und einer ausführlichen schriftlichen Dokumentation reagiert und konnte darin zeigen, dass seine Vorwürfe nicht zutreffend waren. Außerdem bemühe ich mich in meinen Videos, auch ernste Inhalte locker zu vermitteln, etwa durch den Einsatz von Playmobilfiguren. Diese Herangehensweise hat Bischof Voigt bei einem so wichtigen Thema wie der Frauenordination offenbar als provokant empfunden. Lockerheit hat aber nichts mit Korrektheit zu tun.
Das Papier des Bischofs steht inzwischen nicht mehr auf der Homepage der SELK, außerdem hat Bischof Voigt dafür plädiert, das Thema der Frauenordination nicht öffentlich zu diskutieren und wollte sich privat mit Ihnen treffen. Sind Sie darauf eingegangen?
Nein. Die Gegner der Frauenordination sind seit der Gründung der SELK 1972 sehr erfolgreich mit der Strategie, das Thema zu verdrängen, zu verzögern und auszusitzen. Da wir jedoch eine synodal verfasste Kirche sind, gehört dieses Thema selbstverständlich an die Öffentlichkeit. In den Gremien der SELK sind die Geistlichen überrepräsentiert und ihre Machtposition begünstigt die Verteidigung des Status quo. Aber unsere Kirche besteht nicht nur aus Pfarrern, sondern auch sie sind nur ein Teil der Kirche.
Die Kirchensynode der SELK befasst sich in der laufenden Sitzungsperiode erneut mit der Frauenordination, eine Synodalkommission hat die Gemeinden dazu befragt und einen Zwischenbericht vorgelegt. Was kam dort heraus?
Vor zwei Jahren hat der Allgemeine Pfarrkonvent der SELK den "Atlas Frauenordination" veröffentlicht. Dieses Papier ist ein Meilenstein, denn es hat eine neue Beschäftigung mit dem Thema angeregt und ermöglicht. Der Zwischenbericht spricht eine klare Sprache: In 61 von 96 Gemeinden haben sich Gemeindeversammlungen für eine Frauenordination ausgesprochen. Nur in fünf Voten wurde die Frauenordination eindeutig abgelehnt. Dieses Votum hat keine unmittelbaren Folgen, aber es ist ein dokumentierter Fakt und erhöht den Druck, endlich gemeinsam und konstruktiv an einer Veränderung zu arbeiten.
Sie setzen sich sehr leidenschaftlich für die Frauenordination ein. Warum?
Seit Jahrzehnten drängen Gegner der Frauenordination Menschen, die für die Frauenordination sind, aus unserer Kirche. Auch mir wurde schon nahegelegt, auszutreten, sogar von unserem Bischof. Ich habe mich gefragt: Trete ich aus oder engagiere ich mich? Entschieden habe ich mich für Letzteres, denn die Ausgrenzung von Frauen ist mit meinem Verständnis des Evangeliums nicht vereinbar. Gegner der Frauenordination betonen zudem oft, dass Frauen im Pfarramt dem "Zeitgeist" geschuldet seien. Tatsächlich ist der momentane Zeitgeist aber ein konservativer Backlash in Politik und Gesellschaft, etwa in Europa oder den USA. Dagegen positioniere ich mich.
Was wünschen Sie sich für die SELK?
Ich wünsche mir eine lebendige Kirche und kämpfe dafür. Denn Traditionen und auch unsere Kirche sind irgendwann tot, wenn wir sie nicht zeitgemäß gestalten.