Gedichte helfen uns
Der Frühling ist da. Genießen wir ihn mit allen Sinnen!
Spitta + Hellwig/plainpicture
Poesie
Warum es so guttut, Gedichte zu lesen
Aufgeregte Zeiten, immer noch und immer wieder. Was hilft der gestressten Seele? Die Frühlingssonne genießen und durch Lyrik einen anderen Blick auf die Wirklichkeit gewinnen
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
11.04.2025
3Min

Man mag es nicht glauben, aber gerade jetzt wäre es an der Zeit, Gedichte zu lesen. Natürlich, als verantwortungsvolle Bürgersleute werden wir das Weltgeschehen mithilfe ausgewählter Qualitätsmedien genau verfolgen. Aber "breaking news" in Dauerschleife, unablässige "Push-Nachrichten" sollten wir meiden. Medien-Diät ist angesagt. Sie schützt uns vor radikalen und populistischen Aufmerksamkeitsvampiren.

Es gilt, die eigene Aufmerksamkeit auf das auszurichten, was für unser Leben wesentlich sein sollte. Dabei helfen besonders Gedichte, weil sie eben keine aktuelle Dringlichkeit haben, sondern uns einen anderen Blick auf die Wirklichkeit eröffnen, unseren Blick in die Welt vertiefen, uns eine andere Sprache lehren. Sie erklären nichts, verkünden nichts. Sie zeigen etwas. Sie setzen etwas in Bewegung – ohne Effizienz und Plan, ohne Macht und Gewalt, nur mit sorgfältig gewählten Worten. Sie spielen und laden uns zum Mitspielen ein.

Lesetipp: Die Lyrikerin Nora Gomringer über Glauben und Selbstpflege

Einigen im Buchhandel gelten Lyrikbände als Kassengift. Viele Leserinnen und Leser scheuen vor Gedichten zurück. Vielleicht hatten sie keinen guten Deutschunterricht. Vielleicht meinen sie, man bräuchte einen Doktor in Germanistik, um Gedichte von heute zu verstehen. Alles Unsinn, man muss es einfach nur versuchen. Dann wird man schöne Überraschungen erleben.

Jetzt hat Anton G. Leitner, der leidenschaftliche Lyriker und Lyrikherausgeber, zwei Bücher herausgebracht, mit denen man sich auf Entdeckungsreisen in die Welt der Poesie begeben kann. Ich habe aus jedem Band ein Gedicht ausgewählt, das Lust macht, gerade jetzt und trotz alledem den Frühling zu begrüßen und dem Sommer entgegenzugehen. Sie sprechen für sich, ich muss gar nichts groß erklären.

Das erste hat Heike Haas (geboren 1973) geschrieben. Es findet sich in dem auf der Leipziger Buchmesse vorgestellten, sehr ansprechend gestalteten Reclam-Band "Jede Jahreszeit ist schön. Gedichte für Frühling, Sommer, Herbst und Winter" und trägt den Titel "Lichtnelken":

Der Frühlingstag kam unerwartet.

Plötzlich Magnolien und Löwenzahn,

Lichtnelken und Hundescheiße.

Mit verklebten Wimpern und

Colamix in der Sonne

fallen wir in die Brennnesseln

und küssen uns dort

ein letztes Mal.

Kurz.

Das zweite Gedicht geht schon weiter ins Jahr, berührt sogar leicht das Ende des Sommers. Dirk von Petersdorff hat es geschrieben. Es findet sich in dem Jahrbuch "Das Gedicht", das Anton G. Leitner gemeinsam mit Paul-Henri Campbell zusammengestellt hat. Es handelt von einem Wurfring und davon, wie dieser Menschen in Bewegung sitzt und zusammenbringt. Eigentlich sollten Gedichte keine Botschaft enthalten. Aber von diesem hier lass’ ich mich gern dazu ermuntern, das abzuwerfen, was mich innerlich einkreist.

Große Wiese im Park, Ricarda hat ihn,

hoher Abflug, er kommt, die Luft als Kissen,

segelt zur Sonne, sinkt zu dir, du fängst und

senst den September.

Trudelt und fällt, dann schnell vom Boden pflücken,

wieder in die Schwebe, spiegelnder Streifen

über Frieda, Heiligenschein, und Holger

fasst ihn im Fallen.

Was dich innen umringt, dich einkreist, wirf es

Ab, zieh durch, auch die schrägen Bahnen finden

Ziele, wenn andre starten, ihn mit einem

Finger erwischen.

Wenn es dämmert, Planetenringe oben,

unten federnder Boden, Götterkinder

wieder, sinnlos hungrig, was tun wir, schneiden

Scheiben vom Licht ab.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur