Israel Gaza Konflikt
Die Geiseln sind frei!
Über Tel Aviv fliegen Helikopter, Menschen jubeln, Fremde umarmen sich, nach Monaten der Angst kehrt Hoffnung zurück. Und ein leises Bangen, ob daraus wirklich Frieden wird. Eine Momentaufnahme vor Ort
Auf dem Geiselplatz in Tel Aviv warten jubelnde Menschen auf die Freilassung der Geiseln
Menahem Kahana/AFP via Getty Images
Tim Wegner
13.10.2025
3Min

Vor einer Woche saß ich abends in einer Sukkah – einer kleinen Hütte aus Zweigen, wie sie zum Laubhüttenfest, Sukkot, überall in Tel Aviv aufgebaut werden. Auf Balkonen, in Hinterhöfen, an Straßenecken. Neben koscherem Essen gab es eine Ansprache des Rabbis. Er sprach davon, wie er mit Haschem, mit Gott, geredet und gebetet habe – und dass es nicht nur darum gehe, Gott zu vertrauen (Emuna), sondern das Vertrauen selbst loszulassen (Bitachon). Es war das zweite Sukkot ohne die Geiseln. Seine Worte hingen noch in der Luft, als wir auseinandergingen.

Heute, eine Woche später, ist alles anders. Die Geiseln sind frei. Die Helikopter, die sie zurückbringen, einen nach dem anderen, fliegen über Tel Aviv. Menschen jubeln, Fremde fallen sich in die Arme. Das erinnert mich daran, wie Deutschland die Fußball-WM gewann – aber das hier ist anders. Es ist kein Sieg, sondern ein Aufatmen. Kein Triumph, sondern ein Gebet in Bewegung.

Die Straßen sind überfüllt, die Bars quellen über, in den Schaufenstern hängen gelbe Luftballons. Jeder spricht von "Gänsehaut". Ich bekomme Fotos und Videos geschickt – Helikopter über der Stadt, Symbole der Hoffnung, Zeichen eines möglichen Neubeginns.

Am Strand, auf dem Nordau-Boulevard, bleiben Fahrradfahrer und Spaziergänger stehen. Sie schauen hinauf, winken, klatschen. Selbst die Bademeister, sonst so streng mit ihren Ansagen, rufen heute voller Stolz in ihre Mikrofone: "Da kommt Evyatar – schaut hin!" Die Menschen stehen von ihren Liegen auf, Kinder und Alte, alle blicken in den Himmel. Für diesen Moment ist ganz Tel Aviv ein einziger Hostages Square.

Geisel Omri Miran winkt bei seiner Ankunft in Tel Aviv mit einer israelischen Flagge nach seiner Freilassung aus der Gefangenschaft der jubelnden Menge zu

Während ich schreibe, bekomme ich immer wieder Gänsehaut. Diese kollektive Freude, dieses seltene Gefühl, wirklich gemeinsam zu atmen – das ist es, was Menschen in Stadien zieht: das Verschmelzen, das Ganzsein im Augenblick.

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Doch mitten in all dem Jubel laufen in manchen Restaurants die Fernseher. Sie zeigen die Rede von Donald Trump. In Bussen sitzen Menschen versunken in ihre Handys, sehen dieselben Bilder, dieselben Worte. Die ganze Welt schaut heute auf Israel – ein Land, kaum größer als Hessen – und sucht in diesem kleinen Land nach Antworten auf große Fragen: nach Frieden, nach Zukunft, nach Hoffnung.

Noch vor wenigen Tagen zitterte das Land vor der Antwort der Hamas. Auf einer Strandparty sagte jemand halb im Scherz: "Jetzt wäre der perfekte Moment, uns zu kidnappen." Niemand lachte. Alle wussten: Immer wenn es in Israel Hoffnung auf Frieden gibt, haben alle Angst, dass etwas Schreckliches passiert. Denn nicht alle wollen den Frieden. Es gibt immer noch Splittergruppen, die eine Einigung zwischen Israel und der Hamas boykottieren wollen.

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Am Samstagabend, nach Schabbat, war klar: Die Freilassung steht kurz bevor. In Jaffa spielten die Beachclubs laute Musik, Menschen tanzten, als wollten sie die Dunkelheit abschütteln. Seitdem liegt über der Stadt etwas Neues – Erleichterung, ja, vielleicht sogar Hoffnung. Soldaten mit Rucksäcken kommen aus Gaza zurück, kehren heim.

Und heute ist Erev Simchat Tora – der Abend, an dem das fröhlichste Fest des Jahres beginnt. Der Moment, in dem das letzte Kapitel der Thora endet und sofort das erste wieder aufgeschlagen wird. Ein Kreis, der sich schließt und zugleich öffnet. In diesem Jahr feiern die Israelis nicht nur ein neues Kapitel der Thora, sondern auch eines in ihrer eigenen Geschichte.

Tel Aviv atmet. Zum ersten Mal seit langem fühlt sich Frieden hier nicht wie ein Wort an, sondern wie ein Moment.

Luftaufnahme der Installation am Strand von Tel Aviv, mit Dank an US-Präsident Donald Trump und sichtbar für die ankommenden freigelassenen Geiseln
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