Israel und Gaza
Wie viel Wahrheit hält eine Freundschaft aus?
Hamed Abdel-Samad und Philipp Peyman Engel streiten in ihrem Buch "Was darf Israel" über den Gaza-Krieg, Moral und Identität – scharf, schmerzhaft und respektvoll. Daraus können wir viel lernen. Ein Kommentar
Der deutsche Journalist Philipp Peyman Engel und der ägyptisch-deutsche Politikwissenschaftler und Publizist Hamed
Der deutsche Journalist Philipp Peyman Engel und der ägyptisch-deutsche Politikwissenschaftler und Publizist Hamed Abdel-Samad
Jakubaszek/Getty Images
Tim Wegner
30.09.2025
3Min

Es ist nur ein Wort – und doch sprengt es eine Freundschaft. Als der ägyptische-deutsche Publizist Hamed Abdel-Samad im Frühjahr 2025 das israelische Vorgehen in Gaza als "Genozid" bezeichnet, ist für Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, eine rote Linie überschritten. "Infam" nennt er diesen Vorwurf, weil er ihn in der Nähe antisemitischer Ritualmordlegenden sieht. Abdel-Samad dagegen hält fest: Wer angesichts von 50.000 Toten und Hunderttausenden Verletzten schweigt, verrät universelle Menschenrechte. Schon der erste Schlagabtausch zeigt: Hier prallen nicht nur Meinungen aufeinander, sondern auch Identitäten.

Das Buch "Was darf Israel?" von Hamed Abdel-Samad und Philipp Peyman Engel ist eine Sammlung ihrer Briefe. Und das ist vielleicht das Erstaunlichste: dass die beiden überhaupt Briefe schreiben. Nicht kurze Tweets, keine TV-Schlagabtausche, sondern lange, manchmal seitenlange Briefe, in denen die Wut brodelt und trotzdem der Respekt nicht ganz verloren geht. Dieser Ton hat mich beim Lesen überrascht: Auch da, wo der Streit auf die Spitze getrieben wird ("Schande über alle, die das unterstützen oder relativieren!", schreibt Abdel-Samad), klingt noch durch, dass sie ihre Freundschaft und den Respekt voreinander nicht preisgeben wollen. In einer Zeit, in der Debatten so schnell abreißen oder Menschen von heute auf morgen "gecancelt" werden, ist dieser Briefe-Streit ein Gewinn für uns alle.

Spannend ist, wie unterschiedlich ihre moralischen Ausgangspunkte sind. Philipp Peyman Engel argumentiert aus dem Inneren des jüdischen Kollektivgedächtnisses. Für ihn ist Solidarität mit Israel existenziell, weil Israel das letzte Bollwerk gegen die Wiederholung der Schoah sei. "Hochgerechnet auf die deutsche Bevölkerung wären am 7. Oktober 12.000 Menschen ermordet worden. Würde Deutschland nicht reagieren?", fragt er.

Hamed Abdel-Samad dagegen antwortet mit universalen Maßstäben: "Wahrheit kennt keine Stammbäume. Prinzipien sind blind für Identität." Für ihn ist jedes Leben gleich viel wert – und deshalb kann er nicht akzeptieren, dass das Wort "Genozid" mehr Empörung auslöst als der Tod von Kindern unter Trümmern.

Beide haben recht – und beide haben Unrecht

Beim Lesen habe ich gemerkt: Beide haben recht – und beide haben Unrecht. Engel zeigt die bittere Realität: Israel kann nicht zusehen, wie Terrororganisationen es bedrohen. Abdel-Samad hält dagegen: Wer im Namen von Selbstverteidigung 90 Prozent der Wohnhäuser zerstört, verliert moralische Substanz. Dieses Ringen ist unbequem, weil es keine einfache Auflösung gibt. Aber genau darin liegt die Stärke des Buches: Es zeigt, dass Werte im Krieg nicht verschwinden, sondern auf die härteste Probe gestellt werden.

Hamed Abdel-Samad, Philipp Peyman Engel: Was darf Israel. dtv. 160 Seiten, 16 Euro.

Besonders packend fand ich die Passagen, in denen beide die deutsche Haltung betrachten. Engel klagt die Politik an, Israel mit halbem Herzen beizustehen, Abdel-Samad wirft Deutschland moralische Blindheit vor: aus Schuldgefühlen heraus Waffen liefern, während man sonst weltweit Menschenrechte beschwört. Das trifft einen Nerv. Denn auch wir Leser*innen müssen uns fragen: Bedeutet "Staatsräson" nur Solidarität mit Israel – oder auch Solidarität mit den Opfern von Gaza?

Ich habe beim Lesen mehrfach innegehalten – etwa, als Engel das Bild des kleinen Kfir Bibas aufruft, neun Monate alt, in Gaza ermordet. Oder als Abdel-Samad darauf besteht, dass "Wahrhaftigkeit Opfer fordert". Solche Momente lassen mich nicht kalt. Sie zeigen, dass es hier nicht um Theorien geht, sondern um Leben und Tod.

Das Buch ist keine leichte Lektüre. Es ist schmerzhaft, es tut weh. Aber es macht auch klar: Wer streitet, muss nicht den anderen zerstören. Man kann im Streit beieinanderbleiben, ohne die Differenzen zu übertünchen. Das ist eine Zumutung – aber eine, die unserer demokratischen Kultur guttut.

Für mich klingt dabei etwas an, das an christliche Werte erinnert. An die Wahrhaftigkeit, die nicht ausweicht, auch wenn sie weh tut. An die Nächstenliebe, die nicht nur den eigenen Clan im Blick hat, sondern auch den Fremden. Und an die Barmherzigkeit, die selbst im Gegner noch den Menschen sieht. Wer das Buch liest, lernt nicht nur etwas über Israel und Gaza, sondern auch über die Menschen an sich – und darüber, was man im Streit miteinander aushalten kann.

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