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Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem Ausbruch des Krieges hat die Gewalt gegen jüdische Menschen in Deutschland stark zugenommen. So muss man es wieder und wieder lesen. Noch einmal beschämter schaue ich auf die Sicherheitsapparaturen und -personen, wenn ich an jüdischen Einrichtungen und Gedenkorten vorbeigehe – was ich in Berlin häufig tue.
Mit Befremden lese ich Emails, in denen ich als Dozent der Humboldt Universität darüber unterrichtet werde, wie ich mich verhalten soll, wenn ich es mit antiisraelischen "Protesten" zu tun bekomme. Zum Glück ist es dazu in der theologischen Fakultät noch nicht gekommen. Aber eine Freundin, die in einem Institut für jüdische Geschichte arbeitet, erzählte mir, dass keine ihrer Veranstaltungen mehr ohne massive Störungen von statten geht. Kürzlich wurde auf einer von ihnen die Ehefrau eines Bekannten von einer propalästinensischen Aktivistin krankenhausreif geschlafen. Sie hatte die Störerin um Ruhe gebeten, um der Diskussion folgen zu können.
Bevor man sich jedoch zu laut über den neuerlichen Anstieg antisemitischer Gewalt beklagt, sollte man bedenken, dass das Phänomen keineswegs neu ist. Nun will ich den rechtsextremen Anteil an diesen Straftaten nicht kleinreden (er ist massiv), aber der propalästinensische Anteil ist zurzeit besonders sicht- und hörbar – und eben keineswegs neu. Daran erinnert jetzt ein sehr lesenswertes Heft des Bundesarchivs.
Pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr dokumentiert das Heft "‘Die Welt ist Augenzeuge‘. Die WM 1974 im Zeichen der deutschen Teilung" die zum Teil absurd anmutenden Hintergründe der Fußball-Weltmeisterschaft vor einem halben Jahrhundert (all diese Stasi-Papiere!). Damals stand die sportliche und politische Konkurrenz der beiden deutschen Staaten im Fokus. Ein wichtiger Nebenaspekt aber ist die terroristische Bedrohung durch deutsche und palästinensische Linksextremisten. Erst zwei Jahre zuvor war ja bei den Olympischen Spielen in München die israelische Mannschaft Opfer eines entsetzlichen Angriffs geworden. (Dass danach die Spiele ungerührt weitergingen, bleibt einer der Tiefpunkte der deutschen und olympischen Geschichte.)
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Geschichte wiederholt sich nicht. Doch angesichts heutiger Auseinandersetzungen ist ein Dokument besonders irritierend. Am 12. November 1973 ging ein anonymer Brief beim Bundeskanzleramt im Bonn ein. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, für die Tötung von fünf palästinensischen "Kämpfern", die im September 1972 die israelische Mannschaft überfallen hatten, ein "Sühnegeld" von 3,5 Millionen DM zu zahlen. Ansonsten werde man einen "totalen Krieg gegen alle Juden in der Bundesrepublik" beginnen "sowie gegen Personen, die in Unternehmen mit jüdischem Kapital tätig sind." Hierzu sollen "Explosionskörper und Briefe mit Bakterien" eingesetzt werden. In deutschen Städten, in denen es Synagogen gibt, werde man das Grundwasser vergiften. Wenn die Bundesrepublik irgendetwas gegen "Araber" unternähme, würde man die Staatsgäste bei der WM angreifen.
Wer dieses Drohschreiben aufgesetzt hat, ist unbekannt. Die Ermittler verstanden es als Indiz für eine ernstzunehme Bedrohung durch palästinensische Terroristen. Ähnliche Schreiben aus dem Umfeld der RAF kamen hinzu. Zum Glück wurden aus den Drohungen keine Taten. Ich frage mich, was im Zusammenhang mit der diesjährigen EM an terroristischen Bedrohungen von den zuständigen Behörden wahrgenommen und abgewehrt wurde und wird. Zum Glück ist bisher nichts geschehen (hoffentlich wird auch in Paris nichts geschehen). Verstörend aber fand ich an diesem Archivfund den enthemmten, genozidalen Vernichtungswunsch. Man kann manche Äußerung und Tat der Hamas in dieser Tradition sehen. Damit möchte ich nicht jede erregte-übererregte Protestaktion von propalästinensischen Aktivisten als Terrorismus kriminalisieren, nur auf den Erinnerungsraum hinweisen, in dem sie stattfinden.
Natürlich gäbe es zu diesem Thema noch vieles anderes zu bedenken, aber nicht mehr jetzt und hier. Wer mehr wissen möchte, dem empfehle ich die neue Folge meines Podcasts "Draußen mit Claussen". Darin gibt der Politologe Wolfgang Kraushaar wertvolle Hilfestellungen für die Frage, wie wir über den Israel-Palästina-Konflikt sinnvoll diskutieren können – jenseits der populären Kampfbegriffe.