Bundeskanzler Friedrich Merz hat entschieden, die Lieferung von Waffen nach Israel auszusetzen, wenn diese im Gazastreifen offensiv eingesetzt werden können. Er hat dafür viel Kritik bekommen. Dieser Schritt sei ja nur Symbolpolitik, hieß es. Aber ist Symbolpolitik verwerflich?
Symbolpolitik hat es schon immer gegeben, und sie ist auch eine legitime Form von Politik. Das zeigte sich zum Beispiel im Jahr 1960.
Am 14. März 1960 traf sich der Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) mit dem israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion im Waldorf-Astoria-Hotel in New York. Bereits die Wahl des Ortes des Treffens von Adenauer und Ben-Gurion hatte hohe symbolische Bedeutung. Man traf sich gleichsam auf neutralem Boden. Ein Hotel in New York - nicht in einer Botschaft oder einem Regierungsgebäude. Man traf sich in dem Land, das zum wohl treuesten Befürworter und Unterstützer des Staates Israel wurde. Und man traf sich in dem Land, das die stärkste Kraft in der militärischen Allianz war, die Europa vom Naziterror befreite. Und das Land, das in seiner militärischen Besatzungszone die stärksten Versuche unternahm, in Deutschland eine demokratische, offene Gesellschaft und die dazugehörenden Institutionen zu etablieren.
Eine ähnliche ausgefeilte Symbolik hatte der Kniefall Willy Brandts (SPD) in Warschau am 7. Dezember 1970. Das Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos symbolisiert den polnischen Widerstand gegen die deutsche Terrorherrschaft. Mit seiner außergewöhnlichen Geste unterstrich Willy Brandt, dass die damalige Bundesregierung bestrebt war, sich mit den Staaten im Osten Europas zu versöhen, die unter dem deutschen Terror am stärksten gelitten hatten.
Es ist kein Zufall, dass diese beiden Bilder des New Yorker Treffens und des Warschauer Kniefalls zu den herausragenden Bildikonen der nun bald 80-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurden.
Auf die beiden symbolpolitischen Gesten, sowohl auf das Treffen Adenauer-Ben Gurion als auch auf den Warschauer Kniefall Willy Brandts, folgten hoch emotionale und scharfe Kontroversen. Adenauers und Ben-Gurions Bemühungen waren in Israel und Deutschland hoch umstritten - bis in die CDU hinein. Minister im Kabinett Adenauer fürchteten allzu große finanzielle Zusagen Adenauers an Israel, und in Israel gab es große Bedenken, von Deutschland Geld anzunehmen. Man fürchtete "Blutgeld".
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Der Warschauer Kniefall wurde von vielen begrüßt. Hatte Brandt so doch symbolisch einen wichtigen Schritt hin zur Aussöhnung getan. Andere wiederum fürchteten eine allzu schnelle Aufgabe deutscher Interessen. Das böse Wort vom "Landesverräter" ging um.
Lehrer machten antisemitische Witze
Beides waren wichtige politische Ereignisse mit hoher symbolischer Kraft. Sie waren jedoch, das kann man im Nachhinein gut erkennen, nicht "nur" Symbolpolitik. Vielmehr waren sie Wegbereiter einer späteren Realpolitik.
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Als sich Adenauer und Ben-Gurion in New York trafen, war man von einer "Aussöhnung" zwischen Deutschland und Israel noch weit entfernt. Im Kanzleramt war ein Staatssekretär, der den Kommentar zu den rassistischen Nürnberger Gesetzen gegen die Juden und Jüdinnen geschrieben hat. Es gab am 9. November noch keine Erinnerung an die Judenpogrome des Jahres 1938. Und die Lehrer an unserer Schule traktierten uns mit manchen antisemitischen Witzchen, und wir Schüler ließen uns das gefallen.
Ähnliches kann vom Kniefall Willy Brandts in Warschau gesagt werden. Von einer "Versöhnung" mit den osteuropäischen Ländern war Deutschland noch weit entfernt. In unseren Schulräumen hingen damals merkwürdige Karten des untergegangenen Deutschen Reiches: ganz links als größte geografische Einheit die Bundesrepublik Deutschland, in der Mitte die "sowjetische Besatzungszone" und ganz im Osten Gebiete "unter polnischer und sowjetischer Verwaltung", wie das damals wörtlich hieß.
Sowohl Konrad Adenauer wie auch Willy Brandt hatten ein sicheres Gespür dafür, dass sie der von ihnen angestrebten Realpolitik so etwas wie eine "Symbolpolitik" vorschalten mussten. Aber was sagt uns die historische Erinnerung an Konrad Adenauer und Willy Brandt in Bezug auf die Entscheidung des gegenwärtigen Bundeskanzlers Friedrich Merz?
Bestimmte Waffenlieferungen an Israel auszusetzen, ist in der Tat ein Akt der Symbolpolitik. Es geht ja nur um einen kleinen Teil der deutschen Waffenlieferungen an Israel. Die israelische Regierung wird sich dadurch nicht sonderlich beeindrucken lassen oder sich gar in ihren strategischen Planungen des militärischen Einsatzes in Gaza beeinflussen lassen. Und wie bei Adenauer und Brandt folgte auf Merz' Ankündigung eine hochemotionale Kontroverse.
Will Bundeskanzler Merz seine Realpolitik ändern?
Die entscheidende Frage ist: Ist diese Symbolpolitik von Friedrich Merz so etwas wie eine Vorstufe zu einer angestrebten Realpolitik? Und welche könnte das sein?
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Das kann man bisher nicht sicher sagen. Allenfalls in den nachgelieferten Begründungen des Kanzlers für seine Entscheidung kann man so etwas wie seine Motive erkennen: Er habe sich von außenpolitischem wie auch innenpolitischem Druck entlasten wollen. Ob ihm diese Entlastung gelingt, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Er wollte sich wohl Freiräume verschaffen, um zum Beispiel der Forderung des engsten europäischen Verbündeten Frankreich nach einer sofortigen Anerkennung eines palästinensischen Staates widerstehen zu können.
Viele Menschen in Deutschland, die sich Israel eng verbunden fühlen, stehen derzeit vor der Herausforderung, das, was sie in der Vergangenheit als "Solidarität mit Israel" zu leben versucht haben, neu zu buchstabieren - und zwar angesichts einer israelischen Regierung, die im Inneren demokratische Freiräume zu kappen versucht und in Gaza einen berechtigten, aber zunehmend unverhältnismäßigen Krieg führt. Auch der deutsche Bundeskanzler scheint zu dieser Gruppe zu gehören. Seine Entscheidung könnte in diesem Zusammenhang stehen.