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Vor kurzem war ich im Tempelhofer Flughafen in Berlin. Dort gibt es eine Ausstellung zum Massaker, das die Hamas am 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival angerichtet hat. Obwohl, "Ausstellung" ist ein viel zu schwaches Wort. Es ist eher so etwas wie ein "immersives Re-Enactment". In einer riesigen Halle zeigen große und kleine Bildschirme Filmausschnitte von mordenden, "Allah ist groß" schreienden Horden; dann von anderen jungen Leuten, die in Todesangst fliehen, sich verstecken, über ihr Handy letzte Botschaften senden; verletzt, geschändet oder ermordet daliegen; noch Lebende werden verschleppt.
Dazwischen gibt es Interviews mit Überlebenden und Objekte vom Tatort: ausgebrannte Autos, zurückgelassene Kleidung, verlorene persönliche Gegenstände, von Kugeln durchsiebte Dixie-Klos, Katastrophen-Müll, eine Bar, Kühltruhen, in denen einige Festivalbesucher sich versteckt hatten, der Nachbau von Kleinbunkern, die zu Todesfallen wurden. Darüber gelegt laute Geräusche: Schreie, Flüstern, Explosionen, Schüsse, Festival-Musik.
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Nach eineinhalb Stunden konnte ich nicht mehr. Ich wollte raus. Da ich nicht gleich den Ausgang fand, wurde ich hektisch. Ich ging mit beschleunigten Schritten durch einen zweiten Raum mit den Namen und Fotos der Getöteten und Verschleppten sowie vielen Kerzen, durch einen esoterisch anmutenden Gesprächsraum, einen Shop (warum muss es den eigentlich geben?), eine Treppe hoch, links, noch einmal links, Treppe runter, endlich draußen, im Vorhof des riesigen, nicht mehr betriebenen Flughafens. Aufgeatmet und gezittert.
Das war eine krasse Erfahrung. Ich fühlte mich überwältigt, aber nicht manipuliert. "So war das," dache ich, "dem musst du dich stellen." Erstaunlich fand ich allerdings, dass es im Hauptraum keine Ansprechpartner gab. Bräuchte es hier nicht ein Seelsorge-Team? Im Nachgang stellten sich mir viele Fragen.
Mir war aufgefallen, dass die Ausstellung keinen politischen Rahmen hatte. Nichts wurde erklärt. Wie aus dem Nichts war das Böse über ein friedliches Fest gekommen. Aber hat nicht auch das Böse eine Geschichte? Und gibt es auf der anderen Seite dieser Geschichte keine unschuldigen Opfer? Aber der Blick der Ausstellung blieb allein bei den Besuchern dieses Festivals. Ist das ein Defizit oder eine gute Entscheidung?
Übrigens, es gab keinen einzigen Hinweis auf einen Wunsch nach Rache.
Etwas Zweites fiel mir im Nachgang auf: Die Ausstellung zeigt nicht nur Horror, sondern auch Sinn. Genauer gesagt, sie stellt dem Horror, der in sich absolut sinnlos ist, einen eigenverantworteten Sinn entgegen. Diese Ausstellung unternimmt eine überwältigende Sinnstiftung. Dieser Sinn besteht darin, Zeugnis abzulegen, der Opfer zu gedenken, Solidarität zu üben, Gerechtigkeit einzufordern, den Geschädigten zu helfen, an der Liebe zueinander – über den Tod hinaus – festzuhalten, der Musik und dem Tanz treu zu bleiben.
Das ist eine große Leistung. Sie setzt allerdings zwei Dinge voraus, die in Israel, anders als in Deutschland, weit verbreitet sind: ein großes Gemeinschaftsgefühl der Festival-Szene und eine landesweite Solidaritätskultur: Hier wartet niemand auf den Staat, sondern die Menschen werden selbst aktiv. Hinzu kommt eine weltanschaulich-religiöse Voraussetzung: der spirituell-hedonistische Liebesuniversalismus der Rave-Kultur mit seinem Neo-Buddhismus, den es in der ganzen westlichen Welt gibt und der hier ein jüdisches Gepräge besitzt. Dem Gewalt-Fanatismus der Mörder setzt er die Sinnquelle von Jugend, Schönheit, Freude und Liebe entgegen.
Gänzlich andere Erfahrungen machte ich mit der Lektüre des Buches von Kaleb Erdmann. Es trägt den Titel "Die Ausweichschule" und wird auf dem Cover als "Roman" ausgewiesen. Aber das ist es nicht, sondern eher ein Erinnerungs- und Nachdenkbuch (mit ein paar fiktionalen Veränderungen). Erdmann, heute 34 Jahre alt, geht darin einer zentralen, furchtbaren Erfahrung seiner Kindheit nach: Als Fünftklässler erlebte er 2002 den Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Aber sein Erzählinteresse ist weniger auf die damaligen Ereignisse gerichtet als auf deren Folgen heute. Was erinnert er überhaupt noch, und welche Erinnerung hat sich erst später gebildet? Wer macht sich welche Bilder von diesem Massaker, durch das 16 Menschen ihr Leben verloren und viele andere körperliche und seelische Verletzungen erlitten haben? Und wie geht er selbst heute mit seinen Erinnerungen und Ängsten um?
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Das Buch – und das ist ein eigenes Kunststück – kommt erstaunlich alltäglich, manchmal fast banal daher. Der Protagonist spricht mit einem Lektor, der sich von ihm etwas Schräg-Unterhaltsames – à la Joachim Meyerhoff – wünscht. Er fährt nach Bamberg, um ein Theaterstück über den Erfurter Amoklauf zu sehen. Vorher hat er mehrfach mit dem Dramatiker gesprochen und sich wiederholt über ihn geärgert (wie kann der so professionell ein Stück aus seiner Geschichte machen?).
Er fährt nach Erfurt, um seine Schule und einen Klassenkameraden zu besuchen (der sich für diese alte Geschichte gar nicht interessiert). Er unterhält sich mit seiner Therapeutin, die ihm hilfreiche Tipps gibt. Er recherchiert, geht mit seiner Freundin aus, isst etwas, schläft schlecht, hat Angst, liest. Er versucht, einen sinnvollen Text zu produzieren. Das gelingt nicht. Etwas Schreckliches ist geschehen, aber eigentlich gibt es nichts zu sagen. Am Ende bleibt nur die Frage: "Wie geht man mit dieser Sinnlosigkeit um?"
Beim Lesen hatte ich ein Gefühl, das ich von den Büchern des US-amerikanischen Autoren Nicholson Baker kenne. Ich wurde ungeduldig, enerviert, aber auf eine produktive, manchmal sogar amüsante Weise. Gern hätte ich den Protagonisten geschüttelt: "Warum schreibst du denn all diese Seiten voll, wenn es nichts zu sagen gibt, wenn sich kein Sinn einstellt, wenn auch die Literatur nicht hilft?", wollte ich ihm zurufen. "Warum kreist du so um dich selbst?" Und dann habe mich natürlich geschämt. Wie komme ich denn dazu, vom einem Betroffenen etwas einzufordern, das mir ein Licht aufsteckt, mich tröstet oder erbaut? Es ist doch so, dass solch ein Geschehen keinen Sinn hat. Und genau davon vermittelt dieses Buch einen bleibenden Eindruck.
So zeigen diese Ausstellung und dieses Buch – so unterschiedlich sie sind – gemeinsam: Sinn gibt es nicht, Sinn wird gestiftet. Ob man zu einer Sinnstiftung nach einem Massaker in der Lage ist, ob sie einem hilft, ob man sie angemessen findet und überhaupt will – das muss jeder für sich selbst klären.