Das Handy vibriert. Auf dem Sperrbildschirm poppen verschiedene Nachrichten-Apps auf. Eilmeldungen. Hoffentlich nix mit Atombomben, denke ich und wische hektisch über das Smartphone. Im Hintergrund piept die fertige Waschmaschine. Die Deadline für den nächsten Text rückt näher. Auf dem Nachttisch stapeln sich ungelesene Bücher und die Fenster müssten dringend geputzt werden.
Wenn mir alles zu viel wird und ich im Hamsterrad aus Arbeit, Haushalt, Social Media und Weltuntergangsnachrichten festzustecken scheine, setze ich mich an den PC und steure das kleine V-Symbol auf dem Desktop an. Kurz danach stehe ich als bärtiger Wikinger in einem Wald am Lagerfeuer. "Valheim" heißt das Spiel, das in meinem Kopf klick macht und meine Gedanken auf Reise schickt.
Sanfte Sonnenstrahlen fallen durchs Geäst der Nadelwälder, Morgennebel liegt über den Wiesen. Rehe grasen am Horizont. In Gestalt meines Wikingers pflücke ich Blaubeeren, fälle Bäume und bringe das Holz ins Lager, um die Feuer in Gang zu halten. Dann flicke ich in der Schmiede meine Rüstung und bereite Pasteten für die nächste Expedition in den Norden zu. Im Hintergrund dudelt dezente Flötenmusik. Ich bin entspannt.
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So wie mir geht es Millionen Menschen. Etwa 59 Prozent der Deutschen im Alter von sechs bis 69 Jahren spielen regelmäßig Videogames auf dem Smartphone, der Konsole oder auf dem PC. Das hat der deutsche Branchenverband Game auf der Basis von Daten des Marktforschungsunternehmens GfK herausgefunden. 2021 hat die deutsche Videospielbranche rund 9,8 Milliarden Euro umgesetzt, 17 Prozent mehr als im Vorjahr.
Das Klischee vom pickligen Nerd im muffigen Keller ist längst überholt. Mittlerweile sind fast die Hälfte aller Spielenden Frauen und das Durchschnittsalter ist auf fast 38 Jahre gestiegen – weil auch mehr ältere Menschen in ihrer Freizeit spielen und die Gamer der ersten Generation nicht mehr die Jüngsten sind. 34 Prozent glauben sogar, dass sich Gaming positiv auf die mentale Gesundheit auswirkt, wie aus einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Auftrag des Branchenverbandes Game hervorgeht.
Während der Pandemie haben viele das Videospielen für sich entdeckt. Auch, weil eine Art von Spielen beliebter wird, die nicht auf Schlachten und Verfolgungsjagden baut: die Wholesome Games, Wohlfühlspiele. Manchmal werden sie auch Cozy Games, gemütliche Spiele, genannt. Eine feste Definition gibt es nicht, in der Regel handelt es sich um Simulationen, Jump’n’Run- oder Rätselspiele, die ein idyllisches Setting haben, auf bunte Grafik und einen konstruktiven Spielverlauf setzen. Social-Media-Accounts, die Wholesome Games vorstellen, haben Zehntausende Follower.
"Spiele haben es in der Pandemie erlaubt, zusammenzukommen"
Entwickler bringen immer neue Spiele auf den Markt, die sich an diesem Stil orientieren. "Wholesome Games sind gekommen, um zu bleiben. Zur großen Vielfalt von Spielerinnen und Spielern gehören eben auch viele, die ganz gezielt nach Entschleunigung und Entspannung Ausschau halten", sagt Felix Falk, Geschäftsführer des Branchenverbandes Game. "Allein, um mal vom Alltagsstress abzuschalten. Und der wird mit Blick auf die vielen Krisen in der Welt sicherlich nicht abnehmen."
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In der Pandemie haben sich Spiele wie "Stardew Valley" und "Animal Crossing: New Horizons" millionenfach verkauft. Die sind weder besonders innovativ noch übermäßig spannend oder komplex. Und gerade darin scheint ihr Reiz zu liegen. In "Stardew Valley" bin ich die meiste Zeit damit beschäftigt, in Retro-2-D-Grafik eine Farm aufzubauen: Gestrüpp mähen, Saatgut ausbringen, gießen, Blumenkohl und Salat ernten. Ich kann mit den anderen virtuellen Bewohnern des Dorfes tratschen und sogar heiraten. In "Animal Crossing" geht es vor allem darum, eine eigene niedliche Insel zu gestalten und andere Inseln zu besuchen.
"Spiele wie ‚Animal Crossing‘ zeigen nicht nur eine heile Welt, sondern geben uns auch ein Gefühl von Kontrolle zurück. Gerade in der Zeit großer Einschränkungen hat vielen so ein Gefühl gefehlt", sagt Benjamin Strobel. Strobel ist Psychologe und einer der Moderatoren des Podcasts "Behind the Screens", der Videospiele aus der Perspektive der Psychologie betrachtet.
"Die Beschränkungen während der Pandemie waren für viele Menschen eine psychische Belastung. Wir mussten uns isolieren und konnten wenig tun, um an der Situation etwas zu ändern. Spiele haben es erlaubt, zusammenzukommen, auch wenn man sich physisch nicht treffen konnte." In vielen Wholesome Games muss man nicht schnell reagieren oder taktisch handeln. Die Spieler können sich nebenbei entspannt über Voicechats wie Discord unterhalten.
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Genau so ging es mir während des ersten Lockdowns. Fast täglich traf ich mich mit Freunden auf einem Discord-Kanal. Wir sprachen über die neuesten Corona-Beschränkungen und spielten – mal zu acht, mal zu zweit. Manche Games sind Wettkampf, andere laden zur Kooperation ein. In unserer "Valheim"-Gruppe waren einige mit Jagen und Angeln beschäftigt, ein anderer erkundete die Wälder, wieder andere bauten Lager. "Valheim" zählt nicht strikt zu den Wholesome Games, weil es kriegerische Elemente enthält, aber man kann viel Zeit mit "Alltagstätigkeiten" verbringen.
Für mich übt das Bauen den größten Reiz aus: Ich kann vorgegebene Elemente wie hölzerne Bodenplatten, Steinblöcke und Balken beliebig kombinieren und Gebäude auf Lichtungen, Berggipfeln, an Flussmündungen errichten. So entstehen trutzige Burgen, gemütliche Verschläge, sogar Kathedralen. Spieltechnisch bringt mich das kaum weiter, ich mache es aus reiner Freude am Konstruieren.
"Das sind permanente Auswirkungen auf diese Welt. Man hinterlässt einen Fußabdruck", erklärt Strobel den befriedigenden Effekt, den manche Spiele auslösen. Auf dem Community-Netzwerk Reddit gibt es eine lebhafte "Valheim"-Fangemeinde, die jeden Tag ihre schicksten Schlösser und imposantesten Häfen hochlädt; viele Spielende stecken Hunderte Stunden in ihre Gebäude. Danach fühlt sich die Anerkennung von gleichgesinnten Häuslebauer-Wikingern durchaus "wholesome" an.
"Digitale Spiele sind viel immersiver als andere Medien, weil wir selbst zu Handelnden werden"
Dass Gaming zu Entspannung oder weniger Stress führt, liegt Strobel zufolge daran, dass man sich gefahrlos ausprobieren kann: "Ich kann ein Feuerwehrmann oder eine Polizistin sein oder einen landwirtschaftlichen Betrieb führen – wenn dort etwas schiefgeht, ist das überhaupt nicht schlimm. In den meisten Fällen habe ich positive Erlebnisse. Man kann auch alles über einen Haufen werfen, was im echten Leben mit Schule und Arbeit nicht immer geht. Aber im Spiel darf ich das!"
Mir selbst fällt auf, dass ich viele Tätigkeiten im Spiel schätze, die ich auch in der Wirklichkeit gern ausübe. Ich wandere – im Spiel erkunde ich unbekannte Flecken. Als Kind habe ich mit Lego gespielt, heute fehlen mir im Alltag handwerkliche Tätigkeiten – also baue ich Wikingerhäuser. Wenn die Tage kürzer und kälter werden, ist es manchmal leichter, mich nach der Arbeit mit einer Tasse Tee vor den PC zu setzen und virtuelle Rüben zu züchten, als mich noch einmal aufzuraffen, um im Nieselregen zu unserem Schrebergarten zu radeln.
Ich lese auch gern, aber spätestens nach 15 Minuten unterbreche ich, um das Smartphone zu checken. Vielleicht eine Krankheit meiner Generation.
Beim Gaming bin ich vollkommen konzentriert, alles um mich herum ist vergessen. "Digitale Spiele sind viel immersiver als andere Medien, weil wir selbst zu Handelnden werden. Wir können nicht nur den Verlauf der Handlung bestimmen, sondern wir spüren die Auswirkungen unseres Handelns im Spiel auf uns", erklärt Strobel. "Immersiv" kommt von Immersion – Eintreten, Eintauchen. Und bedeutet, dass ein Mediennutzer die virtuelle Umgebung als real empfindet.
Das kann auch negative Folgen haben. In einer Studie der Universität Oxford hatte längeres Spielen zwar sogar leicht positive Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Spielenden – das ist allerdings keine Entwarnung für Eltern, deren Kinder immer häufiger und länger hinter dem Bildschirm verschwinden. Denn wenn die Bedürfnisbefriedigung durch das Spielen einen zu großen Platz im Leben einnimmt, kann das zum Problem werden.
15,4 Prozent der Jugendlichen in Deutschland gelten als suchtgefährdet
Computerspielsucht wird seit 2018 von der Weltgesundheitsorganisation als psychische Krankheit anerkannt. Nach einer Studie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf von 2019 waren 15,4 Prozent der Jugendlichen in Deutschland suchtgefährdet. 3,3 Prozent erfüllten die Voraussetzungen einer Abhängigkeit – mit Entzugserscheinungen und Kontrollverlusten.
"Wenn ich mich mit Freunden zum ‚Minecraft‘-Spielen treffe und ein positives Erlebnis habe, kann mir das helfen, mit Stress im Alltag umzugehen. Ich kann mich austauschen und spüre Selbstwirksamkeit, die Stress reduzieren kann", sagt Strobel. "Das kann aber auch umschlagen, wenn einzig und allein Spiele genutzt werden, um mit den eigenen Gefühlen umzugehen, und es keinerlei andere Strategien gibt." Vor allem Wholesome Games bieten Aufgaben, die man bewältigen kann – und das Spiel lobt den Spieler dafür.
In "Stardew Valley" zum Beispiel erhält man für gesammelte Gegenstände oder angebautes Gemüse Geld, das man in neues Saatgut, Werkzeuge oder Dekor für die Farm stecken kann. In "Valheim" bringen höherwertige Speisen mehr Energie- und Lebenspunkte. Solche Belohnungssysteme gibt es in fast jedem Spiel. "Wenn ich im Spiel erfolgreich bin, das aber nicht mehr auf der Arbeit, in der Schule oder im Sportverein erlebe, ist das ein Risikofaktor für eine Computerspiel-Abhängigkeit", warnt Strobel.
"In einer Therapie kann man das Interesse eines Patienten an Spielen aufgreifen"
Interessanterweise kann genau dieser Mechanismus umgekehrt helfen, Krisen zu bewältigen. "Kommerzielle Spiele sind nicht aus sich selbst heraus therapeutisch, können aber ein Hilfsmittel sein. Wichtig ist, dass sie immer in therapeutische Maßnahmen eingebettet sein sollten", sagt Strobel. Das kann etwa sinnvoll sein, wenn Games für Betroffene sowieso ein Thema sind. "Dann kann man das Interesse eines Patienten an Spielen aufgreifen und in der Therapie nutzen", führt er aus. "In einer Situation, in der jemand das Gefühl hat, er schafft nichts, kann man sagen: Aber hier im Spiel hast du etwas erreicht! Du bist jemand, der etwas schaffen kann. Man kann versuchen, das zu übertragen: Ja, stimmt, ich habe hier etwas geschafft, vielleicht kann ich das in einem anderen Lebensbereich auch."
Videospiele können also auf die Gefühle eines Menschen einwirken. Doch auch die Psyche selbst wird in Spielen immer häufiger als Thema aufgegriffen. In "Farewell North" zum Beispiel. Das Spiel erscheint voraussichtlich im dritten Quartal 2023, ist aber schon als Vorabversion spielbar. Hier steuere ich einen Hund, dessen Besitzerin mit Schwermut und Trauer zu kämpfen hat. Ihre Welt ist trist und grau. Wenn ich den Hund bellen lasse, blitzt Helligkeit auf. Ich befreie Vögel, sammle Blumen und Lichter, um Farbe in die Welt meiner Besitzerin zu bringen. Manchmal scheitert sie daran, über eine Brücke zu gehen, die aus ihrer Sicht zersplittert ist. Wenn ich es schaffe, die Brücke aus einer anderen Perspektive zu betrachten, wird sie passierbar.
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Der Programmierer von "Farewell North", Kyle Banks, hat versucht, Erfahrungen mit düsteren Gedanken umzusetzen. Banks betont, dass er kein Psychologe ist und sich das Spiel nicht für therapeutische Zwecke eignet oder eine psychische Erkrankung klinisch-akkurat abbildet, aber es geht ihm um den Umgang mit negativen Emotionen. Trotzdem bezeichnet Banks sein Spiel als Wholesome Game: "Ich würde sagen, dass das nicht nur bunte, knuddelige Spiele sein müssen, sondern Spiele, die erbaulich sind, auch wenn sie sich mit schweren Themen befassen. Ein Spiel kann düstere Elemente haben und trotzdem heilsam sein." Das Ende des Spiels soll zugleich ehrlich und hoffnungsvoll sein. "Es geht mehr um die Akzeptanz als um Überwindung von negativen Gefühlen."
Ich muss umdenken, um weiterzukommen
Auf der Veranschaulichung negativer Emotionen beruht auch das 2-D-Puzzle-Adventure "Duru", das ebenfalls in einer Vorabversion verfügbar ist. Die drei deutschen Entwicklerinnen nennen es "Ein Spiel über Graumulle und Depressionen". In "Duru" steuere ich einen solchen afrikanischen Graumull – die gibt es wirklich –, der in einem Bau mit vielen anderen Graumullen lebt. Was als klassisches Abenteuer beginnt, bekommt eine düstere Note, als mir plötzlich ein dunkles Wesen folgt. Wie ein Schatten läuft es meiner Figur hinterher und behindert das Fortkommen auf jede erdenkliche Weise. Wenn ich etwa einen Stein auf einen Schalter schiebe, um ein Tor zu öffnen, schiebt das maskierte Schattenwesen ihn wieder hinunter. Ich muss umdenken, um weiterzukommen. Denn der Schatten verschwindet nicht, nur weil ich mich besonders anstrenge. Ich muss lernen, mit ihm durchs Spiel zu gehen. Diese Spielmechanik kann dabei helfen, das Empfinden von Depressiven besser zu verstehen.
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Psychologe Strobel findet den Ansatz, psychische Erkrankungen in Spielen zu thematisieren, vielversprechend. Dadurch, dass der Spieler aktiv handelt und eine Reaktion darauf erfährt, können Spiele Lerneffekte auslösen, sagt Strobel. "Wenn man dieses Prinzip mit Themen mentaler Gesundheit verknüpft, sind Spiele ein sehr gutes Medium dafür, die Perspektive von Betroffenen nachzuempfinden oder zumindest Verständnis dafür zu gewinnen."
Als weiteres Beispiel nennt er "Hellblade: Senua’s Sacrifice" von 2017. Das Spiel webt das Thema psychische Erkrankung geschickt in die Handlung ein. Mit "wholesome" hat das allerdings nichts mehr zu tun. Wir befinden uns im 8. Jahrhundert in einer mythologischen Welt. In der ersten Szene paddelt die Hauptfigur Senua, eine keltische Kriegerin, im Einbaum auf einem nebelverhangenen Fluss, dessen Ufer mit Leichen übersät ist. Senua sinnt auf Rache für ihren ermordeten Geliebten und muss sich mit mehreren nordischen Göttern anlegen. Zwar nehmen Rätsel großen Raum ein, aber auch brutale, blutige Kämpfe.
Was "Hellblade" besonders macht: Senua leidet an Psychosen. Visionen von Verstorbenen, Dämonen und apokalyptischen Feuersbrünsten plagen die Kriegerin. Auch für mich ist nicht erkennbar, was "echt" ist und was sich Senua einbildet. Ständig flüstern unterschiedliche Stimmen auf mich ein, ein permanenter Hintergrundchor. Sie erzählen Geschichten, feuern mich an oder säen Zweifel. Sie warnen und lachen mich aus. Soll ich auf sie hören? Sie ignorieren? Das Team hat im Entwicklungsprozess mit Psychologen, Neurowissenschaftlern und Betroffenen von psychischen Erkrankungen zusammengearbeitet, um das Erleben möglichst realistisch umzusetzen. Und das funktioniert.
So stark hat mich kaum ein Spiel in den Bann geschlagen. Das Stimmengewirr, die Halluzinationen und die Brutalität treiben meinen Puls und Stresspegel in die Höhe. Nach anderthalb Stunden in Senuas Kopf reicht es mir für diesen Abend. Es ist aufregend, aber auch belastend. Ich logge mich aus, hänge die Wäsche auf und lese im Bett ein Buch. Morgen putze ich Fenster. Und gebe endlich diesen Text ab. Auch das kann wholesome sein.
Eine erste Version des Textes erschien am 18. Januar 2023.