Liebe Leserinnen und Leser,
meine Gutenachtgeschichte ist zurzeit das Hörbuch "Das Haus der Frauen" der jungen französischen Bestsellerautorin Laetitia Colombani, meisterinnenhaft gelesen von Andrea Sawatzki und Ruth Reinecke. Gestern hat mich eine Szene so gepackt, dass ich danach gar nicht einschlafen konnte. Die Ich-Erzählerin Solène sorgt sich in der Zuflucht, in der sie ehrenamtlich tätig ist, um eine obdachlose Frau. Die erklärt der vergleichsweise privilegierten Helferin, dass sie nachts durch die Parkhäuser läuft, um nur ja nicht einzuschlafen. Obdachlose Frauen sind nämlich Freiwild für Vergewaltiger. "Wenn du einschläfst", lernt Solène, "bist du tot."
Brigitte, 71, lebt seit 21 Jahren auf der Straße. Sie ist die Frau auf dem aktuellen chrismon-Titel, und in ihr Gesicht haben sich die Spuren von Kälte und Krankheit geschrieben. "Der Mensch muss Mensch bleiben. Doch wie soll das gehen?", sagt sie unserem Reporter Karl Grünberg, "Jeder hat die Schnauze voll, wenn man kein Zuhause hat." Schockiert hat mich in den Interviews, wie schnell man bei den gegenwärtigen Mietpreisen sein Zuhause verlieren kann.
Auch Lärry Be. lebte auf der Straße, sie ist heute 27 und war ein Straßenkind in Hamburg. Schon mit 15 lief sie von zu Hause weg, sie erlebte Gewalt und den Tod von nahen Freunden. Jetzt organisiert sie mit dem Verein "Momo" zusammen eine Straßenkinderkonferenz, konkrete Forderungen an die Politik: medizinische Versorgung, offene Jugendhotels, Notschlafstellen.
Ich finde, die Politik muss alles dafür tun, dass Menschen gar nicht erst obdachlos werden. Sie muss viel mehr Wohnraum schaffen für Menschen, die auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance haben. Wer obdachlos geworden ist, muss viel besser versorgt werden. Und wir alle können etwas tun. Zumindest spenden – und wir tun das auch, sagt der Verhaltensökonom Armin Falk. Vor allem wenn andere zugucken. Nicht wirklich sympathisch, aber den armen Menschen ist es vermutlich wurscht, warum jemand Münzen in den Hut einwirft. Hauptsache, sie sind nicht rot, sondern silbern, vom Euro aufwärts.
Man kann Geld geben, aber man kann auch Zeit investieren: Klaus Hofmeister aus Frankfurt geht zum Beispiel wandern mit obdachlosen Menschen. Er sagt, es macht Freude und manchmal beflügelt es richtig – zum Beispiel wenn nach einer Klettertour ein Mann auf die Idee kommt, Industriekletterer zu werden. Was für ein cleveres Ehrenamt!
Wenn Sie in diesen kalten Tagen an Menschen vorbeikommen, die in ihrem Schlafsack eingegraben einen Hut vor sich haben, geben Sie reichlich. Wenn Sie sich ernsthaft Sorgen machen, rufen Sie den Kältebus oder die 112. Und vor allem: Schauen Sie den obdachlosen Menschen in die Augen. Hat mit Würde zu tun und mit Respekt.
Ich wünsche Ihnen eine großzügige Woche!
Ihre
Ursula Ott
Chefredakteurin